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       # taz.de -- Milo Rau am Nationaltheater in Gent: „Klassiker verboten!“
       
       > Regisseur Rau schlug eine Intendanz am Züricher Schauspielhaus aus und
       > geht nach Belgien. Ein Gespräch über Homophobie und die Banalität des
       > Bösen.
       
   IMG Bild: Milo Rau (l.) mit dem Kunststudenten Bilal Alnouri vor einer Reproduktion des Genter Altars
       
       Café Einstein im Berliner Hauptbahnhof. Am Vorabend hat die Berliner
       Schaubühne die Spielzeit mit [1][Milo Rau]s „Die Wiederholung“ eröffnet. Es
       ist Sonntag, 8.45 Uhr. Rau hat wenig geschlafen. Um 9.45 Uhr geht sein Zug. 
       
       taz am wochenende: Herr Rau, Sie haben sich gegen eine Intendanz als
       künstlerischer Direktor am Schauspielhaus Zürich und für eine am belgischen
       Nationaltheater in Gent entschieden, warum? 
       
       Milo Rau: Flandern hat ein sehr viel offeneres Theatersystem als die
       Schweiz oder Deutschland. Bei uns regiert das Stadttheaterprinzip: feste
       Ensembles plus Repertoire. Der Technikapparat ist wegen der sehr eng
       getakteten Arbeitspläne oft unfähig, auf neue Ansätze zu reagieren. Touring
       ist unmöglich.
       
       Und das ist im belgischen Gent anders? 
       
       Es ist nicht alles perfekt, aber freie Szene und Stadttheater gehören hier
       zusammen. Unser Ensemble besteht aus Profis, Laien, Tänzern, aus Menschen
       vieler verschiedener Milieus und Länder. Wir vereinbaren Einzelverträge zu
       einem oder mehreren Stücken, und die spielen wir international: eine
       Staffel Aufführungen vor Ort, dann touren wir. Die Schauspieler sind nicht
       in zehn verschiedene Aufführungen über den Monat verstreut eingebunden. Das
       schafft Freiheiten bei der Programmierung, aber auch eine andere
       Identifikation mit den Stücken. Der Schauspieler ist in Flandern ein
       Künstler, der mitdenkt. Der Ballast der Vergangenheit ist viel geringer.
       Den Theater-Kanon Flanderns kannst du an einem Nachmittag lesen. Da musst
       du dir deine Klassiker selbst schreiben.
       
       Sie, und dazu noch als Schweizer, hatten wirklich keine Lust, das pompös
       ausgestattete Zürcher Schauspielhaus zu übernehmen? 
       
       Es war keine leichte Entscheidung, Zürich ist ja meine Heimat. Aber die
       Vorstellung, dort den zweiten Marthaler oder Schlingensief zu geben und den
       übersättigten Kleinbürgern zum Fraß vorgeworfen zu werden, fand ich nicht
       sehr verlockend. (Lacht) Es ist zu früh, dass meine ausgeweideten Knochen
       den Zürichsee hinunterschwimmen. In zehn Jahren dann.
       
       Was ist denn die Verkehrssprache im Theater in Gent, Englisch? 
       
       Die meisten sprechen Flämisch mit mir. Ich versteh’s, kann aber nur
       radebrechend antworten. Ich greife meistens aufs Englische, Deutsche oder
       Französische zurück.
       
       Für [2][„Five Easy Pieces“, Ihre Inszenierung zum Fall des Mörders und
       Sexualstrafttäters Dutroux], wurden Sie international gefeiert. Nun,
       aktuell in „Die Wiederholung“, geht es um den Mord an dem Homosexuellen
       Ihsane Jarfi in Lüttich 2012. Was verbindet die beiden Kriminalstücke? 
       
       Beides sind Theater-Essays. Bei „Five Easy Pieces“ ging es konkret um die
       Beziehung von Regie und Schauspiel: Wo hört das Spiel auf, wo beginnt der
       Missbrauch? Alles vor dem Hintergrund des Themas Pädophilie. In [3][„Die
       Wiederholung“] geht es um die Darstellbarkeit von Gewalt – und um die
       Beziehung von Laien und professionellen Darstellern.
       
       Sie zitieren in „Die Wiederholung“ den Hannah-Arendt-Satz von der
       „Banalität des Bösen“, warum? 
       
       Es geht um die banale Zufälligkeit, die einen zum Opfer oder eben zum Täter
       macht. Die also sehr wörtliche „Banalität“ des Bösen war auch das Thema von
       „Five Easy Pieces“. Sie bilden zusammen mit meiner [4][Pasolini-Adaption
       „Die 120 Tage von Sodom“] eine Trilogie zur Frage der Darstellung von
       Gewalt auf der Bühne. Auch bei [5][„Hate Radio“, einem Stück, in dem es um
       den Völkermord in Ruanda ging], haben mich diese Grenzbereiche
       interessiert: Wie kann ein völlig gewöhnlicher Mensch sich in einen
       bestialischen Mörder verwandeln? Warum bringen drei Leute ohne Grund einen
       ihnen unbekannten Homosexuellen in Lüttich um?
       
       Der Fall Dutroux erschütterte die gesamte belgische Gesellschaft. Wie kamen
       Sie auf den Mordfall Ihsane Jarfi? 
       
       Sébastien Foucault, einer der Schauspieler, hat das Verfahren gegen die
       Mörder mitverfolgt. Eigentlich wollten wir ein anderes Stück machen, über
       sein Kind, das direkt nach der Geburt gestorben ist. Wir haben lange
       darüber gesprochen und uns am Ende für die Geschichte aus Lüttich
       entschieden. In der „Wiederholung“ gibt es eine für uns sehr wichtige
       Szene, in der die Eltern von Jarfi auf eine Nachricht ihres Sohnes warten –
       der aber bereits tot ist.
       
       Wie haben Sie und Ihr Team recherchiert? 
       
       Zufällig hat einer der Anwälte, der auch im [6][„Kongo Tribunal“] auftritt,
       Jean-Louis Gilissen, einen der Täter verteidigt. Und dann waren wir eng mit
       vielen der Protagonisten in Kontakt: den Eltern von Jarfi, seinem
       Ex-Freund. Einen der Täter haben wir im Gefängnis getroffen, auf seiner
       Aussage beruht die Darstellung des Mordes in der Autoszene. Beim Casting
       der Laiendarsteller haben wir viel über die Region erfahren, über das
       Trauma von Lüttich und den industriellen Niedergang der Region.
       
       Was will uns der Titel „Die Wiederholung“ sagen? 
       
       Es geht um eine „Wieder-Holung“ im existenziellen Sinn, mein Stücktitel ist
       ja ein Buchtitel des dänischen Philosophen Kierkegaard. Man wiederholt, man
       durchquert etwas, um es zu verstehen. Deshalb war mir die totale
       Sinnlosigkeit des Falls so wichtig: dass eben keine leichte Begründung –
       wie eine private Hassgeschichte – zugänglich ist.
       
       Sie lassen den Mord auf der Bühne darstellen, aber es findet sich kaum eine
       rationalisierbare Deutung für diesen. Warum nicht? 
       
       Im Grunde passiert die ganze „Wiederholung“ in dieser Szene mit dem Auto.
       Einer der Täter sitzt zwanzig Minuten auf dem Beifahrersitz und tut gar
       nichts. Als ich ihn im Gefängnis traf, sagte er: „Ich hätte bei meiner
       Freundin bleiben und nicht betrunken noch einmal losziehen sollen.“ Mehr
       fällt ihm dazu nicht ein. Komplett banal. In den belgischen Medien wurde
       ein „Hate Crime“ daraus gemacht, sogar die Gesetze wurden geändert: Wenn
       heute jemand aus Hass-Motiven mordet, lautet die Anklage automatisch auf
       „lebenslänglich“, und das ist auch richtig so. Doch die Täter von Lüttich
       waren so homophob wie die halbe belgische Gesellschaft, wenn sie unter
       Alkoholeinfluss steht. Das ist die Dimension von „Banalität“, die mich
       interessiert – nicht die Monströsität des Einzelnen.
       
       „Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu
       verändern. Nicht die Darstellung des Realen ist das Ziel, sondern dass die
       Darstellung selbst real wird“, heißt es in Ihrem [7][Genter Manifest],
       welches Sie der Spielzeiteröffnung in Gent vorausschicken. Klingt – nach
       gefühlt tausend Naturalismus- und Realismusstreiten in der Kunst – 2018
       nach einer Selbstverständlichkeit? 
       
       Ihr Wort in Gottes und Intendantenohr. (Lacht) Mir geht es darum, unsere
       Bühnen wieder für theaterferne Geschichten und Protagonisten zu öffnen.
       Stadttheater heißt doch nach wie vor, artistische Spielchen mit
       Klassikervorlagen zu treiben. In Gent haben wir gesagt: Schluss mit den
       ewig gleichen Instant-Adaptionen, jetzt wird das Ensemble geöffnet! Jetzt
       wird das Nachspielen von Klassikern einfach mal verboten! Das NTGent ist ja
       das Traditionshaus Flanderns, seit Monaten gibt es hitzige Debatten, das
       ging bis ins Parlament. Wohin das führt, werden wir sehen.
       
       Wie ist das, wenn Sie auch mit Laiendarstellern arbeiten, die keine
       klassische Schauspielausbildung haben. Werden die so zu Profis quasi auf
       dem zweiten Bildungsweg? Oder sind es Originale aus dem Volk, Stars für
       eine Nacht, die dann wieder verschwinden, obwohl sie großartig gespielt
       haben? 
       
       Ob Laie oder Profi, ich arbeite nur mit Leuten zusammen, die etwas zu sagen
       haben. In der „Wiederholung“ stehen Schauspielstars mit Laien auf der
       Bühne. Aber ob nun erster oder gar kein Bildungsweg: Sie sind dabei, weil
       sie hervorragende Darsteller sind. Das sind natürlich sehr lange
       Auswahlprozesse, man muss Zeit haben und offen sein. Ich habe nicht gesagt:
       Ich brauche für „Die Wiederholung“ einen Gabelstaplerfahrer. Sondern ich
       habe nach Personen gesucht, die eine Präsenz auf der Bühne haben. Und
       zufällig bin ich dann auf diesen arbeitslosen Maurer und Gabelstaplerfahrer
       getroffen.
       
       „Drittens. Die Autorschaft liegt vollumfänglich bei den an den Proben und
       der Vorstellung Beteiligten, was auch immer ihre Funktion sein mag – und
       bei niemandem sonst.“ Klingt Regel Nummer drei Ihres Manifests nicht auch
       ein wenig nach Selbstbetrug des Autors Milo Rau angesichts der
       Inszenierungspraxis? 
       
       Es steht natürlich der Wunsch dahinter, dass alle mitdenken, von Anfang an.
       Dass nicht einfach ein paar Profis Texte und Konzepte adaptieren, die sich
       andere ausgedacht haben. Warum soll man dann zusammenarbeiten? Was ist dann
       der Sinn eines Begriffs wie „Ensemble“? Unser Manifest will mit der ewigen
       Rede von einem „demokratischen Theater“ Ernst machen. Ein globaler Ansatz
       kann ja nur dann wahrhaftig sein, wenn er sich aus vielen Perspektiven
       zusammensetzt.
       
       Aber der Regisseur sind Sie schon noch? 
       
       Ja, klar. Aber spielen tun nun mal die Schauspieler, beleuchten tun die
       Lichtdesigner, die Bilder macht ein Kameramann. Und so weiter. Theater ist
       eine kollektive Kunstform.
       
       16 Sep 2018
       
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       ## AUTOREN
       
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