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       # taz.de -- Hildesheim will Kulturhauptstadt werden: Stadthistorische Sorgfalt
       
       > Hildesheim bewirbt sich als Europäische Kulturhauptstadt 2025. Überzeugen
       > soll die Jury auch die stadtgeschichtliche Ausstellung „Kunstvoll!
       > Hildesheim in Malerei und Grafik“.
       
   IMG Bild: Blick auf Hildesheim vom Galgenberg: Lithografie des Malers Johann Jacob Heinrich Gerhard, entstanden um das Jahr 1840
       
       Hildesheim taz | Kulturelle Schwergewichte, Orte mit Strahlkraft: Das waren
       die Kulturhauptstädte Europas einmal; ein Titel, der jährlich und nach
       genauem Rotationsprinzip von der Europäischen Union vergeben wird: Athen,
       Florenz, Paris, West-Berlin vor und Weimar nach der Wiedervereinigung – das
       passte schon. Wer aber 2012 ins slowenische Maribor stolperte, fand wenig,
       was solchen Status rechtfertigte.
       
       Dieses Jahr sind das friesische Leeuwarden und das maltesische Valetta an
       der Reihe, 2019 dann Matera und Plowdiw. Hier muss man schon nachschauen,
       in welchen Ländern die beiden Städte überhaupt liegen, so unbekannt sind
       sie.
       
       Wenig verwunderlich ist es entsprechend, dass sich nur die zweite Garde
       hiesiger Städte um den Titel bewirbt, wenn Deutschland 2025, nach 2010,
       wieder die Ehre hat. Damals konnte sich Essen mit der Region Rhein-Ruhr
       gegen Bewerbungen aus Görlitz, Bremen oder Braunschweig durchsetzen, die
       Kreativität postindustriellen Strukturwandels punktete vor
       geschichtsträchtiger Hochkultur.
       
       Mit sechs Jahren Vorlaufzeit muss der ausrichtende EU-Staat ein nationales
       Auswahlverfahren durchführen. Das Ergebnis wird in mehreren Runden juriert,
       vier Jahre vor Beginn soll der Europäische Rat seine Nominierung treffen.
       
       ## Nur die zweite Garde niedersächsischer Städte
       
       Hannover und Hildesheim steigen nun für den Norden ins Bewerbungsboot 2025,
       man ist geneigt, auch Magdeburg geografisch noch dazuzurechnen. Chemnitz,
       derzeit nicht mit weltoffenem Spirit beseelt, Halle an der Saale, Zittau
       und Dresden vertreten den Osten, Nürnberg den Süden. Koblenz hätte doch
       lieber die Bundesgartenschau 2031, und Kassel hat nach der
       Documenta-14-Pleite eine Bewerbung aus Kostengründen verworfen. Insgesamt
       scheint ein aktuelles Interesse eher verhalten bis zaudernd, denn
       euphorisch rüberzukommen.
       
       Unter dem Kurt-Schwitters-Kalauer „vorwärts nach weit“ tritt Hannover an.
       Bürgerschreck Schwitters las den Namen seiner Heimatstadt ja gerne von
       hinten nach vorn, aus „revonnaH“ leitete er dann die Handlungsaufforderung
       ab: „Hannover strebt vorwärts und zwar ins Unermessliche“
       
       Das trifft für die Intensität der Hannoverschen Bewerbung noch nicht recht
       zu. Man denkt in verwaltungskonformen Schritten, hat pragmatisch,
       vielleicht auch kalkulierend, den niederländischen Kulturmanager Oeds
       Westerhof als Berater verpflichtet. Der ist noch Chefmanager der
       Kulturhauptstadt Leeuwarden. Bei ersten Abstechern nach Hannover sprang
       ihm eine bemerkenswerte Kioskkultur ins Auge. „Aber wir brauchen mehr“,
       ließ er die Hannoversche Allgemeine wissen.
       
       ## Hildesheim gibt sich jugendlich
       
       Hildesheim gibt sich jugendlich, studentisch. Die bunte Website „Hi2025“
       ging im Februar online, im Mai wurde das Projektbüro „Mittendrin“ eröffnet.
       Dies organisiert im Herbst eine Jugendkonferenz sowie die „Tour de
       Landkreis“, einen symbolischen Staffellauf über 20 Stunden und 25 Minuten,
       in dem Stadt und beteiligte Kommunen „Gemeinsam zum Titel“ eilen wollen.
       
       Man darf also gespannt sein auf die „Bid-Books“, die im Herbst 2019 von
       jedem Bewerber vorgelegt werden müssen. Sie sollen eine erkennbare
       Programmlinie skizzieren und eine Kulturstrategie europäischer Dimension,
       so die Ausschreibungskriterien.
       
       Eine Institution internationaler, besonders: wissenschaftlicher Reputation
       war das Roemer- und Pelizaeus-Museum in Hildesheim. Es konnte dank der
       naturkundlichen und vor allem, laut Eigenangaben, einer der weltweit
       wichtigsten Altägypten-Sammlungen in den 1970er- und 1980er-Jahren immer
       wieder renommierte Häuser zu großen gemeinsamen Ausstellungen bewegen.
       „Echnaton, Nofretete, Tutanchamun“, aber auch archäologische Projekte zu
       den alten Kulturen Perus, Mexikos oder Chinas wurden Meilensteine
       internationaler Ausstellungskultur.
       
       ## Zeitreise durch 500 Jahre Stadtgeschichte
       
       Mit solch einem Haus welterklärerischen Verständnisses ließe sich in einer
       Bewerbung wuchern. Seit 2000 muss sich das Roemer- und Pelizaeus-Museum
       aber auch um die Stadtgeschichte kümmern, zusätzlich das rekonstruierte
       Knochenhauer-Amtshaus bespielen. Das den beiden namensgebenden Sammlern
       geschuldete spezifische Profil scheint zugunsten eines eher
       populärkulturellen Ausstellungsbetriebes ins Hintertreffen zu geraten.
       
       Eine aktuelle Sonderausstellung, „Kunstvoll! Hildesheim in Malerei und
       Grafik“ heißt sie, versteht sich nun als institutioneller
       Diskussionsbeitrag zur Bewerbung als Kulturhauptstadt und versammelt
       insgesamt etwa 140 Artefakte. Dafür sind auch unbekanntere Ressourcen des
       Hauses aktiviert worden, die Museumssammlung verfügt auch über 19.000
       Gemälde und Grafiken aus diversen Schenkungen, von denen jetzt einige zum
       allerersten Mal das öffentliche Tageslicht erblicken.
       
       Zu sehen sind historische Stadtansichten, eine Zeitreise durch fünf
       Jahrhunderte, so das Museum. Das schmucke Fachwerkstädtchen, 815 gegründet
       als römisch-katholische Diözese, war oft Ziel von Künstlern. Die
       Schweizerin Gertrud Escher etwa unternahm 1905 auf ihrer Deutschlandreise
       einen Abstecher, fertigte sechs Radierungen. Die örtliche „Meisterschule
       des deutschen Handwerks“ und die Baugewerkeschule ließen Aufmaße und
       Architekturzeichnungen „nach der Natur“ anfertigen, und bereits um 1580 hat
       der „Helmstedter Meister des Dreiecks“ für eine „Chronica“ zum Holzschnitt
       gegriffen.
       
       Hinzu kommen Objekte: zwei vermutlich gotische Straßenlaternen in
       Metallblech, verzierte „Füllbretter“, Schmuckelemente aus Fachwerkhäusern,
       die Kriegskasse, aber auch ein zweischneidiges Richtschwert „mit
       doppelseitig schwach angedeuteten Blutrinnen“.
       
       Natürlich fehlt das Trauma des Zweiten Weltkriegs nicht. Hildesheim wurde
       ab 1944 Ziel alliierter Bombenangriffe, wie eine Sprengbombe „mit Zünder“
       dokumentiert. Auch eine Stabbrandbombe aus dem letzten, verheerenden
       Angriff vom 22. März 1945 liegt im Schaukasten. In nur 15 Minuten warfen
       englische und kanadische Bomber insgesamt 438,8 Tonnen Spreng- und 624
       Tonnen Brandbomben ab. Mehr als 1.600 Menschen starben, 75 Prozent aller
       Gebäude wurden zerstört oder beschädigt, darunter fast die gesamte
       Altstadt, so die Statistik. Aquarelle zeigen die verwüstete
       Stadtlandschaft.
       
       Aber es gab auch „Endphaseverbrechen“: Im März 1945 wurden Zwangsarbeiter
       aus Italien und Osteuropa wegen angeblicher Plünderungen auf dem
       Hildesheimer Marktplatz erhängt, Leichen zur Schau gestellt, im April 1945
       alle Gefangenen des Polizei-Ersatzgefängnisses von der Gestapo
       hingerichtet.
       
       Hildesheim: Das ist nicht nur aufwendig inszeniertes Unesco-Welterbe mit
       Dom, Schatz und St. Michaelis – ein Rundgang nach der Ausstellung sei
       empfohlen –, sondern angesichts erlittener Katastrophen die Aufforderung zu
       stadthistorischer Sorgfalt und Sensibilität.
       
       1 Nov 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bettina Maria Brosowsky
       
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