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       # taz.de -- Samstagsmütter streiken zum 700. Mal: Wo sind die Verschwundenen?
       
       > Tausende Menschen sind in der Türkei im Polizeigewahrsam verschwunden.
       > Seit 23 Jahren fordern Familien und Aktivist*innen Aufklärung.
       
   IMG Bild: In der Republikgeschichte kehrten Tausende Menschen nicht aus dem Polizeigewahrsam zurück
       
       Der Istiklal-Boulevard ist wohl Istanbuls quirligste Straße, jeden Tag
       laufen hier Hunderttausende Menschen entlang. Hier, am Ort unzähliger
       Kundgebungen und Demos, findet seit 23 Jahren beinahe ununterbrochen eine
       Versammlung statt. Wer an einem Samstag den Boulevard entlang läuft, wird
       auf dem kleinen Galatasaray-Platz eine Gruppe von Frauen, Männern und
       Kindern antreffen, die Fotos in den Händen halten, umringt von Barrikaden
       und Polizisten.
       
       Seit dem 27. Mai 1995 führen hier Menschen, die der Öffentlichkeit als
       Samstagsmütter bekannt wurden, einen Sitzstreik durch. Genauso wie die
       argentinischen Mütter vom Plaza de Mayo verlangen sie Aufklärung über das
       Schicksal ihrer im Polizeigewahrsam verschwundenen Angehörigen: Menschen,
       die nach ihrer Verhaftung nie mehr zurückgekehrt sind, von denen angenommen
       wird, dass sie unter staatlicher Aufsicht ermordet wurden.
       
       Diese Woche findet das vom türkischen Menschenrechtsverein IHD organisierte
       Treffen zum 700. Mal statt. Auch nach Jahrzehnten lauten die Forderungen:
       Auskunft über das Schicksal ihrer Angehörigen, Prozesse gegen die Mörder
       und Verantwortlichen, ein Ende der Straflosigkeit, die Unterzeichnungen
       Internationaler Schutzkonventionen und die Möglichkeit, verschwundene
       Angehörigen auch ohne sterbliche Überreste endlich beerdigen zu können.
       
       Bei ihrem Protest zeigen die Samstagsmütter nicht nur Fotos von ihren
       verschwundenen Angehörigen, sondern auch Fotos von Intellektuellen, die im
       Laufe der Republikgeschichte auf ähnliche Weise verschwunden sind oder
       ermordet wurden. Einer davon ist der berühmte Schriftsteller Sabahattin
       Ali, der 1948 nach mehrfacher Verhaftung wegen gesellschaftskritischer
       Äußerungen auf der Flucht an der bulgarisch-türkischen Grenze getötet
       wurde. Die Umstände wurden nie geklärt, jedoch waren mutmaßlich staatliche
       Stellen involviert.
       
       ## Armenische Intellektuelle verschwanden in Haft
       
       Dass Menschen in der Türkei im Polizeigewahrsam verschwinden, geht zurück
       auf den 24. April 1915, der symbolisch für den Beginn des Völkermords an
       den Armenier*innen steht. An diesem Tag wurden Hunderte armenische
       Intellektuelle verhaftet und deportiert, noch bevor das Deportationsgesetz
       erlassen wurde, um etwaige Proteste gegen die bevorstehenden Verbrechen zu
       verhindern. Diese Praxis aus dem Osmanischen Reich wurde in den folgenden
       Jahrzehnten von der türkischen Regierung weitergeführt.
       
       Nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 erhöhte sich die Zahl
       verschwundener Menschen drastisch und fand ihren Höhepunkt in den neunziger
       Jahren in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei. Allein im Jahr
       1994 verschwanden 518 Personen in Polizeigewahrsam, 408 von ihnen in den
       kurdischen Provinzen. Von 211 Personen wurden die sterblichen Überreste
       gefunden. Laut der Menschenrechtsorganisation Erinnerungszentrum (Hafıza
       Merkezi) verschwanden seit dem 12. September 1980, soweit man feststellen
       konnte, 1.353 Menschen nach ihrer Festnahme.
       
       Ikbal Eren sucht seit 38 Jahren ihren Bruder Hayrettin Eren, der am 21.
       November 1980, kurz nach dem Putsch, festgenommen worden war. 33 Jahre lang
       bekam Familie Eren weiter Wahlunterlagen und Einberufungsbescheide des
       Militärs für Hayrettin Eren zugesandt. Als 2015 der Vater starb und die
       Familie den Erbschein beantragte, fragte die Behörde „Wo ist Hayrettin?“
       
       „Das Problem war, dass wir nicht wussten, dass in diesem Land bereits
       früher Menschen verschwunden sind.“ Hätten sie gewusst, dass der Staat
       armenische Intellektuelle und Sabahattin Ali verschwinden gelassen habe,
       hätten sie womöglich verhindern können, dass ihrem Bruder dasselbe zustößt,
       sagt İkbal Eren. Die Gesellschaft habe geschwiegen, als erneut Menschen im
       Polizeigewahrsam verschwanden.
       
       2011 traf der damalige Premierminister Erdoğan die Samstagsmütter. Erens
       Mutter Elmas Eren gehörte zu denen, die mit ihm sprachen. Bei dem Treffen
       habe sie gesagt, sie wäre bereits mit „einem einzigen Knochen“ zufrieden,
       erzählt Ikbal Eren. Jahrelang hatte die Familie nach dem lebenden Hayrettin
       gesucht. Heute wünscht sie sich wenigstens ein Grab.
       
       ## Massive Polizeigewalt gegen Mütter
       
       Mit zunehmendem öffentlichen Interesse für die Sitzstreiks versuchte die
       Polizei den stillen Protest zu verhindern. Die Übergriffe begannen am 15.
       August 1998, in der 170. Woche der Versammlung und dauerten sieben Monate.
       Jeden Samstag, ganze 31 Mal, schleiften Polizisten die Samstagsmütter an
       den Haaren weg und nahmen sie fest. Am 13. März 1999 wurden die
       Versammlungen aufgrund der massiven Polizeigewalt für unbestimmte Zeit
       ausgesetzt. Erst am 31. Januar 2009, zehn Jahre später,wurde der Protest
       erneut aufgenommen.
       
       Besna Tosun wuchs quasi auf dem Galatasaray-Platz, durch den die
       Istiklal-Straße führt, auf. Ihr Vater Fehmi Tosun wurde vor ihren Augen am
       19. Oktober 1995 zusammen mit Hüseyin Aydemir von Polizisten in einen Wagen
       gezerrt und entführt. Damals war sie zwölf. Sie erinnert sich daran, dass
       ihr Vater bereits zuvor in Polizeigewahrsam und Haft war. „Aber er kam
       immer wieder nach Hause“, sagt Tosun.
       
       Dass ihr Vater nicht zurückkehren würde, begriff Besna Tosun, als sie beim
       ersten Sitzstreik, an dem sie teilnahm, die Fotos in den Händen der
       Samstagsmütter sah. „Ich verstand, dass mein Vater nicht heimkehren würde,
       und brach in Tränen aus. So viele Gesichter. Es war nicht nur mein Vater,
       der nicht mehr zurück kam.“
       
       Am 25. August treffen sich die Samstagsmütter zum 700. Mal. „Eigentlich
       gibt es keinen Unterschied zu den Wochen vorher“, sagt Tosun, die
       Samstagsmütter fordern immer noch Rechenschaft. Eren ergänzt: „Wenn wir
       diese Hoffnung verlieren, können wir hier nicht mehr sitzen.“
       
       Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
       
       24 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Elif Akgül
       
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