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       # taz.de -- Ein Comic sorgt für Freiraum: Bremen als Wille und Vorstellung
       
       > Maximilian Hillerzeder nutzt die nähe von Hansestadt und Wüste für einen
       > Experimental-Comic zwischen MAD und Magie.
       
   IMG Bild: Gegen den Willen von Big Jay drängt es den Hillerkiller nach Bremen
       
       BREMEN taz | Ist Bremen nur eine Fiktion, eine Hoffnung und ein Traum? Ein
       bloßer Witz und ein schlechter obendrein? Die literarisch wirkmächtigsten
       Befassungen mit Bremen lassen diese Fragen ebenso nachrücklich offen, wie
       sie an ihnen festhalten, indem sie die Stadt immer wieder als Sehnsuchtsort
       aufrufen: Statt ihn zu erreichen führen sie ihre Personen in transitorische
       Räume des Rauschs und des Genusses – den Ratskeller bei Heinrich Heine und
       Wilhelm Hauff, deb festlich gedeckten Tisch mit schönem Essen und Trinken
       im Haus mitten im Wald eine Tagesreise von Bremen entfernt [1][bei den
       Brüdern Grimm] – in denen ein narkotischer Schleier den Blick aufs
       eigentliche Ziel der Wünsche verhängt.
       
       Ganz in diese erzählerische Tradition hat sich Maximilian Hillerzeder
       gestellt mit seinem Werk „als ich mal plötzlich in der wüste gewesen bin“:
       Denn von der Wüste aus liegt Bremen gleich hinter dem Felsen, der aussieht
       wie.... naja. Lassen wir das.
       
       Hillerzeders Comic ist von nachgerade strenger Paralogie. Der Rausch kann
       darin als das vielleicht größte Zugeständnis an Konventionen realistischen
       Erzählens gelten: Um Hillerkiller, alter Ego des Autors, das sich, wie im
       Titel angedeutet, aus ungeklärter Ursache plötzlich in der Wüste befindet,
       bildet sich eine Heldenreise-Gruppe aus Fran und einem enigmatischen
       Mexikaners, der , der stets [2][eine blau-rot-gemusterte Strick-Sturmhaube
       trägt,] als wäre er ein Pussy-Riot Mitglied ehrenhalber. Der Mexikaner
       braucht ein Boot, und natürlich soll Hillerkiller es ihm beschaffen, der
       immerhin einen Sandzauber beherrscht und sich durch youtube-Tutorials
       einschlägig fortgebildet hat.
       
       Also begeben sich die drei, unter anderem mit einem Plan der Bremer
       Pyramide, auf die Suche nach den nötigen okkulten Skills, denn, wie der
       Hillerkiller feststellt, ein Boot bauen – „das ist echt Heavy Magig.“
       
       Die narkotische Funktion erfüllen hier mal im Grabpalast von König
       Pillermann dem Ersten per Wasserpfeife konsumierte Seelen, mal aber auch
       der „ekelhaftetste Drink, der da ist“. Den bestellt Hillerkiller, beim
       Barman des „Sospechoso“ – das heißt [3][verdächtig] – kaum hat er die
       Schwingtüren des Saloons aufgestoßen. Klar, dieses Sospechoso kommt echten
       Bremer*innen bekannt vor. Es ist aber nicht die Kneipe, an die sie jetzt
       alle denken.
       
       „Oh, Bremen“, ruft Hillerkiller aus, bevor er eintritt, und mystifiziert
       den Spielort, „Stadt maritimer Legenden!“ Die Bar, in der der Hauptheld auf
       den Mexikaner trifft, scheint mitten im Herzen Bremens zu liegen, in
       „diesem Rattenloch deutscher Provinz“, wie er sagt – und das ist nun mal
       das geläufigste Synonym für die Hansestadt an der Weser, die der Autor nach
       eigenem Bekunden bislang stets vermieden hat, zu besuchen. Aber am Ende ist
       hier nichts, wie es scheint.
       
       ## Eine Welt des Scheins
       
       Und da im Comic alles Schein ist, kann sich jeder ausrechnen, was das
       bedeutet: Hillerkiller ist trotz seiner Vlogger-Fortbildung noch nicht sehr
       weit mit der Entfaltung seiner Zauberkräfte gediehen, und das vermeintliche
       Bremen erweist sich als Nicht-Bremen. Nur verhüllen Müll und Dreck, den man
       dem echten Bremen halt zutraut, dessen wahren Charakter. Und Big Jay, der
       wahre Großmagier, der ein drittes Auge hat, bedient sich seiner: Dieser Ort
       ist Fake-Bremen.
       
       Und in Fake-Bremen gibt es natürlich keinen Pokalraum, wie das Finale des
       ersten Teils enthüllt, der jetzt im Druck bei der Edition Kwimbi erschienen
       ist, während sich in Band zwei, der seit dem Sommer Woche für Woche im Web
       entsteht, die Einsicht breit macht, dass „Real-Bremen“ nunmehr außer aller
       Reichweite liegt. Und sich noch weiter entfernt: Vom Mexikaner ist zu
       diesem Zeitpunkt bloß noch die sanduhrenförmige Seele übrig geblieben,
       deren kugelige Glaskolben – wären nicht die Augen ihre Fenster? – an die
       Sehschlitzform der Strumpfmaske aufgreifen.
       
       „Uns bleibt keine Zeit mehr, den Umweg über Real-Bremen zu nehmen“,
       konstatiert sie, als die Gefährten zur nächsten großen Etappe ihrer
       „abenteuerlichen Odyssey“ [4][aufbrechen]. „Die Sterne wandern
       unaufhörlich…“
       
       Eine Erzählweise die das Kriterium der Folgerichtigkeit so folgerichtig
       abstreift und so klug Sehnsuchtsorte als ihre Spielorte bestimmt, hat etwas
       anderes vor, als bloß einen linearen Plot runterzureißen. Anatomische
       Genauigkeit, detailversessene altmeisterliche Tuschtechnik machen
       Hillerzeder keinen Spaß.
       
       Stattdessen schafft er sich Freiräume für darstellerische Experimente – und
       nutzt sie, ohne dass sich so ohne weiteres klarziehen ließe, wozu das jetzt
       wieder gut ist: Okay, der gute Witz, mit einem Splash, einem ganzseitigen
       Panel, zu beginnen, das nur aus einer mit Rasterfolien-Schatten leicht
       belebten Abstufung von Gelb-, Braun- und Blautönen besteht – Wüste halt –
       ist schon mal erzählt worden.
       
       Hergé hatte das Schwarze Quadrat bereits 1929 in seiner ersten
       Tintin-Erzählung aufgegriffen „Tim im Lande der Sowijets“, später entfaltet
       er „Tim in Tibet“ als regelrechte Symphonie in Weiß. Und vielleicht noch
       ikonischer sind die informationslosen weißen und schwarzen Kästchen, mit
       denen René Goscinny und Albert Uderzo einst „Die Große Überfahrt“ hatten
       beginnen lassen.
       
       ## Ein Rinnstein durch die Nase
       
       Aber selbst ein MAD-Meister Don Martin hat wohl nie mit einem Rinnstein –
       so heißt der Zwischenraum zwischen den Bildkästchen – das Gesicht einer
       Figur in der Mitte, dort wo sonst ihre Nase säße, geteilt, obwohl ihr das
       ermöglicht von links ins erste, von rechts ins zweite der beiden Panel zu
       schielen.
       
       Hinzu kommt ein großes Repertoire an beiläufigen Anspielungen und Zitaten
       unterschiedlichster kultureller Herkunft und vermeintlicher Wertigkeit,
       [5][von Herman Melvilles Bartleby] bis zum Cover der Buggles-Single
       „Adventures of Modern Recording“, das die Titelseite [6][aufgreift]: Eine
       riesige Sonnenbrille schwebt über einer Wüstenlandschaft.
       
       Wohin Hillerzeder damit will? Klar, nach Bremen. Aber sonst? Keine Ahnung,
       zum Glück. Die anarchische Experimentierlust ist so wichtig, gerade weil
       grafisches Erzählen besonders stark auf Stereotypen angewiesen ist, die
       Induktion – den Prozess des Wiedererkennens, die Lesbarkeit abstrahierter
       Personen und Gestalten-Zeichnungen, ihre mentale Vervollständigung aus
       Bruchstücken – erleichtern, wenn nicht ermöglichen. Und die dieses Medium
       für Sexismus und Rassismus [7][besonders anfällig machen].
       
       ## Sexismus sells
       
       Das Spiel mit den Stereotypen, ihre experimentelle Subversion und
       Erweiterung hingegen schafft Raum für Figuren jenseits des Klischees, wie
       Fran – eine Person des dritten Geschlechts, die vermutlich eine Urenkelin
       der – von der französischen [8][Comiczeichnerinnen-Bewegung für
       Gleichberechtigung] zur Ikone gekürten – Olive Oyl aus E.C. Segars
       Popeye-Comics ist.
       
       “…„, versucht, herrlich verdruckst, der Mexikaner am Steuer eines Jeeps
       diese Frage anzusprechen, „Sagen Sie mal –„, jedes Satzfragment, jede
       Floskel eine eigene Sprechblase, mit den anderen linkisch verdreht über die
       Panelgrenzen hinweg verbunden, „ ‚Fran‘“, adressiert er sie: „Sie haben ja
       offensichtlich Bartwuchs“ – Blick auf Frans Gesicht „und doch tragen Sie
       mal Hosen, mal Kleider und …“
       
       Das Panel zeigt Frans Oberkörper. Unterm Kleid zeichnen sich spitze Brüste
       ab. „Also sie müssen zugeben, das ist verwirrend“, sagt der
       Strumpfmaskenkopf. „Ich meine, bei mir ist es z.B. klar! Jeder sieht
       sofort: Ich bin Mexikaner“. Und um das zu bekräftigen, damit es auch
       wirklich keine Missverständnisse gibt, ist in die Sprechblase ein
       wundervoll kümmerlicher Sombrero gezeichnet. Den der Mexikaner niemals
       trägt. „Ich finde das verwirrend“, sagt er. Und Bremen, egal ob real oder
       fake, war schon immer dafür da, diesen Zustand zu bewahren, der Freiheit
       heißt.
       
       25 Dec 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikisource.org/wiki/Die_Bremer_Stadtmusikanten_(1819)
   DIR [2] https://www.sueddeutsche.de/stil/kult-um-kopfbedeckung-von-pussy-riot-strickanleitung-fuer-die-protestmuetze-1.1444237
   DIR [3] https://de.pons.com/%C3%BCbersetzung/spanisch-deutsch/sospechoso
   DIR [4] http://alsichmal.thecomicseries.com/comics/65/
   DIR [5] https://de.wikipedia.org/wiki/Bartleby_der_Schreiber
   DIR [6] https://www.youtube.com/watch?v=H7GXRxL4SkM
   DIR [7] https://www.konbini.com/fr/tendances-2/place-des-femmes-bd-en-finir-syndrome-schtroumpfette/
   DIR [8] http://bdegalite.org/english/charta-der-comic-kunstlerinnen/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
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