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       # taz.de -- Soziologische Forschung über G20-Protest: „Wann knallt es endlich?“
       
       > Forscher aus Berlin und Hamburg haben die Protest- und Polizeidynamik
       > beim G20-Gipfel in Hamburg ergründet. Sie kritisieren die fehlende
       > Reflexion bei der Polizei.
       
   IMG Bild: Wer eskaliert? Räumung einer Sitzblockade beim G20-Protest
       
       taz: Acht Monate lang haben 21 Wissenschaftler*innen die Dynamiken der
       Gewalt im Kontext der G20-Proteste in Hamburg [1][erforscht]. Was wollten
       Sie herausfinden, Herr Teune?
       
       Simon Teune: Der Anlass war für uns nicht, dass es gewalttätige
       Konfrontationen gab, das ist bei Gipfelprotesten relativ berechenbar. Was
       uns interessiert hat ist: Wie konnte es zur Entgrenzung kommen? Dass
       Umstehende und Anwohner*innen Teil der Auseinandersetzungen wurden und die
       Polizei mit niedrigschwelliger Schussfreigabe bis zum Äußersten geht, das
       wollten wir verstehen.
       
       In dem [2][Bericht] schreiben Sie: Die Vorstellungen des Hamburger Senats,
       die Situation kontrollieren zu können, hat sich als Illusion erwiesen.
       Woran machen Sie das fest? 
       
       Die Annahme des Senats war, mit dem großen Einsatz von Menschen und
       Material das Geschehen kontrollieren zu können – so wurde es zumindest nach
       außen verkauft. Es ist die Lehrmeinung der Polizeiausbildungen und der
       Wissenschaft, dass man mit repressiver Polizeistrategie Konflikte
       ausweitet. Das hat man auch bei anderen Gipfelprotesten gesehen.
       
       So kam es auch dieses Mal. 
       
       Ja, da kommt zusammen, dass es die harte Hamburger Linie gibt und dass bei
       Gipfelprotesten allgemein diese Strategie verfolgt wird, obwohl die
       Erfahrung zeigt, dass die Situation dadurch noch weniger kontrollierbar
       wird.
       
       Wieso halten die Innenbehörden an so einer Strategie fest? 
       
       Das ist eine politische Entscheidung. Man will nach außen ein geschlossenes
       Bild abgeben, aber auch nach innen gibt es wenig Zwischentöne. Wir haben
       uns auch Polizeizeitungen angeguckt – nach diesem Einsatz gibt es da
       nichts, was das Bild trübt. Der Eindruck ist: Wir haben alles richtig
       gemacht, kein Hauch von Selbstkritik. Das ist ein Spezifikum der Hamburger
       Polizei: Die Selbstsicherheit und das Bewusstsein, freie Hand zu haben. Das
       liegt auch daran, dass über Jahrzehnte hinweg kein Innensenator den Umgang
       der Polizei mit Protesten auf den Prüfstand gestellt hat.
       
       Wie kam es zur Eskalation? 
       
       Es gab eine Verdichtung der Atmosphäre der Gewalt, in der es für die
       Beteiligten immer naheliegender und gerechtfertigter schien, Gewalt
       einzusetzen. In diese Deutung wird alles eingeordnet, es gibt keine andere
       Erklärung mehr dafür, warum der Wasserwerfer von hier nach dort fährt oder
       Demonstranten sich vermummen – gelesen wird das als Vorbereitung eines
       Angriffs. Das Gegenüber wird als homogener Block wahrgenommen. Das hat man
       bei der „Welcome to Hell“-Demo gesehen.
       
       Was genau? 
       
       Das lief nach dem Muster der Self-fulfilling Prophecy ab. Alles, was die
       Gegenseite tut, wird nur daraufhin interpretiert, dass die Konfrontation
       bevorsteht. Das wurde durch die mediale Begleitung gestützt: Die
       Berichterstattung hat sich auf die Frage der Gewalt verengt, es gab einen
       medialen Tunnelblick. Die Anwesenden und Beobachter haben gar nichts
       anderes wahrgenommen als die Frage: „Wann knallt es denn jetzt endlich?“
       
       Obwohl das Gewaltniveau in Hamburg im Vergleich mit anderen Gipfelprotesten
       nicht außerordentlich war, ist es doch bei vielen so in Erinnerung
       geblieben. Wie kommt das? 
       
       Über Tage hinweg haben sich zwei Lager herausgebildet. Die einen
       unterstützen, was die Polizei macht, die andere stellen die Bürgerrechte in
       den Vordergrund. Von der Auseinandersetzung um die Protestcamps bis zu dem
       Freitag, an dem der Gipfel begann, hat sich die Polarisierung verschärft.
       
       Wie hat sich das geäußert? 
       
       Die Polizei hatte die Deutung, es stehe jederzeit ein schwerer Angriff auf
       sie bevor. Diese Anspannung war die ganze Zeit da. Auf der anderen Seite
       hat die Erzählung, dass die Polizei den Protest verhindern will und die
       Demonstrierenden angegriffen werden, über die Woche an Plausibilität
       gewonnen. Das schreibt sich unabhängig von dem, was man auf der Straße
       erfährt, in die Erzählung ein.
       
       Viele haben Gewalt real erlebt. 
       
       Ja, das ist die andere Ebene. Sehr viele Leute waren konkret betroffen, die
       über Tage kreisenden Hubschrauber, die Anspannung bei einer Demo, der
       zerstörte Kleinwagen eines Pflegedienstes. Das sind Eindrücke, die sich
       einbrennen. Dazu kommt eine Verschärfung durch die Debatte in Echtzeit.
       Über Twitter und Facebook wurden Videos von brennenden Autos geteilt, die
       Stimmung war: „Was hier passiert, hat es so noch nicht gegeben und alles
       wird immer schlimmer.“
       
       Wie viel von der Protestdynamik hat sich spontan entwickelt und wie viel
       war eingespieltes Verhalten zwischen Polizei und Linken? 
       
       Einerseits gibt es ein Repertoire von Aktion und Reaktion, das auch bei
       Gipfelprotesten abrufbar ist. Da weiß man, es gibt einen Aktionsrahmen, in
       dem man sich bewegen kann. Andererseits gibt es die Hamburger
       Vorgeschichte, die wichtig ist, um zu verstehen, wie zum Beispiel das
       Schanzenviertel zum Zentrum des Protests wurde.
       
       Wie denn? 
       
       Das hat mit der Schanze als umkämpftem Raum zu tun und mit vorangegangenen
       Protesten. Vergangene Auseinandersetzungen darüber, wie der öffentliche
       Raum genutzt werden darf, wie die Stadt sich entwickelt, wie politische
       Räume verteidigt werden, wurden wieder aufgerufen. Dazu kommt die
       Verkettung der Ereignisse über die Woche. Was an einem Tag passiert, fließt
       in das Kalkül der Leute am nächsten Tag ein.
       
       Hat die Medienstrategie der Polizei zur Eskalation beigetragen? 
       
       Die Öffentlichkeitsarbeit der Polizei ist in Kontinuität mit anderen
       Gipfelprotesten zu betrachten: Erst mal wird sie intensiv und offensiv
       betrieben und dann ist die Gewalt der Demonstrierenden das Hauptthema
       gegenüber den Medien. Dass es zu Gewalt kommt, wird als unausweichlich
       dargestellt, damit eröffnet man sich einen größeren Handlungsspielraum. Die
       fast magische und überall verbreitete Zahl von 10.000 Gewaltbereiten ist so
       ein Beispiel. Da fragt im Nachhinein niemand mehr, wo waren die? Mit der
       Zahl wurde die „Welcome to Hell“-Demonstration im Vorfeld dämonisiert. Am
       Ende sprach die Polizei selbst von 10.000 friedlichen Teilnehmenden.
       
       Welche Rolle haben soziale Medien gespielt? 
       
       Wir haben 800.000 Twittermeldungen ausgewertet mit dem Ergebnis: Zum Ende
       der Protestwoche ist die Polizei der zentrale Akteur, der den Blick auf die
       Ereignisse bestimmt. Auch weil ihre Tweets von Journalist*innen in großen
       Medien weiterverbreitet werden. Sie haben dazu beigetragen, dass es diesen
       Tunnelblick gab.
       
       Im Nachhinein wurde fast nur noch über Gewalt geredet, politische Inhalte
       gerieten völlig in den Hintergrund. Wie konnte das passieren? 
       
       Das ist eine Frage der öffentlichen Aufmerksamkeit, die einen Ausschnitt
       überbelichtet von dem, was wirklich passiert ist. Wir hatten in Hamburg die
       größte Demo der letzten Jahre, es gab den Alternativgipfel und
       künstlerischen Ausdruck an vielen Stellen. Die inhaltliche Debatte ist auf
       der Straße nicht außen vor geblieben. Aber in der öffentlichen Wahrnehmung
       ist sie abhanden gekommen. Das wurde durch die Verpolizeilichung des
       Umgangs mit dem Protest herbeigeführt.
       
       Was meint Verpolizeilichung? 
       
       Alle, die Protest organisiert haben, wurden immer wieder auf Gewalt
       angesprochen, ein anderes Thema gab es nicht. Das ist eine
       Polizeiperspektive, eine Entpolitisierung.
       
       Hat die Polizei den Kampf um die Deutungshoheit gewonnen? 
       
       Es gibt kein eindeutiges Ergebnis. Im Sonderausschuss war die Innenbehörde
       sehr erfolgreich darin, ihre Version in die Geschichtsbücher zu schreiben.
       In der Medienberichterstattung ist es durchmischter. Da sind einige
       Widersprüche gezeigt und Kritik an der Polizeiarbeit geübt worden. Die
       Frage ist auch: Wie sieht es in der Stadt aus, wenn sich Leute über G20
       unterhalten? Da gibt es große Unterschiede zwischen Innenstadt und
       Außenbezirken und verschiedenen Milieus. Es existieren weiterhin zwei
       Versionen und es gibt keine gegenseitige Bezugnahme.
       
       Den Report des Hamburger Instituts für Sozialforschung und des Berliner
       Instituts für Protest- und Bewegungsforschung finden Sie hier:
       [3][https://g20.protestinstitut.eu/]
       
       6 Sep 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://g20.protestinstitut.eu/
   DIR [2] https://tubcloud.tu-berlin.de/s/KZwnnBrcqJ3p7zD
   DIR [3] https://g20.protestinstitut.eu/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina Schipkowski
       
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