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       # taz.de -- Lidokino 8 – Lange Filme: Erzählen und mahnen in unserer Zeit
       
       > Lidokino 8: Von lautem Kreischen, der Dauer als Dauer, dem Zerfall und
       > den Breivik-Attentaten – lange Filme im Überblick.
       
   IMG Bild: In Todesangst: Szene aus „July 22“
       
       Auf dem Lido lässt der Andrang in den Pressevorführungen langsam etwas
       nach, vor dem roten Teppich bleibt die Euphorie ungebrochen. Das Kreischen
       beim Auftritt von Natalie Portman im goldenen Kleid vor der Sala Grande
       erreichte annähernd Stadionwerte, ihre Rolle in „Vox Lux“, in dem sie im
       Wettbewerb von Venedig zu sehen war, rechtfertigt den Jubel ebenfalls.
       
       Dieser Jahrgang hat einige lange Filme im Angebot. Die Spitzenwerte
       erreichen [1][„Werk ohne Autor“ von Florian Henckel von Donnersmarck] und
       „Nuestro tiempo“ von Carlos Reygadas, die beide drei Stunden beanspruchen,
       Reygadas allerdings nutzt die Zeit weniger zum strammen Durcherzählen wie
       von Donnermarck, sondern lässt Dauern schon mal als Dauern erleben.
       
       In aller Ruhe erzählt der mexikanische Regisseur, der selbst die Hauptrolle
       des Dichters Juan Diaz übernimmt, von dem Zerfallen einer bürgerlichen
       Familie. Mit eigenwilligen Beziehungskonstellationen, in denen Juans Frau
       Ester (Natalia López) diverse außereheliche Bindungen eingeht, die Juan
       offiziell akzeptiert, jedoch erkennen lässt, dass seine wahre Vorstellung
       von Eheleben exklusiver ist.
       
       Der Plot, der mitunter etwas von bürgerlich-neurotischer Nabelschau hat,
       ist dabei nicht das Entscheidende, was „Nuestro tiempo“ auszeichnet. Denn
       die auf einer weitläufigen Ranch gefilmte Geschichte bietet einige der
       schönsten Szenen dieses Wettbewerbs. Angefangen mit einer ausgedehnten
       Eingangssequenz, in der zunächst Kinder in schlammigem Wasser „Mädchen
       gegen Jungs“ spielen, um dann zu einer Gruppe Jugendlicher mit ihren ersten
       amourösen Schritten zu wechseln, bevor die eigentlichen Protagonisten der
       Elterngeneration in den Blick kommen. Alles beiläufig erzählt.
       
       ## Feldzug zur „Befreiung Europas“
       
       Sehr stark auch die vielen Szenen, in denen die schwer kontrollierbare
       Energie der auf der Ranch gehaltenen Stiere in heftig direkten Bildern
       festgehalten wird, wie eine Parallele zu den Kräften, die am Paar Ester und
       Juan zerren. Oder der lange Kameraflug über bewaldete Landstriche, hinter
       denen sich allmählich Mexiko-Stadt abzeichnet und der auf einer Landebahn
       endet, fast auf Höhe der Reifen. Nichts davon erscheint überflüssig, man
       lebt einfach in dieser Zeit mit.
       
       Weniger auf wohlkomponierte Bilder als auf eine klar übermittelte Botschaft
       setzt Paul Greengrass in „July 22“. Der US-Amerikaner, der viel Erfahrung
       im Actionfach hat, liefert für den Wettbewerb von Venedig nach seinem
       norwegischen Kollegen Erik Poppe den zweiten Film des Jahres über [2][das
       Massaker von Utøya] am 22. Juli 2011.
       
       Während Poppe in einer 72-minütigen Kameraeinstellung die Ereignisse auf
       der norwegischen Insel aus Sicht der jugendlichen Opfer gezeigt hatte, ohne
       den Attentäter Anders Breivik ein einziges Mal klar erkennbar im Bild
       erscheinen zu lassen, will Greengrass auch den Mörder selbst sichtbar
       machen.
       
       Greengrass orientiert sich an Åsne Seierstads Buch „Einer von uns“ über
       Anders Breivik, schildert nur knapp das Morden auf der Insel, um dafür mehr
       Zeit für die Vorbereitungen auf den folgenden Prozess und das Leiden und
       die Traumata der Überlebenden zu haben. Mit norwegischen Darstellern, die
       im Film durchgehend Englisch sprechen. Auch Breivik selbst kommt, gespielt
       von Anders Danielsen Lie, ausgiebig zu Wort, schildert seinen geplanten
       Feldzug zur „Befreiung Europas“.
       
       Der Film kommt nicht von ungefähr zu dieser Zeit von einem US-Amerikaner,
       kann man in seinen Warnungen gegen die Rechte auch eine mahnende Geste an
       das Land, das gerade von Donald Trump regiert wird, sehen. Greengrass wählt
       bewährte Hollywood-Instrumente, vom Thriller bis zum Rührstück ist alles
       vorhanden, die Musik trägt angemessen dick auf. Für ein breites Publikum
       mag das gut und richtig sein, für einen Wettbewerb ist es kein großer Wurf.
       
       7 Sep 2018
       
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