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       # taz.de -- Sozialpsychologe über Rechte in Chemnitz: „Durchbruch der Jagdstimmung“
       
       > Die Enthemmung in Chemnitz und Seehofers Äußerungen über Geflüchtete –
       > für den Sozialpsychologen Klaus Ottomeyer gehört beides eindeutig
       > zusammen.
       
   IMG Bild: „Es ist die Regel, dass sich diese Täter als Opfer fühlen“, sagt Sozialpsychologe Klaus Ottomeyer
       
       taz: Herr Ottomeyer, Tausende Menschen sind am Sonntag- und Montagabend
       fröhlich [1][auf Menschenjagd durch die Chemnitzer Innenstadt gezogen],
       haben vor Polizeibeamten den Hitlergruß gezeigt, Flaschen und Böller
       geworfen. Bekommen Menschen in so einem Mob das Gefühl, Gestalter ihrer
       eigenen Geschichte zu sein? Welche Mechanismen der Enthemmung kommen da zum
       Tragen? 
       
       Klaus Ottomeyer: Es ist so ein sehr verqueres Gefühl dabei, jetzt machen
       wir Geschichte, jetzt nehmen wir die Dinge in die Hand, buchstäblich. Aber
       insgesamt ist die Gefühlslage wahrscheinlich noch problematischer.
       
       Nämlich wie? 
       
       Es ist wahrscheinlich so, dass es in vielen Menschen, auch in Ihnen und in
       mir, einen Teil gibt, der lustvoll-sadistisch bereit ist, andere Menschen
       zu quälen. Klaus Theweleit hat darüber ein Buch geschrieben, „Das Lachen
       der Täter“. Fast alle Täter, die im Auftrag irgendeiner historischen
       Mission zu handeln meinen, wenn sie Menschen jagen, lächeln dabei. Bei dem
       norwegischen Massenmörder Breivik war das so, bei den Killern in Ruanda und
       auch bei den Nazitruppen.
       
       Es gibt aber interessanterweise Theorien, die das Gegenteil sagen, etwa die
       über die Banalität des Bösen, in der das Töten von Menschen als unangenehme
       Pflicht hingestellt wird. Insbesondere Männer, wenn sie erst mal dabei
       sind, empfinden aber Allmachts- und Lustgefühle dabei.
       
       Welche Rolle spielt die Tatsache, dass sich der Mob in Chemnitz als Opfer
       inszeniert hat? 
       
       Das ist sogar die Regel, dass sich diese Täter als Opfer fühlen. Denken Sie
       an die Novemberpogrome 1938, die sogenannte Kristallnacht. Da hat man auch
       einen Mord, den ein verzweifelter jüdischer junger Mann an einem deutschen
       Diplomaten in Paris begangen hat, zum Anlass genommen.
       
       Solche Taten werden instrumentalisiert, ob sie nun tatsächlich
       stattgefunden haben oder nicht. Auch die Behauptung, dass das Opfer einer
       solchen Gewalttat eine Frau beschützen wollte, ist sehr typisch. Darauf
       folgt dann eine rauschhafte Inszenierung, wo die Männer behaupten, sie
       wollten ihre Frauen und Kinder schützen.
       
       Geht es bei solchen Protesten dann auch darum, die Kontrolle
       zurückzugewinnen? Und welche Rolle spielt es, dass ein Bundesinnenminister
       Horst Seehofer die Flüchtlingspolitik Merkels als [2][„Herrschaft des
       Unrechts“ bezeichnet] hat? 
       
       Das ist eine wichtige Legitimation. Die halbzivilisierten
       Pauschalbeschuldigungen gegenüber den Flüchtlingen und auch die Fantasie,
       das man Opfer eines Unrechts geworden ist – das hat Herr Seehofer im Grunde
       gesagt: Uns geschieht Unrecht. Das setzt dann die Restbestände des
       Über-Ich, die die meisten ja doch noch haben, weiter außer Kraft. Der
       lustvoll-sadistische Teil blitzt aber auch manchmal in den Äußerungen der
       Politiker hervor.
       
       Die Äußerung von Seehofer, dass ihm zu seinem 69. Geburtstag ausgerechnet
       das Geschenk beschert worden sei, dass 69 Menschen nach Afghanistan
       deportiert worden seien, was lustig gemeint war – an so einem Punkt merkt
       man, dass die Abschiebung, die ja doch etwas Tragisches ist, als lustvoll
       empfunden wird. In den dummen Witzen kommt es heraus. Das macht den
       Durchbruch der Jagdstimmung auf breiter Front leichter, das gehört
       zusammen.
       
       Die Pogrome insbesondere in Ostdeutschland haben ja fast 30 Jahre
       Tradition. Wie kann man da von außen noch eingreifen, wenn sich so ein
       Milieu verfestigt hat? 
       
       Erstmal muss man strafrechtlich intervenieren. Denn wenn man das nicht
       macht, wird es nur noch schlimmer. Aber man kann das auch in Schulen und
       Bildungseinrichtungen besprechen. Man darf dabei nur nicht den erhobenen
       Zeigefinger benutzen. Man muss sagen, dazu sind Menschen nun mal in der
       Lage und man muss darüber sprechen, wie das kontrolliert werden kann. Und
       man muss darüber reden, was das zu tun hat mit einem Konzept von
       Beschützer-Männlichkeit.
       
       Wir haben ja überall in der Welt diese Rückkehr der bedrohlichen Männer, im
       Westen als Figuren wie Trump, wie auch in der islamistischen Variante, die
       die Frauen und Kinder retten wollen vor der Dekadenz der westlichen Kultur
       und der Anpassung. Die männliche Retterfantasie wird leicht bösartig. Aber
       warum müssen Männer sich so fantasieren? Warum müssen sie ihren Körper mit
       Training und Hormonen stählen, wo einem das im wirklichen Leben doch gar
       nichts hilft? Das ist eine Antwort auf die als bedrohlich empfundene
       Gleichstellung.
       
       Soll ich mich als demokratisch engagierter Bürger dem Mob entgegenstellen,
       wenn ich gleichzeitig davon ausgehen kann, dass etwa [3][in Sachsen viele
       Polizisten auch ganz gern bei den Nazis] demonstrieren würden? 
       
       Auf der Straße ist das äußerst schwierig. Jeder, der hier Zivilcourage
       zeigt, ist zu loben. Und große Demonstrationen helfen gegen die
       Extremisten. Aber sie können Politik und Polizei nicht ersetzen.
       
       29 Aug 2018
       
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