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       # taz.de -- Diskussion zur SPD-Zukunft: Der Kritiker des Linksliberalismus
       
       > Nils Heisterhagen ist gerade mal 30 und einer der wenigen Intellektuellen
       > der SPD. Die Sozialdemokraten sind ihm zu realitätsfremd geworden.
       
   IMG Bild: Hat die Jusos gleich übersprungen: Nils Heisterhagen
       
       MAINZ taz | Nils Heisterhagen ist gefühlte 1,90 Meter groß, hat kurze
       dunkelblonde Haare, einen Vier-Tage-Bart, trägt eine dunkelblaue Anzugshose
       und ein hellblaues Hemd. Wäre er in der FDP, gäbe er einen passablen
       Nachfolger von Christian Lindner ab. Heisterhagen ist aber
       Grundsatzreferent bei der SPD. Im kleinen Mainz, dort, wo
       SPD-Ministerpräsidenten wie Kurt Beck oder Rudolf Scharping nicht nach
       Lindners Düsseldorf aussahen, sondern nach Kleine-Leute-Milieu.
       
       Seit einem Jahr ist er als Autor in den Medien omnipräsent: in der FAZ, der
       Wirtschaftswoche, der Welt und [1][auch in der taz]. Im Frühjahr ist sein
       Buch [2][„Die liberale Illusion“] erschienen. Das Thema: die Erneuerung der
       SPD. Die Kernthese: Die Sozialdemokraten müssen wieder mehr auf ihre
       Kernklientel setzen.
       
       Und dafür gleichzeitig sozialpolitisch linker und innenpolitisch rechter
       werden: eine deutlich bessere Mieten- und Rentenpolitik, wirtschaftliche
       Innovationen. Und eine realistische Migrationspolitik. Was heißt: Wir
       können nicht alle aufnehmen. Die postmodernen Linksliberalen sollen den
       Grünen und der Kipping-Linken überlassen werden.
       
       „Vor 20 Jahren hätten die Medien bei Lafontaine angerufen, wenn sie etwas
       von einem linken Sozialdemokraten wissen wollten“, sagt Heisterhagen an
       einem heißen Freitagnachmittag im Juli in Mainz. „Jetzt rufen sie bei mir
       an, dem kleinen Grundsatzreferenten einer Landtagsfraktion.“ Das zeige, wie
       ausgedünnt der linke Flügel der SPD sei. Das Regierungsviertel der
       Landeshauptstadt ist verlassen. Die Kellnerin im Café um die Ecke bringt
       Wasser.
       
       Eigentlich, glaubt er, müsste der frühere Lafontaine-Flügel wieder in die
       SPD zurückkehren. Stattdessen vertritt nun Heisterhagen das traditionelle
       sozialdemokratische Milieu wie kein anderer – und ist mit gerade mal 30
       vielleicht der einzige jüngere Intellektuelle, den die Partei aufzubieten
       hat.
       
       Heisterhagen hat keine klassische Parteikarriere hinter sich. Als Gerhard
       Schröder 2003 seine Agenda-Rede im Bundestag hielt, war er 15 und lebte im
       niedersächsischen Hameln. „Damals war ich komplett unpolitisch“, sagt er.
       „Die Rede und die ganzen Diskussionen habe ich gar nicht mitbekommen.“ Zu
       Hause habe es höchstens mal den Stern gegeben. Er sei „kulturell
       Arbeiterkind“, auch wenn die Eltern als Facharbeiter und Bankkauffrau gut
       bezahlt wurden. „Ich habe mir die Agenda-Zeit erst im Studium angeeignet,
       wie ein Historiker.“
       
       ## Flirt mit den Jungen Liberalen
       
       Im Politik- und Wirtschaftsstudium in Göttingen flirtete Heisterhagen
       anfangs mit den Jungen Liberalen, las Sozialliberale wie John Rawls. Erst
       allmählich kam er im Studium zur Sozialdemokratie. Nach dem Studium ging er
       als Referent zur IG Metall nach Frankfurt, dann zur SPD-Fraktion nach
       Mainz.
       
       Sein Buch ist, zumal für einen 30-Jährigen, von erstaunlicher Tiefe, auch
       wenn manche Teile unentschlossen wirken. Über die Frage etwa, wie viele
       Flüchtlinge und nach welchen Kriterien Deutschland aufnehmen soll, mogelt
       sich Heisterhagen im Buch hinweg.
       
       Er gehört neben Wolfgang Streeck, Wolfgang Merkel oder Andreas Nölke zu den
       linken Kritikern der Merkel’schen Migrationspolitik. „Die Liberalen
       wollen kaum noch Debatte, weil sie glauben, dass alles schon gut geregelt
       ist“, sagt er. „Sie verlangen eher nur noch, dass man jeden Morgen den
       antirassistischen und antisexistischen Fahnenappell leistet.“
       
       ## Wie die französischen Sozialisten?
       
       Sein persönlicher Bruch mit dem postmodernen Linksliberalismus sei mit dem
       Brexit und Hillary Clintons US-Wahlkampf gekommen, sagt er in der Mainzer
       Nachmittagshitze. Clinton sprach damals herablassend vom „basket of
       deplorables“ der Trump-Wähler. Diese Haltung sieht Heisterhagen auch in der
       deutschen Linken: „Wenn die SPD, die teilweise Züge eines solchen
       moralisierenden Liberalismus und zudem Elemente einer Realitätsverweigerung
       aufweist, diesen Geist nicht überwindet, sehe ich schwarz für die Partei.“
       
       Er fürchtet, dass die französischen Verhältnisse in Deutschland ankommen –
       mit einer Sozialdemokratie, die auf die 10 Prozent zugeht, während die
       extreme Linke und Rechte wächst. Deshalb will er eine SPD, die sich um
       Mieten und Renten kümmert und die Sorgen ihrer Wähler um die innere
       Sicherheit ernst nimmt.
       
       Interessant sind die Unterschiede etwa zu Streeck: Während der frühere
       Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts bezüglich Syrien traditionell
       links das US-Eingreifen kritisiert, stellt Heisterhagen im Buch fest: „Wenn
       man will, dass Syrien wieder ein Vielvölkerstaat mit Toleranz und
       Sicherheit wird, muss das Assad-Regime weg.“
       
       Außenpolitisch sei er eher bei Sigmar Gabriel, sagt Heisterhagen beim
       Treffen in Mainz. „Ich kann mit dem Hardcore-Pazifismus, der zum Teil in
       der Sammlungsbewegung von Wagenknecht vertreten wird, wenig anfangen.“
       Solche Unterschiede reichen in der Linken eigentlich, um Freundschaften zu
       beenden – Streeck und Heisterhagen stehen dennoch in regelmäßigem
       Austausch.
       
       Sahra Wagenknechts Sammlungsbewegung befürwortet er grundsätzlich: „Im
       Grunde hätte die Initiative von der SPD ausgehen müssen“, findet er. Ihr
       Problem sei „bislang, dass viele den Eindruck haben, dass nur Leute aus
       ihren Parteien abgeworben werden sollen“. Das Ziel sei aber grundsätzlich
       richtig: „die Mehrheitsfähigkeit der politischen Linken
       wiederherzustellen.“
       
       ## Vorbild Helmut Schmidt
       
       Die Kellnerin bringt Wassernachschub. Wen bewundert er mehr – Willy Brandt
       oder Helmut Schmidt? „Eine Mischung“, sagt er. „An Brandt die großen
       Visionen, an Schmidt das Akribische. Ich mag Leute, die wissen, von was sie
       reden.“ Schmidt habe noch „nachts Akten gefressen“ und sei von der Putzfrau
       oder der Sekretärin geweckt worden. In der SPD gebe es heute zu viel
       Herrschaft des Mittelmaßes.
       
       Und damit sind wir bei seinem schwierigen Verhältnis zu den Jusos. Sie
       kritisiert er im Buch nicht nur, weil „sie innerhalb der SPD diejenigen
       sind, die am lautesten für offene Grenzen und gegen jede
       Flüchtlingsbegrenzungspolitik sprechen“. Sie würden auch nicht die FAZ
       lesen, sondern bento und ze.tt. „Und da kriegt man tendenziell die volle
       linksliberale, postmoderne Dröhnung“ und neige dann zu „Realitätsverlust in
       der Migrationspolitik“.
       
       Heisterhagen hat die Jusos in seiner Biografie einfach übersprungen und ist
       gleich zur SPD gegangen. Die Beschäftigung „mit den neuesten
       Antifa-Strategien“ war nicht seine Sache. „Wie sollen die Besten der Besten
       kommen, wenn sie dafür bei den Jusos viermal die Woche an Treffen
       teilnehmen sollen? Die guten Absolventen gehen dann eher in Top-Jobs in der
       Verwaltung oder in die freie Wirtschaft.“ Beliebt machen solche Ansichten
       in der SPD nicht.
       
       Und so wird Heisterhagen inzwischen von manchen in der Linkspartei umworben
       und von Journalisten angefragt, von Streeck angerufen und der SPD-Basis
       beklatscht – nur in der SPD-Funktionärsschicht wissen sie ihn nicht
       wirklich zu schätzen. Er beschäftige sich mit Themen, die nicht in den
       Zuständigkeitsbereich eines Mainzer Grundsatzreferenten fallen, finden
       manche. Die SPD mochte Intellektuelle stets besonders gern, wenn sie
       Wahlaufrufe unterzeichneten und sich ansonsten nicht weiter einmischten.
       
       Dann entschwindet Heisterhagen ins Wochenende. Es sind die Tage, in denen
       Deutschland über das frühe Ausscheiden bei der WM debattiert. Über Joachim
       Löw, der Leroy Sané zu Hause ließ, weil er manchmal überheblich war und die
       satten Routiniers und jungen Angepassten störte. Löw durfte sich den Rest
       der WM in Freiburg vorm Fernseher anschauen. Wenn die SPD, die seit langem
       Fußballvergleiche liebt, überlegt, was sie mit Nils Heisterhagen machen
       soll, könnte sie beim Bundestrainer anrufen.
       
       22 Aug 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Gastkommentar-zur-Sozialdemokratie/!5524515
   DIR [2] http://dietz-verlag.de/isbn/9783801205317/Die-liberale-Illusion-Warum-wir-einen-linken-Realismus-brauchen-Nils-Heisterhagen
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Reeh
       
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