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       # taz.de -- Rechtspopulismus in Schweden: Der Dammbruch
       
       > Vor der Parlamentswahl bestimmen Themen der Rechtspopulisten die
       > öffentliche Debatte. Die können sich so positiv besetzten Fragen widmen.
       
   IMG Bild: Was entscheidet darüber, wer ein „echter“ Schwede ist? Die Frage wurde erst durch die Rechtspopulisten salonfähig
       
       Am 9. September wird in Schweden ein neues Parlament gewählt, und
       weitgehend unbemerkt von der Außenwelt bahnt sich hier ein radikaler
       Wechsel in der politischen Landschaft an. Nach einer Legislaturperiode mit
       einer rot-grünen Minderheitsregierung sehen Umfragen [1][die
       rechtspopulistischen Sverigedemokraterna] (Schwedendemokraten, kurz SD) bei
       über 20 Prozent, nahe an den Sozialdemokraten und deutlich über den
       Liberal-Konservativen (Moderaterna, M).
       
       Mitentscheidend für ihren Erfolg sind Fehler, die auch hierzulande im
       Umgang mit Rechtspopulisten gerne diskutiert werden: die Themen der Rechten
       besetzen, die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Dabei wird die Ethnisierung
       gesellschaftlicher Konflikte prominent diskutierbar gemacht. Das Resultat:
       Die Rechtspopulisten haben Rassismus schon nicht mehr nötig.
       
       Anfang Juli trafen sich wie jedes Jahr schwedische Parteien, Medien und
       NGOs auf Gotland zum größten öffentlichen politischen Event, der
       Almedalswoche. In diesem Jahr [2][dominierte die Neonazigruppe Nordiska
       motståndsrörelsen (Nordische Widerstandsbewegung, NMR)], die nach
       angemeldeten Kundgebungen auf der Insel die ganze Woche über Menschen
       bedrohte, terrorisierte, filmte und schlug, ohne dass die Polizei
       eingegriffen hätte.
       
       [3][Währenddessen veröffentlichte der Kanal SVT den Artikel] „Faktencheck:
       NMR verbreitet Falsches über Zyklon B – wurde doch benutzt, um Menschen zu
       ermorden“. Ein diskursiver Dammbruch: Holocaustleugnung sollte hier mit den
       besten Absichten widerlegt werden, wurde aber tatsächlich erstmals auch in
       den öffentlich-rechtlichen Medien breit thematisiert und überhaupt erst
       diskutierbar gemacht.
       
       Eine rechte Partei als Stichwortgeber 
       
       Die Schwedendemokraten haben, wie viele Rechtspopulisten, ein ambivalentes
       und kompliziertes Verhältnis zur extremen Rechten. Die Zeiten, als sie
       selbst den Kampf um die Straße führten, sind vorbei, andererseits wurden
       Personen mit neonazistischen Verbindungen keineswegs so konsequent aus
       Partei und Wahllisten entfernt, wie die Parteispitze das gern behauptet.
       
       Der SD-Parteivorsitzende Jimmie Åkesson sprach in seiner Wahlkampfrede in
       Almedalen nicht über Migration, nicht über Asylpolitik und Grenzen, er
       forderte nicht, Seenotrettung im Mittelmeer lieber sein zu lassen. Åkesson
       sprach stattdessen über Fußball, über Nationalismus als eine positive,
       aufbauende Kraft und darüber, dass die Sozialdemokraten das „Volksheim“
       zerstört hätten. Gleichzeitig widmeten sich alle anderen Parteien den
       Themen Migration und innerer Sicherheit sowie der Frage, wie mit den
       Schwedendemokraten nach ihrem zu erwartenden starken Wahlergebnis künftig
       umzugehen sei.
       
       Der diskursive Dammbruch, der diese Verschiebungen möglich gemacht hat, ist
       schon länger vollzogen: Scheinbar sollten die Sorgen der Menschen vor den
       Folgen von Migration ernst genommen werden – tatsächlich aber wurde eine
       rechte Partei zum Stichwortgeber der Migrationspolitik, und ihre zentralen
       Forderungen wurden nicht nur gesellschaftlich salonfähig, sondern auch
       politisch umgesetzt.
       
       Anderswo in Europa fragt man sich, ob Menschen vor dem Ertrinken gerettet
       werden sollen oder eher nicht – ebenfalls ein Dammbruch. Auch um
       Wahlerfolgen rechter Parteien vorzubeugen, werden Grenzen geschlossen und
       militärisch gesichert, Geflüchtete werden nicht als Menschen, sondern als
       Manövriermasse bezeichnet.
       
       „Der Untergang“ 
       
       Letzten Endes wissen die meisten, dass die immer neuen Verschärfungen der
       Migrationspolitik, die Zehntausende Tote fordern, nicht geeignet sind,
       reale Missstände in Europa zu verändern, Armut zu bekämpfen oder das
       Wohlfahrtsniveau der 1960er Jahre wieder einzuführen. Vor allem helfen sie
       den europäischen Ex-Volksparteien nicht, Wähler*innen von
       rechtspopulistischen und nationalistischen Parteien abzuwerben.
       
       Entsprechend wurde es Schwedens rot-grüner Regierung auch nicht gedankt,
       dass sie die Grenzen bereits im Dezember 2015 schloss und bis heute nur den
       absoluten europäischen Mindeststandard in Asylverfahren einhält
       (Grenzkontrollen, nur temporäre Aufenthaltstitel auch für anerkannte
       Geflüchtete, Familiennachzug nur bei Möglichkeit zur Selbstversorgung).
       Dass minderjährige Unbegleitete von dieser Regierung zu medizinischen
       Altersbestimmungen gezwungen und dann nach Afghanistan abgeschoben werden,
       lenkt die früher sozialdemokratische Arbeiter*innenklasse auch nicht weg
       von den Schwedendemokraten.
       
       Auch dank solcher Maßnahmen müssen die Rechtspopulisten gar nicht mehr über
       Asylpolitik sprechen – sie sprechen von innerer Sicherheit, Renten,
       nationaler Identität und Loyalität und vor allem davon, dass alle anderen
       Parteien erstens die SD kopieren (was durchaus stimmt) und zweitens das
       Land in den Untergang treiben.
       
       „Der Untergang“ ist eine Mischung aus faktischen Schwierigkeiten, die der
       schwedische Wohlfahrtsstaat nach jahrzehntelangen Privatisierungen zu
       bewältigen hat, und einem Narrativ der extremen und neuen Rechten, [4][in
       dem das Land kurz vor dem Kollaps steht]. Das Gegenbild ist eine Verklärung
       des „Volksheims“ zu einer homogenen, sicheren, stabilen Gesellschaft, die
       von weitblickenden Politikern zum guten Leben hingelenkt wird.
       
       Die Anderen nehmen den Rechten die Arbeit ab 
       
       Auch wenn diese Vision der Vergangenheit leicht entzaubert werden kann,
       gibt es in der Gegenwart Aspekte, die als naher Kollaps interpretiert
       werden können. Einer sind die langen Wartezeiten im Gesundheitssystem vor
       allem in den ländlichen Regionen und die sehr unterschiedlichen Lebens- und
       Versorgungsrealitäten in den reichen Innenstädten und überall sonst im
       Land. Ein anderer ist die Situation in den vernachlässigten Vororten der
       großen Städte, in denen extreme Segregation herrscht und Schießereien
       zwischen Gangmitgliedern und Ausschreitungen häufig sind, zuletzt mit etwa
       hundert brennenden Autos in und um Göteborg.
       
       Hier fordern Forscher*innen seit Jahren ein grundlegendes Umdenken in der
       Wohnungs- und Sozialpolitik – SD bieten stattdessen ein Paket zur inneren
       Sicherheit an, in dem mehr Polizist*innen mit mehr Befugnissen, mehr
       Waffen, höheren Löhnen und mehr Kameraüberwachung vor allem Jagd auf junge
       Straftäter machen, die dann auf ein verschärftes Jugendstrafrecht treffen
       und in ausgebauten Haftanstalten landen.
       
       Während Donald Trump vor anderthalb Jahren mit seiner hingeworfenen
       Andeutung, was „last night in Sweden“ passiert sei, noch lächerlich wirkte,
       weil das Narrativ der Rechten nicht verbreitet genug war, um Resonanz zu
       haben, teilen heute immer mehr Schwed*innen die Sorge vor Kriminalität,
       Drogengangs, Terrorismus und sexualisierter Gewalt im öffentlichen Raum.
       Die Ethnisierung dieser Konfliktfelder und rassistische Zuschreibungen
       müssen von den Rechtspopulisten selbst kaum mehr ausbuchstabiert werden –
       diese Arbeit haben andere erledigt, die die Problembeschreibung der SD
       übernommen haben.
       
       Drei Wochen vor der Wahl brachte das wichtigste TV-Journal des
       investigativen Journalismus, „Uppdrag granskning“, eine Sendung mit der
       zentralen Information, dass 58 Prozent der verurteilten Sexualstraftäter
       aus dem Ausland stammen, und verortete das Problem in einer bestimmten
       Kultur – nicht der auch hierzulande wohlbekannten und verbreiteten „rape
       culture“, sondern einer pauschal nichtwestlichen, von Afghanistan bis
       Marokko reichenden Kultur. Damit wurde das zentrale Mobilisierungsmoment
       der Rechten verankert: dass der Islam die größte Bedrohung für uns
       westliche Frauen und unsere Befreiung darstelle – nicht etwa das
       Patriarchat, toxische Männlichkeiten und der Antifeminismus, die zentrale
       Errungenschaften der feministischen Bewegung zurücknehmen wollen.
       
       Neudefinition der „Schweden“ 
       
       Die monokausale Betrachtung von Sexualstraftaten ebenso wie die
       Ausschreitungen in den segregierten Vororten dominieren die letzten Wochen
       des Wahlkampfes. Während auch die Sozialdemokratie über mehr Polizei und
       ein verschärftes Strafrecht nachdenkt, während M die Abschiebung von
       Sexualstraftätern fordern, verknüpfen SD die Frage der inneren Sicherheit
       mit der nach Integration und Zugehörigkeit – konkret danach, wer schwedisch
       sein darf und soll.
       
       Ihre Neudefinition der „Schweden“ läuft auf eine völkische Konstruktion mit
       einer einheitlichen Sprache, Kultur und Identität hinaus, aus der etwa
       schwedische Juden und Sámi als nationale Minderheiten herausfallen. Damit
       fordern SD die Trennung von Staatsbürgerschaft und nationaler
       Zugehörigkeit, wobei Letzterer größere Bedeutung für den Zugang zu
       Sozialleistungen und demokratischen Rechten eingeräumt werden sollen.
       
       Rein rassistisch ist die Idee nicht: Loyalität und Bekenntnis zur
       heimischen Kultur sollen einbürgerungsfähig machen. Extrem rechte
       Identitätspolitik, die ein ganzes Land zu einer Debatte über „schwedische
       Werte“ gebracht hat.
       
       Jimmie Åkesson trägt auf Wahlplakaten einen pastellblauen Pullover, er
       tritt gemeinsam mit Yasmine Eriksson auf, einer jungen Frau mit
       Migrationshintergrund. Darunter steht nicht „Seenotrettung ist
       Menschenhandel“ oder „Schützt unsere Frauen“ oder „Wir bestimmen, wer
       schwedisch ist“, sondern nur „SD2018“.
       
       Die diskursiven und faktischen Dammbrüche führen nicht dazu, dass Menschen
       nun doch einsehen, dass der Holocaust stattgefunden hat. Oder dass soziale
       Gerechtigkeit in Europa nicht dadurch hergestellt werden wird, dass wir
       Geflüchtete ertrinken lassen. Oder dass Ethnizität wohl doch nicht der
       einzige Grund für sexualisierte Gewalt ist. Die vorauseilenden und
       umfassenden Antworten auf das Niedergangsnarrativ der Rechten geben diesen
       die Möglichkeit, sich anderen, positiver besetzten Fragen als dem eigenen
       Rassismus zu widmen.
       
       7 Sep 2018
       
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