URI: 
       # taz.de -- Kolumne Immer bereit: Das ist das Mütterwissen
       
       > Babies sind wie kleine Taschenspiegel, die der Narzisst jederzeit im
       > Kinderwagen vor sich herschieben kann.
       
   IMG Bild: „Man kommt sich so wertvoll vor, wenn man für ein Baby sorgen darf“
       
       Nachts halb eins vonna Lesung nach Hause. So lange war ich ewig nicht mehr
       draußen. So lange bin ich normalerweise nicht mal mehr wach. Ich trinke
       auch keinen Alkohol mehr. Heute hatte ich ein kleines Bier. Hui!
       
       Schönhauser Allee/Ecke Sredzkistraße ist die Ampel neu geschaltet.
       Fußgänger haben grün, Radfahrer rot, irgendein Pfeil leuchtet. Ich bin
       verwirrt und bremse.
       
       „Nich bei rot fahren!“, verarscht mich eins der Hipsterkinder, die sich im
       Rotlicht der Ampel zusammengerottet haben. Er selbst mit Dutt hinten am
       Kopf und Brille vorne, gaukelt mir auf einer Schrottscheese von Fahrrad auf
       der falschen Seite entgegen. Über den Fußgängerweg. Vor einem fahrenden
       Auto.
       
       Die Kinder grinsen doof. Manno!
       
       ## Nun bin ich Mutter
       
       Ich wohne zurzeit in einem Kaff im Schwarzwald. Da sind nach Einbruch der
       Dunkelheit ausschließlich Katzen auf der Straße. Laut sage ich: „Du bist
       noch nie überfahren worden, ne?“ und lächle milde.„Ich lebe ja noch“,
       flötet er und wendet sich ab. Krass, denke ich, nu biste die alte Tante!
       
       Vor einem Jahr hätte ich auch noch jede Ampel bei rot genommen. Da hab ich
       aber auch noch Alkohol vertragen, nachts durchgeschlafen und war nur für
       meine eigene läppische Existenz verantwortlich. Nun bin ich Mutter. Ein
       Mensch ist von mir abhängig, ein winzig kleiner, der weder laufen noch
       sprechen kann. Deswegen ist mein Leben mehr wert.
       
       „Das ist doch Quatsch!“, ruft mein Kleinhirn von hinten im Kopf. „Dein Baby
       könnte von jedem anderen aufgezogen werden. Es gibt Kinder, die wurden von
       Wölfen gesäugt.“
       
       In Wahrheit ist es doch so, dass so ein Baby ein unfassbarer Egobooster
       ist. Es freut sich immer, einen zu sehen, stellt keine Ansprüche, ist kein
       bisschen nachtragend, ist unfassbar niedlich und riecht selbst nach dem
       Kotzen noch gut.
       
       Mit Staunen hab ich früher immer beobachtet, wie aus den aufgescheuchten
       Hühnern unter meinen Freundinnen stabile, in sich ruhende Persönlichkeiten
       wurden, sobald sie ein Baby bekamen. Jetzt weiß ich, wie sich das von innen
       anfühlt.
       
       Man kommt sich so wertvoll vor, wenn man für ein Baby sorgen darf. Alles
       andere ist plötzlich egal. Abgesehen davon ist man ständig müde und wirkt
       schon deshalb immer ein bisschen druff. Deshalb stört einen der Lärm auch
       nicht, den die Gören verursachen.
       
       ## Früher war ich empfindlich
       
       Was hab ich mich früher geärgert, wenn die Leute am Nebentisch im
       Restaurant ihre Filiusse nicht unter Kontrolle hatten. Heute verstehe ich,
       sie waren einfach froh, dass die Kinder nicht weinten, und konnten gar
       nicht verstehen, was an dem bisschen rumrennen und Teller durch die Gegend
       schmeißen so anstrengend sein sollte. Das ist das Mütterwissen, dass Kinder
       noch ganz anders anstrengend sein können.
       
       Früher war ich empfindlich. Heute habe ich es nicht mal mehr eilig. Wozu
       auch? Ich brauche nichts. Ich habe alles, was ich immer wollte. Ich bin
       immer glücklich. Egal wo ich bin. Selbst, wenn ich vor Erschöpfung anfange
       zu heulen, bin ich eigentlich total glücklich.
       
       Wahrscheinlich ist es einfach das: Ich bin in Liebe. Aber nicht diese
       Sexjunkieliebe, wo man jede Sekunde, die man nicht in dem anderen drin oder
       wenigstens an ihm dran ist, an Entzugserscheinungen leidet. Mit einem Baby
       ist man verschmolzen. Die ganze Zeit. Es kann sich nicht dagegen wehren.
       
       Das ist das Tolle an Babys. Sie erwidern deine Liebe. Sie wissen es nicht
       besser. Sie sind wie kleine Taschenspiegel, die der Narzisst jederzeit im
       Kinderwagen vor sich herschieben kann. Soviel Bestätigung kriegst du nie
       wieder im Leben. Zumindest, bis aus den niedlichen Taschenspiegelchen
       arrogante Hipsterkinder geworden sind, die dich nur noch verarschen.
       
       Aber da steh’ ich drüber. Ick alte Tante.
       
       16 Sep 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lea Streisand
       
       ## TAGS
       
   DIR Kolumne Immer bereit
   DIR Heult doch!
   DIR Mütter
   DIR Baby
   DIR Buch
   DIR Debütroman
   DIR Pioniere
   DIR Kolumne Immer bereit
   DIR Mutterschaft
   DIR Erziehung
   DIR Muttertag
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kolume Immer bereit: Buch + Baby = Schuldgefühle
       
       Bücher schreiben ist nicht wie Urlaub. Schon gar nicht, wenn ein Baby lockt
       und der Vater gern wieder arbeiten will.
       
   DIR Debütroman „Milchzähne“: Auf der anderen Seite
       
       Die 25-jährige Autorin Helene Bukowski beschreibt eine verrohte Welt. Sie
       erzählt geschickt, wie Menschen zu Fremden gemacht werden.
       
   DIR Kolumne Immer bereit: Pioniere mit Löchern im Herzen
       
       Bei der Recherche für ihren neuen Roman taucht die Kolumnistin in
       spätrealsozialistische Erinnerungen ab.
       
   DIR Kolumne Immer bereit: Die All-Macht des Autofahrers
       
       In seinem Auto ist der Deutsche unbesiegbar. Scheiß auf Radfahrer,
       Fußgänger und anderes Gesocks. Doch das ist einfach asozial!
       
   DIR Feministin über ihr Leben als Mutter: „Ich habe mich isoliert gefühlt“
       
       Chronischer Schlafmangel und überzogene Erwartungen: Die Hamburger Autorin
       Rike Drust schreibt über das Muttersein – auch über die Schattenseiten.
       
   DIR Abgebrochene Mutter-Kind-Kur: Holt mich hier raus!
       
       Mutter-Kind-Kuren versprechen Erholung. Aber manchmal sind die anderen
       Mütter dort die Hölle. Ein Erfahrungsbericht zum Muttertag.
       
   DIR Gedanken zum Muttertag: Immer schön locker bleiben
       
       Es ist der zweite Muttertag, seit ich ein Kind bekommen habe. Was bin ich
       denn jetzt? Raben-, Helikopter- oder Insta-Mom?