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       # taz.de -- EndstationDrogendealer
       
       > Ibrahim kam als Geflüchteter nach Deutschland. Er verkauft Marihuana im
       > Hamburger Schanzenpark, nachdem er mehrere Jahre ein geradezu spießiges
       > Leben bei Dortmund führte. Zum Dealen sah er sich gezwungen, weil er
       > nicht mehr offiziell arbeiten darf. Doch für ihn ist sein jetziges Leben
       > ein Albtraum
       
   IMG Bild: Balduintreppe in Hamburg St. Pauli: Hier macht die Polizei gern Jagd auf schwarze Dealer
       
       Von Mareen Butter
       
       Am Eingang des Schanzenparks stehen sie, unterhalten sich, lachen, einige
       bewegen sich im Rhythmus zu schneller Hip-Hop-Musik, die aus einem Handy
       kommt. Es riecht nach Marihuana. Oben, von der Treppe, wo der Park beginnt,
       ruft Ibrahim seinem Freund etwas zu, der einige Meter entfernt neben dem
       Eingang der U-Bahn-Haltestelle steht. Der Freund antwortet, doch kein
       vorbeigehender Passant versteht, was sie sagen. Sie sprechen auf Fulfulde,
       ihrer Sprache aus Guinea. Ibrahim zieht an seinem Joint, bevor er seine
       Jacke schließt. Es ist kalt an diesem Sommertag. Immer wieder schaut er
       sich um, sucht mit seinen Blicken die Straße ab. Er hält Ausschau nach
       Kunden, vor allem aber nach Menschen, die ihm merkwürdig vorkommen. Die
       Zivilpolizei verkleidet sich gern, manchmal gar als Mütter mit Kinderwagen
       und Puppen.
       
       Ibrahim geht auf einen jungen Mann zu, der sich an einen Fahrradständer
       anlehnt. Er sucht den Blickkontakt des Mannes, macht dann ein Zeichen mit
       seinen Fingern, als hielte er eine Zigarette dazwischen und schaut ihn
       fragend an. Der Mann winkt ab, er will nichts kaufen. Ibrahim nickt kurz
       und geht dann zurück zu seiner Gruppe. Plötzlich verschwinden er und seine
       Kollegen, verteilt in alle Richtungen, links und rechts entlang des
       Gebüschs im Schanzenpark, andere hinein in die U-Bahn-Station. Von jetzt
       auf gleich ist niemand mehr zu sehen, nichts mehr zu hören und zu riechen.
       Keine Minute später taucht ein Polizeivan auf. Vier Polizisten steigen aus
       und rennen los. Die erste Jagd des Abends beginnt.
       
       Ibrahim hat Glück an diesem Tag, er wird nicht geschnappt. In Wahrheit
       heißt er anders, doch er möchte anonym bleiben. Dass er nun mit Drogen
       dealt, ist ihm peinlich und niemand von seinen Freunden in der Nähe von
       Dortmund soll es wissen. Dort wohnte er bis vor wenigen Monaten und lernte
       Deutsch, arbeitete, spielte Fußball. Er versuchte, ein ganz normales Leben
       zu führen, sich zu integrieren. Bis zu jenem Tag im Februar 2017, als sein
       Asylantrag abgelehnt wurde.
       
       Mitte der Neunzigerjahre kam er in einer Großstadt in Guinea auf die Welt.
       An seine Mutter hat er keine Erinnerungen, sein Vater starb, als er neun
       war. Ab dann wuchs er auf der Straße auf und die anderen Straßenkinder
       wurden zu seiner neuen Familie. Gemeinsam klauten sie Essen vom Markt,
       bettelten, nahmen jede Arbeit an, die sie bekamen. Sie schliefen, wo immer
       sie Platz fanden. „Sich alleine fühlen, das ist, wenn du nicht nach Hause
       gehen kannst, nicht duschen und dich niemand fragt, ob es dir gut geht“,
       sagt Ibrahim.
       
       Von den 15 oder 16 Jungs, mit denen er abhing, starben fünf. Einmal sah er
       mit an, wie ein Freund, der beim Klauen erwischt wurde, starb. Sie packten
       ihn zwischen Reifen und zündeten ihn an. „Die Ungerechtigkeit ist überall,
       wenn man arm ist“, sagt Ibrahim. Sein Traum ist, Anwalt zu werden und
       Menschen zu verteidigen. Doch eine Schule sah er in Guinea nie von innen.
       
       Mit 15 Jahren bot ihm ein LKW-Fahrer Arbeit im Senegal an. Ibrahim ging,
       ohne sich von seinen Freunden zu verabschieden. Wahrscheinlich denken sie,
       dass er gestorben ist. Sein Ziel war zunächst nicht Europa, sondern nur,
       Guinea hinter sich zu lassen. „Ich liebe mein Land. Aber ich hatte Angst
       davor, mich nicht mehr ernähren zu können“, sagt er. Ibrahim durchquerte
       auf dem Landweg Senegal, Mauretanien und Marokko und hielt sich mit
       verschiedenen Arbeiten über Wasser: auf Farmen, auf Märkten oder als
       Hausangestellter. Was er dabei erlebte, bezeichnet er als Sklaverei. „Man
       arbeitet von sechs Uhr früh bis mindestens 18 Uhr. Die Bauern bezahlen dich
       manchmal einfach nicht, können dich auch schlagen oder töten, keiner
       kümmert sich darum. Drei meiner Freunde, die mit den Bauern gingen, sah ich
       nie wieder.“
       
       ## Er hoffte auf ein besseres Leben in Europa
       
       Über das Flüchtlingscamp der spanischen Exklave Melilla in Marokko kam
       Ibrahim schließlich nach Europa. Inzwischen setzte er große Hoffnungen in
       den Kontinent: „Ich dachte, in Europa leben Menschen ein besseres Leben.
       Ich dachte, alle Weißen sind gut. Weil unsere Regierung auch immer Hilfe
       von den Weißen bekommt.“
       
       Mit Hilfe einer Flüchtlings-NGO erreichte er Barcelona, wo er einige Wochen
       blieb und versorgt wurde. Doch sein Ziel war Deutschland. „Weil sie in
       Deutschland viel arbeiten und in Spanien viel Party machen“, sagt er. „Ich
       wollte lieber arbeiten und Deutsch lernen.“ Vor allem hofft er darauf,
       eines Tages an einer deutschen Universität zu studieren.
       
       Eine Freiwillige der NGO besorgte ihm Bustickets. Ende 2013, drei Jahre,
       nachdem er Guinea verlassen hatte, erreichte er Deutschland und begann sein
       neues Leben in der Nähe von Dortmund. „Wenn man an einen neuen Ort kommt,
       versucht man, die Regeln zu respektieren. Mit den Menschen zusammen zu
       sein.“ Er lernt lesen, schreiben und Deutsch zu sprechen; spielt Fußball in
       einer Mannschaft der Kreisliga A, wo er der einzige Afrikaner ist; er
       arbeitet in einem Agrarbetrieb und macht Überstunden, zahlt für Essen,
       Miete, Steuern, Versicherung; er schaut in seiner Freizeit Dokus und meldet
       sich erstmals bei Facebook und Instagram an. Es ist ein fast spießiges,
       deutsches Leben, das er führt.
       
       Bis er nach weiteren drei Jahren aufgefordert wird, zum Interview für
       seinen Asylantrag in die Ausländerbehörde zu kommen. Einen Monat später
       erhält er seine Ablehnung. „Sie sagten, ich hätte nicht über die Politik in
       meinem Land gesprochen. Ich dachte, soll ich was erfinden, das ich nicht
       weiß? Da habe ich gelernt, man muss lügen, um Papiere zu bekommen. Das hat
       mir nicht gefallen.“
       
       Inzwischen sieht er sein neues Zuhause auch kritischer. Seit er in Europa
       ist, sagt Ibrahim, wisse er, was Rassismus bedeute: „Wenn du schwarze Haut
       hast, bist du ein großes Problem.“ Das Verhältnis von globalem Norden und
       globalem Süden findet er ungerecht: „Wenn wir nach Europa gehen, sind wir
       Geflüchtete. Wenn Europäer nach Afrika gehen, sind sie Touristen.“
       
       Ibrahims Status in Deutschland ist nun der eines Geduldeten. Das heißt,
       seine Abschiebung ist nur vorläufig ausgesetzt. Diese ist derzeit nicht
       möglich, da er keinen Pass aus Guinea hat. Gleichzeitig erhält er aber auch
       keine Arbeitserlaubnis: „Er müsste nachweisen, dass er für ihn alles
       Mögliche versucht hat, seinen Pass zu erhalten“, erklärt Karlotta Viktor,
       ehrenamtliche Flüchtlingsberaterin der „Refugee Law Clinic“ an der
       Universität Hamburg. Es handelt sich also für Ibrahim um eine Zwickmühle:
       Hat er keinen Pass, darf er nicht arbeiten; hat er einen, kann er
       abgeschoben werden.
       
       Zunächst arbeitete er weiterhin schwarz in dem Agrarbetrieb bei Dortmund,
       bis die Behörde es nach wenigen Monaten herausfand und den Betrieb
       abmahnte. Ab da bestand sein Leben darin, Essensgutscheine im Wert von 150
       Euro zu erhalten, fernzusehen und auf seine Abschiebung zu warten. Doch
       dieses Leben war nicht das, was er sich vorgestellt hatte. Ibrahim will
       arbeiten: „Wenn man selbst arbeitet, kann man stolz sein und verantwortlich
       für sich selbst. Warum lassen sie mich nicht einfach arbeiten? Gibt es eine
       bessere Integration als meine?“
       
       Nach einigen Monaten beschloss er, sein Schicksal selbst in die Hand zu
       nehmen. In Hamburg, davon hatte er schon gehört, gibt es viele Geflüchtete,
       die dealen, um Geld zu verdienen. Im Frühjahr 2018 machte er sich auf.
       
       „Ich dachte niemals, dass ich das machen würde. Ich hasse das Leben, das
       ich jetzt führe. Ich, ein Dealer? Nein, das kann nicht sein. Es ist wie ein
       Albtraum“, beschreibt er seine heutige Situation. Er ist jetzt täglich im
       Schanzenpark und verdient zwischen 30 und 50 Euro am Tag. „Wenn ich
       vormittags in den Park gehe und um zwei oder drei Uhr morgens ohne große
       Probleme wieder rauskomme, war der Tag ein Jackpot für mich. Weil du jeden
       Tag vor der Polizei wegrennen muss.“ Seinen Stoff bekommt er von „Leuten,
       von denen du nicht denkst, dass sie so was machen, die einen ganz normalen
       Job haben“.
       
       ## An Minderjährige verkauft er keine Drogen
       
       Er verkauft die Droge für die doppelte Summe, die er selbst bezahlt. Unter
       seinen Kunden sind Studierende, Angestellte, Geschäftsmänner und -frauen,
       Hippies, Senioren, praktisch ein Querschnitt aus Hamburgs Bevölkerung. An
       Minderjährige verkauft er nicht: „Man weiß sofort, dass sie jung sind, da
       sie Angst haben. Sie fragen dich, wie das geht. Dann sage ich sofort, hau
       ab hier.“ Stammkunden baut er sich über die Zeit auf, die ihn dann
       telefonisch erreichen. Mit seinen Kunden hat er aber auch Mitleid, weil er
       weiß, wie es ist, wenn man abhängig von Gras ist: „Manche kommen jeden Tag
       her und nehmen dafür Geld von ihren Familien.“
       
       Beim Verkauf versucht er, konzentriert zu bleiben und Augen und Ohren offen
       zu halten, denn Angst vor der Polizei hat er ständig: „Das Ende hier ist
       nie gut, es bedeutet immer Knast.“ Einige Haftanstalten Hamburgs kennt
       Ibrahim schon von innen. Zwei Mal wird er mit einigen Gramm Marihuana von
       der Polizei aufgegriffen und zu Geldstrafen verurteilt, die er dann als
       Ersatzfreiheitsstrafen absitzt.
       
       Tim Burkert beschäftigt sich genau mit solchen Fällen. Er ist Anwalt für
       Strafrecht in Hamburg und verteidigt viele Geflüchtete, die aufgrund von
       Drogendelikten vor Gericht stehen. „Der große Wunsch von 90 Prozent meiner
       Mandanten ist es, einfach die Sprache zu lernen, eine Ausbildung zu
       beginnen und zu arbeiten“, sagt er, „sie sind geradezu gierig danach.“
       Jene, die eine Chance auf Arbeit erhielten, zögerten nicht lang, so
       Burkert. Sobald jedoch wie bei Ibrahim Asylantrag und Arbeitserlaubnis
       wegfallen, wüssten sie nicht, was sie allein mit den Essensgutscheinen
       anfangen sollen: „Dafür sind sie nicht gekommen. Niemand wartet geduldig
       auf seine Abschiebung.“ Burkert kennt keinen einzigen Dealer, der in einer
       Ausbildung ist: „Entweder verticken sie, oder sie arbeiten. Das geht
       niemals parallel.“
       
       Da Ibrahim in Dortmund gemeldet ist und nicht in Hamburg, hat er keine
       Unterkunft. Er schläft meistens bei Bekannten, mal hier, mal dort, wenn
       nicht gerade im Gefängnis. Wenn er in Haft ist, wird er höchstens von
       seinen engsten Freunden vermisst, denn Festnahmen sind für die meisten zum
       Alltag geworden. Dennoch fällt auf, wenn er fehlt. „Ibrahim ist mutig. Und
       er hat was im Köpfchen“, sagt ein guter Freund über ihn, „kaum einer
       spricht so viele Sprachen wie er.“ Es sind sieben – eigentlich eine gute
       Voraussetzung für einen anständig bezahlten Job. Doch die Chancen auf eine
       Arbeitsduldung für Geflüchtete sind umso geringer, je öfter sie straffällig
       wurden, erklärt Karlotta Viktor von der Refugee Law Clinic. „Tatsächlich
       führt diese Tatsache dazu, dass die Geduldeten untertauchen und versuchen,
       illegal in Deutschland zu bleiben und mit Drogendeal ihr Geld zu
       verdienen.“
       
       Ein Teufelskreis, aus dem keiner so leicht rauskommt. Ibrahim weiß, dass
       einige seiner Bekannten eine Familie gegründet haben, auch, um in
       Deutschland zu bleiben. Doch so eine Option sieht er für sich nicht:
       „Hochzeit ist nur etwas für die Ewigkeit“, sagt er. Ibrahim hofft, „auf
       andere Wegen“ an Papiere zu kommen. Auf Wegen, die ihm erlauben, in
       Deutschland zu bleiben. Die Staatsbürgerschaft sei für ihn unerreichbar,
       glaubt er. „Der deutsche Pass ist der Diamant.“
       
       Doch wie er zumindest eine ständige Aufenthaltserlaubnis erhalten kann, ist
       ihm nicht klar. Oder will es nicht sagen. Jedenfalls weiß er, dass er nicht
       mehr zurück nach Afrika will, dort sieht er für sich keine Zukunft.
       
       Und noch was weiß er: „Ich will noch dreihundert Jahre leben.“
       
       25 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Mareen Butter
       
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