URI: 
       # taz.de -- Schwerpunkt Ausbildung: Im Azubi-Himmel?
       
       > Zu Beginn des Ausbildungsjahrs​ stehen 6.700 Lehrstellensuchern in Berlin
       > noch 5.700 freie Ausbildungsplätze​ gegenüber.​ Woran liegt das?​
       
   IMG Bild: Vivien Pankatz lernt ihr Handwerk im Himmel über Berlin
       
       Nachts, wenn die Touristen schlafen, steht Vivien Pankatz auf der
       Panoramaplattform des Fernsehturms und wischt die fettigen Fingerabdrücke
       der Tagesgäste von den Linsen der Ferngläser. Sie putzt den Fußboden im
       Restaurant, sie kippt Reiniger in die Toiletten und wischt den Tresen der
       Panoramabar, bis er glänzt.
       
       Um halb eins ist die Azubi dafür Sonntagnacht mit einer erfahrenen Kollegin
       an ihrer Seite im Fahrstuhl die gut 200 Meter nach oben gedüst. Drei
       Stunden hatten sie für das Restaurant, „wir lagen echt gut in der Zeit“,
       sagt Pankatz, dann haben sie sich gegen halb vier Uhr morgens die Treppe
       heruntergearbeitet bis zu den fettigen Ferngläsern über dem Lichtermeer zu
       Pankatz’ Füßen.
       
       Jetzt, um halb neun Uhr Montagfrüh, steht die junge Frau am Fuß des
       Fernsehturms und blinzelt in die Morgensonne. „Meine erste Nachtschicht“,
       sagt sie sachlich und zuckt die trainierten Schultern. „Hätt’ ich mir jetzt
       schlimmer vorgestellt.“
       
       Pankatz, 19 Jahre alt, ist ungefähr so ungewöhnlich wie der Ort, den sie
       gerade für die Gäste geputzt hat, die schon wieder eine gut gelaunte
       Schlange vor den Fahrstühlen bilden. Die Abiturientin einer
       Sport-Eliteschule in Köpenick lässt sich zur Gebäudereinigerin ausbilden.
       
       ## Die Wirtschaft brummt
       
       Damit ist sie eine begehrte Spezies in dieser Stadt: Zum Start des neuen
       Ausbildungsjahrs am 1. September vermeldete Arbeitssenatorin Elke
       Breitenbach (Linke) noch 5.700 unbesetzte Ausbildungsplätze in Berlin.
       Gleichzeitig suchten Ende August allerdings auch noch 6.700 Jugendliche
       nach einem Ausbildungsbetrieb.
       
       Warum findet nicht zusammen, was eigentlich zusammenfinden will? Sind die
       BewerberInnen zu schlecht? Wollen die Betriebe nicht ausbilden?
       
       Man könne nicht pauschal sagen, wer von den BewerberInnen jetzt nach dem
       Start des Ausbildungsjahrs noch „übrig“ sei, sagt Meike Al-Habash,
       Ausbildungsleiterin bei der Industrie- und Handelskammer. Da gebe es die
       mit schlecht verfassten Bewerbungen, die eine unmotivierte Standardmail an
       15 Firmen schicken und 15 mal nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen
       werden, sagt Al-Habash. Da habe sich ein anderer nicht breit genug beworben
       oder vielleicht nur bei großen Firmen. Da gebe es die Orientierungslosen
       und die, die bereits eine erste Ausbildung abgebrochen haben.
       
       Die IHK verzeichnete im August die meisten noch offenen Azubi-Stellen für
       Bürokaufleute – doch nicht etwa, weil den Job keiner machen will:
       Bürokaufmann oder –frau ist zugleich einer der von den Jugendlichen am
       meisten nachgefragten Berufe.
       
       Die Antwort auf die Frage, warum da so schwer zusammenfindet, was
       eigentlich zusammenfinden will, ist also, man ahnt es: kompliziert.
       
       ## Mehr Ausbildungsplätze
       
       Vielleicht fängt man am besten bei der wirtschaftlichen Großwetterlage an.
       Die Firmen, insbesondere im Handwerk, haben übervolle Auftragsbücher. Der
       Zentralverband des Deutschen Handwerks spricht in seinem Konjunkturbericht
       für das erste Quartal 2018 gar von einem „Allzeithoch“ bei der Auslastung
       der betrieblichen Kapazitäten.
       
       Die Unternehmen investieren, sie würden gerne noch mehr Aufträge annehmen,
       und weil die Konjunkturprognose günstig ist, wollen sie auch sehr gerne
       Nachwuchs ausbilden.
       
       Die Industrie- und Handelskammer listet rund 15.550 Ausbildungsplätze für
       Berlin, ebenfalls ein „Rekordhoch“ und ein Plus von 50 Prozent gegenüber
       2009. Die Zahl der in der IHK vertretenen Ausbildungsbetriebe stieg
       ebenfalls leicht: 2017 suchten immerhin 100 Firmen mehr als im Jahr zuvor
       nach Azubis.
       
       Zwar bilden nur 5.500 der insgesamt rund 300.000 Mitgliedsbetriebe der
       Berliner IHK überhaupt aus – doch über die Hälfte der Mitglieder seien
       Kleinst- oder gar Ein-Mann/Frau-Betriebe, die kaum in der Lage seien, eine
       sinnvolle Ausbildung anzubieten, sagt eine Sprecherin. Der Zuwachs bei den
       Azubi-Plätzen geht dabei laut IHK vor allem auf das Konto des
       verarbeitenden Gewerbes – da gehören in Berlin etwa die
       Nahrungsmittelindustrie oder der Maschinenbau dazu.
       
       ## Bewerberzahl stagniert
       
       Während bei der Konjunktur also alles rund läuft, stagniert jedoch die Zahl
       der BewerberInnen auf einen Ausbildungsplatz, und zwar seit Jahren. Im
       vergangenen Jahr dümpelte sie laut IHK-Ausbildungsbilanz bei rund 21.000.
       
       Das hat zur Folge, dass diejenigen mit einem guten Mittleren Schulabschluss
       oder gar Abitur sich ihren Wunschbetrieb quasi aussuchen können – und sie
       suchen sich dann gerne die großen Betriebe aus. Weil die, neben den
       klingenderen Namen, häufig mehr bieten können: mehr Geld, mehr Urlaubstage,
       mehr betriebliche Mitbestimmung, oft auch mehr Abwechslung in verschiedenen
       Unternehmensabteilungen als es der kleine Gas-Wasser-Installateur bieten
       kann, der den Azubi vor allem als helfende Hand im Tagesgeschäft braucht.
       
       „Nach wie vor gilt der Grundsatz: Je größer der Betrieb, desto höher die
       Zufriedenheit der Auszubildenden“, heißt es auch im Ausbildungsreport 2017
       des Deutschen Gewerkschaftsbunds.
       
       Große Betriebe können zudem bei den Arbeitszeiten eher Rücksicht auf die
       Azubis nehmen, die ja auch noch regelmäßig zum Theorieunterricht in die
       Berufsschule müssen – ein Thema vor allem im Hotel- und Gaststättengewerbe,
       wo es naturgemäß viel Wochenendarbeit und Spätschichten gibt. Nicht ohne
       Grund hat das Hotel- und Gaststättengewerbe eine der höchsten
       Abbrecherquoten. Rund die Hälfte der Auszubildenden löst laut des aktuellen
       Berufsbildungsbericht des Bundesbildungsministeriums den Ausbildungsvertrag
       vorzeitig auf.
       
       „Größere Betriebe mit mehr Mitarbeitern können die Arbeitsbelastung für die
       Azubis in der Regel besser abpuffern“, sagt auch Cornelia Schwarz von der
       Bundesagentur für Arbeit Berlin Süd. Große Hotelketten hätten deshalb
       „überhaupt kein Problem damit, ihre Ausbildungsplätze zu besetzen“.
       
       ## Kellnern kann jeder?
       
       Wo der Azubi-Mangel besonders hart ankommt: bei den kleineren Unternehmen
       und den Jugendlichen mit schlechtem oder gar keinem Schulabschluss. Da geht
       die Topf-und-Deckel-Gleichung plötzlich nicht mehr auf – weil da zwei
       Seiten erst lernen müssen, aufeinander angewiesen zu sein.
       
       Fachkraft im Hotelgewerbe zum Beispiel, sagt Schwarz, das sei vor zehn
       Jahren ein Job für AbiturientInnen gewesen. Von denen gibt es zwar auch in
       Berlin immer mehr, doch zugleich ist deren Drang an die Unis ungebrochen:
       Laut statistischem Bundesamt weist die Zahl der HochschulabsolventInnen
       seit 2011 kontinuierlich nach oben.
       
       „Inzwischen stellen die Hotelbetriebe auch Leute mit einem Mittleren
       Schulabschluss ein, die sie vor einigen Jahren aus rein formalen Gründen
       nicht mal zum Vorstellungsgespräch eingeladen hätten“, sagt Schwarz.
       
       Im schlechtesten Fall für die Jugendlichen kompensieren die Betriebe den
       Azubi-Mangel, indem sie einfach nicht mehr ausbilden – und stattdessen mit
       (zudem billigeren) ungelernten Kräften arbeiten. Im Hotel- und
       Gaststättengewerbe, aber auch im Einzelhandel kann man das gut machen:
       kellnern, Zimmerservice und kassieren an der Supermarktkasse sind keine
       geschützten Berufe wie Schornsteinfegerin, Bäcker oder Tischlerin, wo der
       Zentralverband des Deutschen Handwerks über die Meisterpflicht wacht.
       
       ## Ungelernte sind billiger
       
       Laut Statistik der Bundesarbeitsagentur Berlin Süd ist die Zahl der
       Ausbildungsplätze im Bereich Hotellerie im Vergleich zum Vorjahr leicht
       rückläufig – während sie in den meisten anderen Branchen gestiegen ist. In
       der Gastro-Branche wiederum sanken dieses Jahr in Berlin die
       Interessentenzahlen auf der Azubi-Seite – ein selbstgemachtes Problem, dass
       viele Branchen haben, die auf ungelernte Kräfte setzen (können): Warum sich
       erst ausbilden lassen, denken junge SchulabgängerInnen, wenn ja offenbar
       jeder kellnern kann?
       
       Umgekehrt denken sich die Unternehmen: Warum ausbilden, wenn sich schon
       jemand findet, der den Job erledigt? „Wir werben bei den Unternehmen aber
       immer dafür, sich lieber den eigenen Nachwuchs heranzubilden“, betont
       Schwarz. Die Unternehmensbindung sei bei den Azubis deutlich höher, „eine
       schnell angeheuerte Hilfe zieht eher weiter in den nächsten Betrieb, wenn
       es da 20 Cent mehr die Stunde gibt“.
       
       Der Attraktivität der Branche tut das aber natürlich nicht gut. Wenn man
       später als Fachkraft mit ungelernten Kräften konkurriert, die im Zweifel
       auch für weniger Geld arbeiten, sind das wenig attraktive Aussichten.
       
       ## „Nicht bloß ein Putzlappen“
       
       Mit dem Imageproblem kämpfen auch die GebäudereinigerInnen, die Branche, in
       der sich Vivien Pankatz ausbilden lässt. Ihr Chef, Christian Heistermann,
       arbeitet seit Jahren dagegen an.
       
       Heistermann will, dass in seiner Branche die Meisterpflicht wieder
       eingeführt wird. Die Gebäudereinigerinnung jedoch sieht das anders: Weil
       damit auch die einfache Unterhaltsreinigung „nach Hausfrauenart“ wieder
       unter die Meisterpflicht fallen würde, müssten über die Hälfte der Betriebe
       die Innung verlassen, schätzt Bundesgeschäftsführer Johannes Bungart.
       
       Dann aber hätte man nicht mehr die Mehrheit der Beschäftigten hinter sich
       und verliere zum Beispiel das Recht, den Branchen-Mindestlohn zu
       verhandeln. Der liegt bei 10,30 Euro, also deutlich über dem gesetzlichen
       von derzeit 8,84 Euro. „Sozialpolitisch ist uns ein fairer Mindestlohn mehr
       wert als die Meisterpflicht“, sagt Bungart.
       
       Heistermann findet wiederum, mit dieser Haltung nehme die Innung den
       „Qualitätsverfall in unserem Handwerk“ billigend in Kauf: „Alle glauben
       doch, den Job kann Hinz und Kunz machen.“ Das sei fatal, denn zum einen
       stimme es nicht: Zum Job gehörten auch der richtige Umgang mit Chemikalien,
       Kenntnisse der Umweltschutzauflagen oder der richtigen Desinfektion im
       Krankenhaus. Und natürlich wollten die Jugendlichen „nicht bloß ein
       Putzlappen sein, wer soll sich denn mit damit identifizieren?“
       
       ## Tatortreiniger, Fassadenkletterer
       
       Also hat Heistermann sich überlegt, was junge Leute wollen könnten: Auf
       seiner Webseite wirbt er mit Fassadenklettern („Ein Beruf für alle, die
       hoch hinaus wollen“) und seinem Spezialgebiet, der Tatortreinigung:
       Blutflecke wegschrubben im Ganzkörperschutzanzug, fast so wie im „Tatort“
       und bei den Crime-Serien auf Netflix. „Jeder Einsatz ist ergreifend“, wirbt
       Heistermann, in den USA boome „das Geschäft mit dem Blut“.
       
       „Natürlich hauen wir auf die Kacke“, sagt der Gebäudereiniger. Aber dafür
       habe man dieses Jahr eben auch 20 BewerberInnen auf sechs Ausbildungsplätze
       gehabt. „Es gibt viele Firmen in der Branche, die haben überhaupt keine“,
       sagt der Chef des Hellersdorfer Meisterbetriebs mit 41 MitarbeiterInnen.
       
       Dass seine Firma zudem so illustre Orte wie die Panoramaetage des
       Fernsehturms putzt, dürfte ihm ebenfalls ein paar Bewerbungen verschaffen.
       Auch Vivien Pankatz hat Heistermann mit Tatortreinigung und Fernsehturm
       locken können: Zum ersten Mal eine Abiturientin, darauf ist er stolz.
       Pankatz sagt, sie habe im Internet nach ungewöhnlichen Berufen gegoogelt.
       Tatortreinigung klang ungewöhnlich genug: Abenteuer Ausbildung.
       
       Normalerweise haben Heistermanns BewerberInnen einen Haupt- oder gar keinen
       Schulabschluss. Heistermann sagt zwar, die Fünf in Mathe interessiere ihn
       als Praktiker erst mal nicht – „auch wenn die Lehrer in der Berufsschule
       das natürlich anders sehen“ –, aber es brauche für die Zukunft der Branche
       auch Leute wie Vivien Pankatz. „Die vielleicht nach der Ausbildung noch
       studieren gehen und dann selbst an der Berufsschule ausbilden oder einen
       Betrieb führen können.“
       
       ## Mangel als Chance
       
       Tatsächlich ist die Mangelwirtschaft also auch eine Chance für alle
       Beteiligten. Weil es viele Unternehmen zwingt, in die kreative Offensive zu
       gehen beim Kampf um Azubis – und es sie zwingt, offener auf den Nachwuchs
       zuzugehen, der da kommt.
       
       Der Schulabschluss? Auch für ihn inzwischen zweitrangig, sagt Dieter
       Mießen, von der Reinickendorfer Tiefbaufirma Frisch und Faust. Der
       kaufmännische Leiter des mittelständischen Unternehmens, 150
       MitarbeiterInnen, Jahresumsatz 18 Millionen Euro, hatte dieses Jahr 12
       Azubi-Plätze im Tiefbaubereich zu vergeben. 60 Bewerbungen landeten auf
       seinem Tisch. „Ein absoluter Spitzenwert“, versichert Mießen.
       
       Doch der Aufwand, den die Firma dafür treibt, ist hoch: 40 Akquisetermine
       auf Azubi-Messen und Infoveranstaltungen pro Jahr, die Firma umgarnt den
       Nachwuchs mit 30 Tagen Urlaub, einem jungen Team und einer tariflichen
       Ausbildungsvergütung von 793 Euro im ersten Lehrjahr. Die Arbeitskleidung
       ist selbstverständlich inklusive.
       
       Mießen erzählt von Bewerbungsgesprächen, wo die Jugendlichen eine
       Viertelstunde brauchen, um 12 mal 12 auszurechnen und viele auch an 10 mal
       10 noch scheitern. Formal haben die meisten die Berufsbildungsreife,
       „tatsächlich müssen wir da aber erst mal elementare Grundkenntnisse
       nacharbeiten“, sagt Mießen.
       
       Die Firma arbeitet deshalb mit ehrenamtlichen Mentoren zusammen, die mit
       den Jugendlichen üben, wie man das Volumen einer Baugrube ausrechnet.
       Mießen sagt: „Als Wirtschaft können wir nicht damit zufrieden sein, was uns
       Schule in Berlin da liefert. Aber trotzdem müssen wir natürlich überlegen,
       wie wir diese Jugendlichen integrieren.“
       
       „Was“, fragt Mießen, „bleibt uns denn auch übrig?“
       
       19 Sep 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Klöpper
       
       ## TAGS
       
   DIR Ausbildung
   DIR Fachkräftemangel
   DIR Azubis
   DIR Handwerk
   DIR Konjunktur
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Steuergelder
   DIR Minijob
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Konjunktur-Voraussagen für 2019: Das Problem mit den Prognosen
       
       Drei Wirtschaftsinstitute haben ihre Analysen für 2019 vorgestellt – und
       kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Wie ist das möglich?
       
   DIR Schwerpunktthema Ausbildung: Vom Flüchtling zum Lehrling
       
       Bei vielen Berliner Betrieben sind Geflüchtete als Azubis durchaus gefragt.
       Aber nicht selten scheitert ihre Ausbildung an der Ausländerbehörde.
       
   DIR Vergabe öffentlicher Aufträge: Wie viel darf gute Arbeit kosten?
       
       Rot-Rot-Grün will das Vergabegesetz überarbeiten. Die Linkspartei streitet
       dabei über die Höhe des Mindestlohns.
       
   DIR Zahlen zu Folgen des Mindestlohns: Löhne nicht mehr ganz so ungleich
       
       Der Mindestlohn lohnt sich endlich auch für Geringverdiener*innen. Viele
       bleiben aber in prekären Verhältnissen gefangen.