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       # taz.de -- Retrospektive des Malers Balthus: Die Marionetten in Aufruhr versetzen
       
       > Die Fondation Beyeler zeigt eine Retrospektive des Malers Balthus. Dabei
       > ist auch das Gemälde „Thérèse rêvant“, das eine Debatte über Pädophilie
       > auslöste.
       
   IMG Bild: Balthus schockierte mit der Andeutung gleich mehrerer Tabus: Pädophilie, Inzest
       
       Im beschaulichen Schweizer Bergdorf Rossinière hält der Zug nur auf
       Anfrage. Sattes Grün, Berggipfel, Kuhglocken. Als Balthazar Klossowski de
       Rola hier in den 1970ern das Grand Chalet erwarb, um sich mit seiner
       Familie in diesem größten Holzhaus der Schweiz niederzulassen, war er als
       Balthus längst weltbekannt. Sein Atelier richtete er in einem
       bescheideneren Haus gleich nebenan ein.
       
       Gerade hat Wim Wenders einen Film darüber gemacht. Die Pinsel, Farbtöpfe,
       Tuben und Leinwände stehen [1][seit seinem Tod 2001] da wie unberührt, auch
       der Sessel, auf dem er rauchend seine werdenden Gemälde betrachtete. Die
       Witwe Setsuko Klossowska de Rola bewohnt das Grand Chalet noch immer und
       betreut seinen Nachlass.
       
       Im knapp vier Zugstunden entfernten Basel zeigt nun ausgerechnet die
       Fondation Beyeler eine große Retrospektive. Das rückt Balthus auch als
       wichtigen Vertreter der Moderne ins Bild, obwohl er sich den sie
       dominierenden, von Ernst und Hildy Beyeler gesammelten Ästhetiken, wie dem
       Kubismus oder dem Fauvismus, entzog. Er malte figurativ, bezog sich auf die
       Alten Meister, den Courbet’schen Realismus oder die Neue Sachlichkeit. Er
       pflegte die Ironie, sich selbst porträtierte er 1935 als „König der
       Katzen“.
       
       Auch „Thérèse rêvant“ aus dem Jahr 1938 ist in Basel zu sehen. Umringt von
       einer Menschentraube, die angeregt mit einer Vermittlerin diskutiert. Das
       Kind Thérèse sitzt auf einem Stuhl, die Arme über dem Kopf gefaltet, die
       Augen geschlossenen, wie tagträumend. Der rote Rock ist hochrutscht und
       gibt den Blick auf ihr weißes Höschen frei. Daneben schleckt ein Kätzchen
       Milch aus einer Schale.
       
       Eine Onlinepetition mit mehr als 10.000 Unterschriften forderte vergangenes
       Jahr, das [2][New Yorker Metropolitan Museum of Art, in dessen Sammlung es
       sich befindet, müsse es abhängen] oder kontextualisieren und löste eine
       Debatte über den Umgang mit Pädophilie in der Kunst aus.
       
       ## Allegorie latenter pädophiler Gelüste
       
       Etwa zwölf Mal malte Balthus Thérèse Blanchard, die mit ihren Eltern in der
       Nachbarschaft seines Pariser Ateliers lebte. Da sei es längst nicht nur um
       Provokation gegangen, sagt Michiko Kono, die die Ausstellung gemeinsam mit
       Raphael Bouvier kuratiert hat, sondern um eine intensive künstlerische
       Auseinandersetzung.
       
       Viele der Bilder aus diesem Zyklus sind in Privatbesitz und nicht
       ausleihbar, drei hängen jetzt in Basel. Ein ebenfalls 1938 entstandenes
       zeigt Thérèse mit überheblicher Miene, in graziler Pose: unwahrscheinlich
       für ein Mädchen ihres Alters. Diese Figur ist mehr Allegorie latenter
       pädophiler Gelüste als Porträt.
       
       Noch wenige Jahre zuvor hatte Balthus an seine spätere Ehefrau Antoinette
       de Watteville geschrieben, er brauche einen Skandal. Dann zeigte er bei
       seiner ersten Ausstellung 1934 in Paris hinter einem Vorhang „Die
       Gitarrenstunde“. Eine Frau hat ein Mädchen auf ihrem Schoß liegen und ihr
       den Rock hochgezogen, darunter die nackte Vagina, die Gitarre liegt auf dem
       Boden.
       
       Balthus schockierte damals mit der Andeutung gleich mehrerer Tabus:
       Pädophilie, Inzest, lesbische Liebe. In Basel ist das Bild nicht zu sehen,
       denn später tat er es als Frucht jugendlicher Provokationslust ab und
       verfügte, dass es hinter Verschluss bleibe.
       
       Zum Lüsternen macht der Maler hier vor allem den Betrachter. Dass die Pose
       an eine Pietà erinnert, ist auch ein Verweis auf die moralisierende
       Triebunterdrückung der christlichen Kirche. Die monumentale Straßenszene
       „La Rue“ aus dem Jahr 1933 bringt dieses Thema ebenfalls auf: Links im Bild
       ergreift ein Mann gewaltsam ein junges Mädchen. Ursprünglich griff er ihr
       in den Schritt, auf Bitten des späteren Besitzers korrigierte Balthus die
       Hand weiter nach oben. Rechts im Bild ist eine Figur von hinten zu sehen,
       deren Kutte an die eines römisch-katholischen Kardinals erinnert. Das
       Frühwerk Balthus’ lässt an die Meisterwerke der Surrealisten denken, in
       deren Kreisen er verkehrte, und die gnadenlos mit Klerus und Bürgertum
       abrechneten.
       
       ## Balthus’ Sujet war das Grausame selbst
       
       Der Erotismus in der Kunst sei das Einzige, das die Marionetten noch in
       Aufruhr versetze, schrieb Balthus an de Watteville. Die brutale Realität
       eines Weltkriegs hatten die Marionetten schon erlebt. Nun erstarkte der
       Faschismus. Balthus wurde 1939 zum Militärdienst eingezogen. An der Front
       im Elsass wurde er verwundet und konnte weiteren Kämpfen entkommen. 1940
       malte er „Le Cerisier“ als Antithese zu der tobenden Grausamkeit: Eine
       junge Frau steht auf einer an einen Kirschbaum gelehnten Leiter und pflückt
       die Früchte. Während der Vordergrund in Schatten getaucht ist, entfaltet
       sich dahinter eine Landschaft vor idyllischer Bergkulisse.
       
       In Basel stand nie zur Diskussion, was das Museum Folkwang in Essen vor
       einigen Jahren vorhatte, aber absagte: Polaroids zu zeigen, die Balthus in
       Rossinière vom Nachbarsmädchen Anna Wahli im Alter von 8 bis 16 Jahren
       jeden Mittwochnachmittag schoss, als er wegen einer Sehschwäche seine
       Vorstudien nicht mehr zeichnen konnte. Danach tranken sie mit der ganzen
       Familie Tee. Zu Übergriffen sei es nie gekommen, bestätigte Wahli später
       genauso wie Blanchard. Zum Zeigen waren diese Polaroids nie gedacht.
       
       Balthus’ Sujet war vielmehr das Grausame selbst, die kindliche Unschuld
       eine Projektionsfläche für die Abgründe der Psyche. Eine Freiheit, die sich
       die Kunst nehmen kann und muss. Dass Balthus’ Werk nun in ganzer Breite in
       Basel zu sehen ist, zeigt, dass identitätspolitische Debatten unter
       Umständen die Sicht verkürzen. Und es zeigt auch, dass es besser ist, ein
       Bild wie „Thérèse rêvant“ nur im größeren Kontext des Werks zu zeigen.
       
       26 Sep 2018
       
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