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       # taz.de -- Arbeitsausbeutung in Hamburg: Zu wenig zum Fliehen
       
       > Er sollte 2.000 Euro im Monat verdienen, stattdessen bekam er fast
       > nichts: Maksym R. wurde Opfer von Arbeitsausbeutung, die System hat.
       
   IMG Bild: Auf dem Bau: Die Ausbeutung von Arbeitskräften aus dem Ausland ist hier verbreitet
       
       Hamburg taz | Im „[1][Lagebild für Menschenhandel und Ausbeutung]“ gibt das
       Bundeskriminalamt genau so einen Fall als Beispiel an: Eine in Deutschland
       und Osteuropa agierende Tätergruppe wirbt „Billigarbeitskräfte“ in
       Osteuropa an und entsendet sie an Bauunternehmen in Deutschland. Hier
       arbeiten die Osteuropäer unter dem Mindestlohn. Sie bekommen so wenig, dass
       sie kaum zu Essen haben, aber auch nicht genug Geld ,um auf eigene Kosten
       das Land zu verlassen. Wenn sie krank sind, bekommen sie gar nichts und die
       Arbeitgeber zahlen keine Sozialabgaben. So ungefähr ist es Maksym R.*
       passiert.
       
       „Die Anzeige habe ich im Internet gesehen“, erzählt der 40-jährige
       Ukrainer. In den sozialen Netzwerken, aber auch in Zeitungen habe eine
       Agentur damit geworben, Arbeitswilligen gut bezahlte Jobs in Deutschland zu
       vermitteln. Gegen eine Anmeldegebühr von 300 Euro versprachen die
       Arbeitsvermittler, ukrainische Staatsangehörige über Polen nach
       Deutschland zu bringen, wo sie 2.000 Euro im Monat verdienen sollten –
       legal, versteht sich. R. meldete sich an.
       
       Über Viper, das osteuropäische Whatsapp, trat er mit der Agentur in
       Kontakt, über Western Union überwies er die Gebühr. In Polen arbeitete er
       einen Monat, aber von 600 versprochenen Euro, die er dort bekommen sollte,
       sah er nichts. Stattdessen wurde er vertröstet – in Deutschland würde er
       das Gehalt bekommen. Mit einem anderen Mann, der über die gleiche Agentur
       angeheuert hatte, machte er sich auf den Weg – sie fuhren Zug, trampten,
       fuhren versteckt in einem LKW.
       
       In Hamburg nahm eine Frau sie in Empfang und brachte sie in eine Unterkunft
       in einem Keller, wo sie zu acht in einem 16-Quadratmeter-Zimmer schliefen.
       Am nächsten Tag wurden die Männer auf Baustellen und Lagerhallen verteilt.
       Dort schufteten sie acht bis zehn Stunden täglich.
       
       ## Dosensuppe oder Kartoffeln
       
       Nach ein paar Tagen bekam R. Geld, aber nur 240 Euro, noch als Nachzahlung
       aus dem Monat Arbeit in Polen. Davon abgesehen brauchten die Männer ihre
       eigenen finanziellen Reserven auf. Täglich sei „der Direktor“
       vorbeigekommen, sagt R. – so nennt er den Mann, der die Ukrainer überredete
       weiterzumachen. Manchmal habe er ihnen 20 Euro gegeben – für alle zehn
       Männer. Manchmal auch fünf Euro pro Person, damit sie sich eine Fahrkarte
       leisten konnten, um zur Arbeit zu fahren.
       
       Morgens tranken sie Tee und aßen Brot, abends kochten sie Dosensuppen oder
       Kartoffeln. „Ich habe den Direktor jeden Tag nach unserem Lohn gefragt“,
       sagt R. „Er hat mir oft Gewalt angedroht. Einmal sagte er, er würde mir den
       Kiefer brechen.“
       
       „Der Direktor“ heißt Oleg P. und bietet im Internet [2][Auftragsarbeiten
       für Trockenbau, Sanierungen und Maurerei] an. Die Staatsanwaltschaft
       ermittelt gegen ihn wegen „Arbeitsausbeutung“, so heißt der
       Straftatbestand. Aber das Verfahren läuft schleppend – gerade hat zum
       dritten Mal der zuständige Staatsanwalt gewechselt.
       
       Die Mitarbeiterin der Hamburger [3][Koordinierungsstelle gegen Frauenhandel
       (Koofra]), Katrin Kirstein, sieht darin ein strukturelles Problem. „Während
       es für sexuelle Ausbeutung eine spezialisierte Abteilung der
       Staatsanwaltschaften gibt, fehlt das für Fälle, in denen es um schwere
       Arbeitsausbeutung oder Zwangsarbeit geht“, sagt sie. Der Sprecher der
       Hamburger Staatsanwaltschaft, Carsten Rinio, bestätigt das indirekt: Der
       Fall von Maksym R. laufe unter „Wirtschaftskriminalität“ – ein weites Feld.
       Handelte es sich um Zwangsprostitution, wäre die Abteilung für organisierte
       Kriminalität und Rotlichtdelikte zuständig. Der Lagebericht des BKA listet
       im vergangenen Jahr bundesweit nur elf Verfahren wegen Arbeitsausbeutung.
       
       Maksym R. war verzweifelt, er suchte nach Auswegen. In einem Supermarkt
       lernte er einen Polen kennen, der ihn mit zu seinem Arbeitgeber nahm, einem
       Logistik-Dienstleister. Dessen Inhaber [4][Holger Landgrebe] hörte sich R.s
       Geschichte an und rief die Polizei. „Dass die Männer ausgebeutet wurden,
       war ziemlich offensichtlich“, sagt er.
       
       ## Geschäftsmodell: insolvente GmbH
       
       Landgrebe weiß, dass so etwas in seiner Branche häufig vorkommt. Er
       erklärt, wie es laufen kann: „Jemand meldet eine GmbH auf einen anderen
       Namen an, vermittelt die Arbeitskräfte und bekommt dafür zehn, fünfzehn
       Euro pro Stunde vom Kunden. Er bezahlt den Arbeitern aber nur vier Euro und
       zieht ihnen davon noch Kosten für die Unterkunft und die Vermittlung ab.“
       Die GmbH zahlt dann auch keine Steuern und keine Sozialabgaben, nach vier
       oder fünf Monaten meldet der Inhaber Insolvenz an. Und macht die nächste
       GmbH auf. „Es ist immer das Gleiche“, sagt Landgrebe.
       
       R. ist nun Zeuge in dem Verfahren gegen Oleg P. Solange er Teil der
       Ermittlungen ist, darf er sich in Deutschland aufhalten und arbeiten. Die
       ersten Nächte schliefen er und die anderen Ukrainer in einer
       Übernachtungsstätte für Obdachlose, mittlerweile wohnen sie in Containern
       und bekommen Sozialleistungen. Immer wieder, erzählt R., lerne er in
       Hamburg Leute kennen, Osteuropäer, denen das Gleiche passiert ist.
       
       Drei Mal war er in der Zwischenzeit schon zu Hause, seine Frau und seine
       vier Kinder besuchen. Dort hat er gesehen, dass die Agentur von Oleg P.
       immer noch aktiv ist. Bei der örtlichen Polizei erstattete er Anzeige,
       „aber mit der Polizei ist es so eine Sache“, sagt R. Zwei Männer hätten ihn
       auf der Straße abgefangen und ihm gedroht. Später hätten sie seine Kinder
       auf dem Schulweg verfolgt. „Ich habe Angst, dass es tödlich endet“, sagt R.
       Trotzdem sei er immer wieder zur ukrainischen Polizei gegangen. Die
       Beamt*innen hätten meistens nur spöttisch gelächelt.
       
       *Name geändert
       
       13 Sep 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/Lagebilder/Menschenhandel/menschenhandel_node.html
   DIR [2] https://www.auftragsbank.de/gesuche/37020/maurerarbeitwn-und-trockenbauarbeiten-hamburg/
   DIR [3] https://www.koofra.de/
   DIR [4] http://s586227235.website-start.de/impressum/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina Schipkowski
       
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