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       # taz.de -- Stipendien für politisch verfolgte Künstler: Endlich ein sicherer Hafen
       
       > Das Netzwerk „Artist at Risk“ aus Helsinki organisiert Residenzen für
       > verfolgte Künstler. Nun ziehen die deutschen Kulturinstitute nach.
       
   IMG Bild: Tito Valery, Radiomoderator aus Kamerun, in Finnlands Hauptstadt Helsinki
       
       Vor ein paar Tagen erst hat Tito Valery aus Kamerun sein Atelier auf
       Suomenlinna bezogen. Von Helsinkis Zentrum erreicht man die ehemals als
       Festung genutzte Insel mit der Stadtfähre in zwanzig Minuten. Bis Ende
       November wird der 36-jährige Kulturschaffende nun als Stipendiat der
       Initiative „Artist at Risk“ (Künstler in Not) in der finnischen Hauptstadt
       leben. Das gibt ihm die Möglichkeit, seine künstlerische Arbeit
       fortzusetzen, Radio zu machen und über die Konflikte in seinem Land
       zwischen frankophoner Mehrheit und anglophoner Minderheit zu sprechen, ohne
       dabei bedroht zu sein.
       
       Denn, so erläutert Valery: „Wir stehen kurz vor den Wahlen. Seit zwei
       Jahren erleben wir bürgerkriegsähnliche Unruhen in Kamerun. Ich stamme aus
       dem englischsprachigen Teil. Durch meine Veröffentlichungen und in den
       sozialen Medien bin ich sehr stark in die Proteste involviert.“
       
       Seit 2013 bietet das in Helsinki verankerte Programm „Artist at Risk“
       politisch verfolgten Künstlerinnen und Künstlern mehrmonatige
       Aufenthaltsstipendien in Europa. Das von den Kuratoren Marita Muukkonen und
       Ivor Stodolsky gegründete Netzwerk prüft die eingehenden Bewerbungen anhand
       eines festgelegten Kriterienkatalogs.
       
       Eine Auswahl ergibt sich aus einer Prioritätenliste von Dringlichkeit und
       künstlerischer Qualität. Kurzfristig versucht „Artist at Risk“ die sichere
       Ausreise aus den Herkunftsländern und den Aufenthalt in Europa für die
       Stipendiaten zu organisieren. Diese kommen beispielsweise aus Ägypten,
       Syrien, Malaysia, der Türkei oder der Ukraine. Die regionale Auswahl ist
       auch ein Abbild aktueller Konflikte weltweit. Bei den zuständigen
       europäischen Botschaften ein Schengen-Visum für die Einreise der Künstler
       zu bekommen, ist dabei trotz offizieller Einladung oftmals ein kaum zu
       durchschauendes bürokratisches Pokerspiel.
       
       Als einer der ersten „Artist at Risk“-Künstler kam 2014 der ägyptische
       Musiker Rami Essam nach Helsinki. Während des „arabischen Frühlings“ 2011
       war der Sänger auf dem Tahrirplatz in Kairo aufgetreten. Sein Song „Irhal“
       wurde damals zur Hymne der Proteste gegen das Regime Mubaraks. Doch der
       „arabische Frühling“ wurde niedergeschlagen, und als Konsequenz erlebte der
       Künstler Haft und Folter in Ägypten.
       
       ## Gründung eines gemeinsamen Schutzprogramms
       
       Finanziell ermöglicht wird die Arbeit von „Artist at Risk“ zum größten
       Teil durch die Kulturförderung der Stadt Helsinki. Einige private
       Stiftungen unterstützen den Verein zusätzlich. So befinden sich auch drei
       der aktuell sieben Künstlerresidenzen in der finnischen Hauptstadt. Weitere
       Aufenthaltsmöglichkeiten existieren im Westen Finnlands, in Südfrankreich,
       in Berlin und seit Kurzem auch in Großbritannien.
       
       In Helsinki, wie Thomas Wallgren, Philosophiedozent und langjähriges
       Mitglied des Stadtrats, erklärt, hat sich die Förderung des Projekts
       „Artist at Risk“ aus den für die Lokalpolitik dringenden Fragen ergeben:
       „Wie kann die Stadt als kultureller Akteur einen Beitrag zu globaler
       Kommunikation und globale Verantwortung leisten?“ Und: „Wie kann Kunst das
       Verständnis der Bürger dafür fördern?“
       
       Inzwischen hat auch das Auswärtige Amt in Deutschland angesichts der
       weltweit zunehmenden Bedrohung von Künstlern und kulturellen Akteuren die
       Notwendigkeit erkannt, initiativ zu werden. So kündigte das Goethe-Institut
       zusammen mit dem Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) Ende August die
       Gründung eines gemeinsamen Schutzprogramms an.
       
       In Zukunft soll die nach dem 2017 verstorbenen ifa-Präsidenten benannte
       „Martin Roth Initiative“ die Möglichkeit zum Leben und Arbeiten in
       Deutschland oder in sicheren Drittländern für Kulturschaffende bieten, die
       in ihren Heimatländern gefährdet sind. Eine Kooperation der deutschen
       Kulturinstitutionen und dem nordischen Netzwerk „Artist at Risk“ scheint
       für die Zukunft nun naheliegend, will man Synergien nutzen.
       
       Aktuell ist im Kunstmuseum von Vantaa, einer Stadt in der Agglomeration von
       Helsinki, die Ausstellung „Finland 101“ zu sehen. Sie präsentiert Werke von
       zwölf Künstlerinnen und Künstlern, deren Arbeiten sich mit kultureller
       Vielfalt im Land auseinandersetzen – einer Realität, die in den
       zurückliegenden offiziellen Feierlichkeiten zum hundertjährigen
       Staatsjubiläum Finnlands weitgehend unsichtbar blieb, so Kritiker. In
       Vantaa wird auch „No Man’s Land“ gezeigt, eine beeindruckende
       Rauminstallation des „Artist at Risk“-Stipendiaten Baran Çağinli. Seine
       begehbare, zerstörte Modellstadt aus gegossenem Beton entstand während der
       letzten Monate in seinem Atelier in Helsinki.
       
       ## Unbürokratische und wirkungsvolle Hilfe
       
       Seit November 2017 ist der aus Ankara stammende Bildhauer zu Gast in
       Finnland. Die Probleme in der Türkei begannen für Baran Çağinli, als er
       anfing, die Geschichte seiner kurdischen Verwandtschaft in Diyarbakır für
       ein neues Kunstprojekt zu recherchieren. In der bis heute für ihn
       ungeklärten Situation erfuhr der 28-Jährige durch einen ehemaligen
       kurdischen Stipendiaten von dem finnischen Residenzprogramm. Wenige Monate
       später konnte er die Türkei verlassen.
       
       Auch Tito Valery, der Künstler und Radiomacher aus Kamerun, erfuhr 2017
       eher durch Zufall von „Artist at Risk“. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, der
       Leiter des Berliner Projektraums „Savvy Contemporary“, hatte ihn mit einem
       Beitrag zum Documenta-Radioprogramm „Savvy Funk“ nach Kassel eingeladen.
       Dort traf er auf Marita Muukkonen und Ivor Stodolsky von der Institution in
       Helsinki. Bevor Valery nun Ende August nach Finnland kam, verbrachte er als
       erster AR-Stipendiat drei Monate im Wysing Arts Centre. Den Aufenthalt und
       Austausch in der Künstlerresidenz bei Cambridge beschreibt der Kameruner
       als äußerst produktiv und als persönlichen Wendepunkt. „Ich hatte meine
       erste Einzelausstellung in London und meinen ersten Auftritt in der Tate
       Modern. Für mich war es eine einmalige Gelegenheit, den nigerianischen
       Künstler Yinka Shonibare dort kennenzulernen und als Mentor zu gewinnen.“
       
       Künstlerinnen und Künstlern, die in ihren Herkunftsländern akut bedroht
       sind, bietet „Artist at Risk“ durch Residenzstipendien unbürokratisch und
       wirkungsvoll Hilfe in Notsituationen an. Gleichzeitig ermöglicht dieses
       Angebot, wie Tito Valerys Erfahrungen zeigen, aber auch Möglichkeiten zum
       internationalen Austausch und zur Weiterentwicklung ihrer professionellen
       Laufbahn. Schließlich sind Künstler aus den betroffenen Konfliktregionen in
       den gut vernetzten internationalen Art Residencies und der Kunstwelt viel
       zu selten anzutreffen.
       
       4 Sep 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eva-Christina Meier
       
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