URI: 
       # taz.de -- Dokumentartheater über Obdachlosigkeit: Die Angst schläft mit
       
       > Für das Berliner Ensemble hat Karen Breece über Obdachlosigkeit
       > recherchiert. Auf die Bühne bringt sie nicht nur Schauspieler, sondern
       > auch Betroffene.
       
   IMG Bild: Erzählen vom Leben auf der Straße: René Wallner, Bettina Hoppe, Psy Chris, Alexandra Zipperer, Nico Holonics (v.l.)
       
       Schlafen lässt sich fast überall. In Hauseingängen, an Bushaltestellen und
       natürlich auf Straßenbänken. Auf der Bühne des Berliner Ensembles sind
       diese Bänke in verschiedenen Modellen und bunten Farben aufgebaut. Die aus
       Plastik mit breiten Rillen schonen sogar die Hüfte und den Rücken, sagt
       René und demonstriert, wie er sich sein Bett aufbaut: Isomatte, darunter
       eine Matte gegen Schmutz, Schlafsack, eine zusammengerollte Decke als
       Kopfkissen, fertig. „Morgens verschwindet alles wieder in meiner Tasche.“
       
       Dass er obdachlos ist, soll man ihm nicht ansehen. Würde zu wahren braucht
       auf der Straße Talent und Willen, „aber ich bin gut organisiert“.
       
       Der trockene feine Witz, mit dem er erzählt, sticht heraus, und wie er
       versucht, den Schein zu wahren, erobert an diesem Abend schnell die
       Sympathie des Publikums.
       
       „Auf der Straße sein ist Krieg“, heißt es einmal. Doch vordergründig ist es
       organisatorische Schwerstarbeit, diszipliniert zu bleiben, nicht zu
       verwahrlosen oder unterzugehen. Davon erzählt der Dokumentartheaterabend,
       mit dem das Berliner Ensemble in die Spielzeit gestartet ist. Die Premiere
       lag noch vor der „Parallelwelt“, der digitalen Vernetzung zweier
       Theaterproduktionen.
       
       Das ist ein kleines politisches Zeichen angesichts der Wohnungsnot und der
       drastisch steigenden Mieten in Berlin. Früher lebten hauptsächlich
       psychisch Kranke auf der Straße, erfährt man aus dem Programmheft. Heute
       bleibt immer mehr Hartz-IV-Empfängern keine andere Wahl.
       
       Aber „Auf der Straße“ ist kein anklagender Abend geworden, auch kein
       bitterer. Karen Breece hat sich als Dokumentartheater-Regisseurin einen
       Namen gemacht und für das Projekt akribisch recherchiert. Thematisch reißt
       sie vieles an: Armut, Obdachlosigkeit, soziale Verelendung und
       Ungerechtigkeiten, bei denen einem der Hut hochgehen könnte, wenn man es
       darauf anlegt.
       
       ## Morgens, mittags, abends
       
       Drei ihrer Gesprächspartner spielen mit auf der Bühne. Neben René noch
       Alexandra, die zwar eine Wohnung hat, aber von monatlich 70 Euro ihr Leben
       bestreiten muss. Und Psy Chris, der mit 14 aus dem Heim ausriss und zehn
       Jahre lang auf der Straße lebte. Mit ihnen stellen die BE-Schauspieler
       Bettina Hoppe und Nico Holonics kleine Frage-Antwort-Spiele nach, die sich
       an den Tageszeiten orientieren: morgens, mittags, abends, alles
       Herausforderungen, wenn man auf der Straße lebt.
       
       Breece versucht ehrenwert, möglichst viel Theater herauszuholen. So hat sie
       sich eine karussellrunde Bühne bauen lassen, die wie ein Glücksrad
       angeschoben wird. Der Laien-Chor „Different Voices of Berlin“ mischt sich
       unter die Spieler, singt davon, nicht wegzuschauen. Und die beiden
       Schauspieler fallen immer wieder in Wutausbrüche. Sie haben ja recht, aber
       ihre Wut bleibt Behauptung. Der Abend zerfranst in zu viele Einzelszenen.
       
       Stark ist eine Modenschau mit Schlafsäcken, Wärmedecken und Isomatten.
       Großstädtischer radikal chic, den die Spieler trotzig wie auf dem Catwalk
       zeigen. Im echten Leben würde der Look ganz sicher Aufmerksamkeit erregen.
       Aus dem Elend einfach Profit schlagen? Warum nicht, wenn man nichts zu
       verlieren hat. Mehr solcher Ideen erfindet der Abend aber nicht. Breece
       will die Realität sprechen lassen und fällt immer wieder in
       Schauspiel-Fiktion. Künstlichkeit legt sich über die Dringlichkeit des
       Themas.
       
       Jeder Dokumentartheaterabend ist am Ende so gut wie seine Protagonisten,
       die ein Stück weit durch ihr Leben führen. Mit viel Aufwand, aber
       grundehrlich nimmt einen „Auf der Straße“ mit, erzählt suggestiv, wie
       schnell es jeden treffen kann. Wie Behörden und Ämter einen bürokratisch
       als Bittsteller behandeln, statt einfach ihren Job zu tun. Jeder Gang zur
       Tafel gleicht einem emotionalen Spießrutenlauf, erfährt man, mit
       Schlangestehen für Schokolade, die im schlimmsten Fall seit zwei Jahren
       abgelaufen ist. Fakten, die einem nahegehen und aus denen doch kein
       richtiges Stück werden will.
       
       20 Sep 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Kaempf
       
       ## TAGS
       
   DIR Berliner Ensemble
   DIR Obdachlosigkeit
   DIR Dokumentartheater
   DIR Frank Castorf
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Schwerpunkt Armut
   DIR Reiseland Schweiz
   DIR Berlin-Neukölln
   DIR München
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Castorf-Premiere in Berlin: Melancholie und Raserei
       
       Frank Castorf inszeniert Brechts „Galileo Galilei“ am Berliner Ensemble.
       Dabei schneidet er Brecht und Antonin Artaud gegeneinander.
       
   DIR US-Linke nach der Finanzkrise: Bye-bye, Occupy
       
       Die Aktivisten von damals sind verschwunden. Und ihre Ideen? Was wurde aus
       der Bewegung? Eine Spurensuche im Süden Manhattans.
       
   DIR 25 Jahre Berliner Tafel: Rauf und runter Mensch
       
       Wo der Sozialstaat versagt: Die Berliner Tafel feiert am Sonntag ihren 25.
       Geburtstag. Zu Besuch in einer Ausgabestelle in Neukölln.
       
   DIR Stadtführung der besonderen Art: Der andere Blickwinkel
       
       Es gibt viele Orte in der Schweiz, wo man meist nicht hinkommt. Dorthin
       gehen die Stadtführungen von Surprise, einem Verein für Obdachlose.
       
   DIR Theater im Heimathafen Neukölln: Von Boateng bis zu Amüsemang
       
       Das Theaterkollektiv „Heimathafen Neukölln“ macht in Berlin Volkstheater.
       Seine Stücke sind so bunt wie der Bezirk selbst.
       
   DIR Dokumentartheater über Migration: Nie wieder Abstieg
       
       Jung, gebildet, arbeitslos: In den Münchner Kammerspielen erzählen
       Griechen, warum sie nach Deutschland ausgewandert sind.