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       # taz.de -- Alice Rohrwacher über ihren neuen Film: „Es ist wie eine Mauer“
       
       > Die Regisseurin Alice Rohrwacher spricht über ihren Film „Glücklich wie
       > Lazzaro“, YouTuber als Darsteller und Kartografieren als Arbeitsmethode.
       
   IMG Bild: Wie aus uralten Zeiten: Adriano Tardiolo als Lazzaro in „Glücklich wie Lazzaro“
       
       In Inviolata, einem isolierten italienischen Dorf, kommt es zu einer
       folgenschweren Begegnung: Lazzaro, Sohn eines Bauern, und Tancredi, Spross
       der hiesigen Marchesa, freunden sich an. Formal betrachtet eine
       Konstellation zwischen Ausgebeutetem und Ausbeuter, ignorieren beide die
       Standesgrenzen, die im Rest des Landes ohnehin längst als überwunden
       gelten. Ein modernes Märchen, mit dem Regisseurin Alice Rohrwacher so etwas
       wie der Lieblingsfilm der Saison gelungen ist. 
       
       taz: Frau Rohrwacher, als wir uns das letzte Mal getroffen haben, 2014 zum
       Start von „Land der Wunder“, erzählten Sie mir, dass Sie Ihre Filme mittels
       einer Art Kartografie erstellen würden. Ist das noch immer ein bewährtes
       Prinzip? 
       
       Alice Rohrwacher: Das ist es. Ich baue mir eine große Fläche aus
       transparentem Papier, die ich als eine Art Wand aufspanne. Dort ist der
       Ablauf des Films dann auch schon erkennbar: in seiner Länge, der
       verschiedenen Beleuchtung – Tag und Nacht etwa –, bestimmte Stimmungen sind
       mit bestimmten Farben markiert. Hinzu kommen dann auf extra Blättern
       einzelne Ereignisse, Beziehungen der Figuren untereinander, Bewegungen, die
       emotional wie physisch unternommen werden. Wenn eine Person der anderen
       nachläuft, sich dann wieder von ihr entfernt, sie sich verstehen und dann
       nicht mehr. Es bildet sich eine bewegte Reihe, der Film gewinnt Form aus
       diesen Vorzeichnungen. Eine übergeordnete Regel gibt es aber nicht. Es ist
       vielmehr ein Ineinanderranken von Motiven und Situationen. Eine Arabeske.
       Und wie bei jeder Arabeske erwarte ich eine gewisse anmutige Erscheinung,
       eine Grazie.
       
       Was passiert mit dieser anmutigen Erscheinung nach Beendigung des Films? 
       
       Sie kommt in eine Schublade.
       
       Über „Land der Wunder“ sagten Sie mir auch, er habe eine große Fragilität:
       Verschöbe man eine Kleinigkeit, veränderte sich der ganze Film. Diese
       Fragilität spüre ich auch in „Glücklich wie Lazzaro“, aber nicht mehr ganz
       so stark. 
       
       Ich glaube, ich habe diese Besorgnis um Aufbau und Struktur hinter mir
       gelassen. Was nicht bedeutet, dass dieser Film besser strukturiert ist.
       (lacht) Aber: „Glücklich wie Lazzaro“ entstand auch aus einem bestimmten
       Impuls heraus, da müsste ich ausholen.
       
       Sehr gerne. 
       
       Ich bin aus tiefstem Herzen eine romantische Seele. Ich liebe Erzählungen,
       vor allem, wenn sie etwas mit Ritterlichkeit und Abenteuer zu tun haben,
       wie sie auch in „Glücklich wie Lazzaro“ vorkommen. Das sind Motive aus der
       Vergangenheit, des letzten Jahrhunderts. Da ich als 18-Jährige aber in das
       Jahr 2000 hineingerutscht bin, musste ich feststellen, dass diese Welt,
       diese Erzählungen nicht mehr existieren. Ich versuchte also, mit meiner
       Sprache diese Erinnerungen und Abenteuer hinüberzuretten ins 21.
       Jahrhundert. Es war ein bisschen so, als würde man einen Luftballon
       aufblasen, dann die Schnur durchtrennen, an der er hängt, und schauen,
       wohin er fliegt.
       
       Er flog, unter anderem, zu Lazzaro, einer Figur, die auf vielen Ebenen
       beeindruckt. Ein naiv anmutender Mann, der als Bindeglied zweier
       unterschiedlicher Welten, ja Zeitalter fungiert. Lazzaro ist Zeuge zweier
       Epochen, er ist der „Idiot“, durch den etwas sichtbar wird. Mich
       beschäftigt er besonders auch aufgrund seiner Physis. Einer Körperlichkeit,
       wie ich sie in dieser Form im Kino nur sehr selten antreffe. 
       
       Ich habe es ganz ähnlich erlebt. Auch wenn Adriano Tardiolo ganz klar unser
       Zeitgenosse ist, ist ihm etwas sehr Ursprüngliches, Archaisches zu eigen.
       Er ist einer, der seit jeher auf dem Weg zu sein scheint. Trotzdem hat er
       natürlich auch mal sein Handy gezückt, da musste ich durchaus schlucken.
       Mir kommt er einfach so vor, als käme er aus uralten Zeiten. Als er mir
       seine E-Mail-Adresse gegeben hat, dachte ich, das kann doch nicht sein.
       Damit meine ich aber nicht, dass er ein grober Klotz oder unbehauen wäre.
       Nein. Aber da er sein Herz nicht an die Dinge hängt, sieht es immer so aus,
       als würde er alles zum ersten Mal machen. Es ist, als würde man durch ihn
       die Welt neu entdecken.
       
       Und dann als Kontrast ein zweiter junger Mann, ein Popstar sogar, Luca
       Chikovani, der den Tancredi spielt. 
       
       Ich bin auch über YouTube auf ihn gestoßen. Ich hatte mich im Vorfeld
       umgehört, welche YouTuber man sich gerade ansieht, und dann fand ich Luca
       Chikovani. Mit ihm zu arbeiten war sehr schön, weil er eben im Gegensatz zu
       Adriano mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht, nicht mich braucht, um
       zu wissen, wer er ist. Obwohl Luca sehr zerbrechlich wirkt, also ein
       typischer junger Mann von heute ist. Für ihn war es eine gute Erfahrung,
       unter einer Regisseurin angeleitet zu werden und gesagt zu bekommen, was er
       tun soll. Das war für ihn zweifellos eine Genugtuung.
       
       „Glücklich wie Lazzaro“ hat sehr viel Aufmerksamkeit in Filmkreisen
       erfahren, in Cannes waren alle sehr angetan. Wird mit einem YouTube-Star
       eigentlich auch ein anderes Publikum erreicht? Gingen in Italien Scharen
       von Luca-Fans ins Kino? 
       
       Leider ist das nicht so, weil diese beiden Welten nichts miteinander zu tun
       haben. Es ist wie eine Mauer.
       
       Aber wenn ich das Leben von jemandem via Internet verfolge, vielleicht
       sogar ein wenig in ihn verliebt bin, möchte ich dann nicht überall dorthin
       gehen, wo auch er ist? 
       
       Nein, weil der YouTuber sich bereits in seiner Alltäglichkeit zeigt, sein
       normales Leben ausstellt und gar keine andere Rolle einnehmen möchte. Der
       Fan ist eher an noch mehr Alltag seines Stars interessiert, und ich stelle
       fest, dass es in die andere Richtung nicht geht. Eher interessiert sich die
       Welt des Kinos für die Welt der YouTuber, als umgekehrt.
       
       Jemand, der sich für ein ganz anderes Spektrum begeistert, ist die Marchesa
       Alfonsina de Luna, verkörpert durch Nicoletta Braschi. Im Film ist sie die
       Mutter Tancredis, die Königin der Zigaretten. Eine knöcherne, skrupellose
       Frau. 
       
       Es steckt ja eine wahre Geschichte dahinter. Es gab eine derartige
       Marchesa, die ihren Halbpächtern verschwiegen hatte, dass dieses über
       Jahrhunderte fortdauernde feudale System abgeschafft worden war, und zwar
       durch ein Gesetz im Jahr 1982. Also sehr spät in Italien. Wo die ehemaligen
       Pachtgeber gezwungen wurden, ihren Untertanen, wenn man so will, Verträge
       und Geld anzubieten. Oft wird in Italien ja von einer Landflucht
       gesprochen, dass die Menschen in die Städte abgewandert sind, um an einem
       gewissen Luxus teilzuhaben. Aber dass diese Bewegungen eben mit jenem
       feudalen System der Ausbeutung zusammenhingen, darüber spricht man nicht.
       
       „Menschen sind wie Tiere“, sagt die Marchesa zum Beispiel. Gleichzeitig
       agiert sie mit einer perversen Güte. 
       
       Sie nimmt die Position des Paternalisten ein, indem sie sagt, man müsse die
       Menschen wie Tiere halten, weil sie viel mehr leiden würden, wenn sie
       außerhalb dieses Abhängigkeitsverhältnisses stünden. Besser, man hält sie
       im Zustand der Unmündigkeit. Was die Landwirtschaft angeht, war es sehr,
       sehr lange so, dass diejenigen, die das Land bestellten, die Knechte, gar
       keine Zeit hatten, über ihre Situation nachzudenken. Wenn sie das gemacht
       hätten, wären die ganzen Erzeugnisse noch viel teurer geworden. Eigentlich
       ist es ein Zustand, den wir auch jetzt haben, mit den ausländischen
       Erntehelfern, die zu Niedriglöhnen arbeiten.
       
       Wie kommt dann ein so guter Mensch wie Lazzaro in diese Welt? 
       
       Der Storch bringt ihn. (lacht) Nein, also woher diese Menschen kommen, das
       kann ich nicht sagen. Aber die Tatsache, dass wir sie erkennen können, dass
       wir die Unschuld und die Herzensgüte in ihnen sehen, belegt ja schon, dass
       das Gute auch in uns ist. Oder zumindest einmal war, für kürzeste Zeit.
       Diese Leute wie Lazzaro zeigen etwas zutiefst Menschliches, das auch in uns
       schlummert. Es ist eine magnetische Anziehung: Bestünden wir nicht aus
       demselben Grundstoff, wären aus Pappe oder Papier, könnten wir den
       Magnetismus nicht spüren. Aber wir spüren ihn.
       
       Kann das ein Trost sein? 
       
       Nein, es ist eher eine Wehmut, ein Schmerz.
       
       16 Feb 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carolin Weidner
       
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