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       # taz.de -- Kommentar Brexit-Beratungen: Die Folgen von Salzburg
       
       > Die EU lässt die britische Premierministerin Theresa May brutal
       > auflaufen. Was auch immer dahintersteckt – es ist brandgefährlich.
       
   IMG Bild: Ging nach den Brexit-Verhandlungen gedemütigt vom Platz: Theresa May
       
       Es hätte alles so nett werden sollen bei den Beratungen [1][zum Brexit] in
       Salzburg. Ein paar freundlich-unverbindliche Worte, ein öffentliches
       Bekenntnis zu einer Einigung. Stattdessen ging die britische
       Premierministerin am Donnerstag gedemütigt vom Platz, und ihre
       Brexit-Strategie liegt in Scherben. Nicht nur hat EU-Ratspräsident Donald
       Tusk [2][Mays „Chequers Plan“], der Großbritanniens Beibehaltung von
       EU-Regeln zum Warenverkehr vorsieht, rundheraus als undurchführbar
       zurückgewiesen.
       
       Er machte in sozialen Medien außerdem geringschätzige Witze über die
       britische Regierungschefin, während Frankreichs Emmanuel Macron
       Brexit-Befürworter als „Lügner“ bezeichnete und andere Gipfelteilnehmer
       sich öffentlich wünschten, den Brexit ganz zu stoppen. Deutlicher konnte
       die EU nicht klarmachen, dass sie nicht mehr das geringste Interesse an
       einer gütlichen Einigung mit Großbritannien über den britischen EU-Austritt
       hat.
       
       Damit gesellt sich die Europäische Union letztendlich zu Boris Johnson,
       Nigel Farage und anderen Brexit-Hardlinern in Großbritannien. Sie predigen
       seit dem Referendum von 2016: Austritt zuerst, dann Gespräche über alles
       andere.
       
       Keine Übergangsfristen, keine Sonderregeln, keine Zahlungen, kein Chequers
       Plan – einfach ein klarer Schnitt. Theresa May hat vor Salzburg bei jeder
       Gelegenheit gesagt: Es gibt nur meinen Plan oder gar keinen. Wenn die EU
       ihren Plan ablehnt, leistet sie bewusst einem Austritt ohne Vereinbarung
       Vorschub.
       
       ## Gespielte Aufregung
       
       Für all das gibt es mehrere mögliche Erklärungen, keine davon
       schmeichelhaft. Die eine geht so: Die Aufregung ist nur gespielt. Eine
       Einigung ist längst unter Dach und Fach, aber weil May dafür nur dann zu
       Hause eine Mehrheit findet, wenn sie das als Sieg über die EU verkaufen
       kann, muss die EU jetzt so tun, als sei sie dagegen, um dann später so zu
       tun, als habe sie nachgegeben.
       
       Abgesehen davon, dass es nicht das geringste reale Anzeichen für diese
       Annahme gibt, wäre diese Strategie in Salzburg deutlich über das Ziel
       hinausgeschossen. May hat in Reaktion die Gespräche mit der EU faktisch auf
       Eis gelegt und „Respekt“ gefordert.
       
       Der Konsens in London ist jetzt nämlich: Mays Plan ist politisch tot. Und
       sie selbst eventuell auch, wenn sie auf das Auftrumpfen der EU nicht
       entsprechend hart reagiert. Wenn in gut einer Woche ihre Konservativen zum
       Jahresparteitag zusammentreten, geht es um ihr politisches Überleben.
       
       Die andere mögliche Erklärung lautet: Genau das ist das Ziel. Die EU-Führer
       sehen, wie schwach May ist, und wetzen jetzt offen die Messer. Das Ziel:
       den Briten keine andere Option lassen als eine gescheiterte
       Premierministerin und einen Brexit ohne Vereinbarung – mit dem Kalkül, dass
       das britische Parlament das nicht akzeptieren wird und stattdessen ein
       neues Referendum ansetzt, das den Brexit kippt.
       
       ## Der Weg zu einer neuen Brexit-Volksabstimmung
       
       Aber wie realistisch ist dieses Szenario? Schließlich haben die Briten 2016
       für den Brexit gestimmt, und entgegen manchen Behauptungen gibt es bis
       heute weder im Volk einen Sinneswandel noch im Parlament eine Mehrheit für
       ein neues Referendum.
       
       Großbritanniens Pro-EU-Strategen wollen nun beim Labour-Jahresparteitag ab
       diesem Sonntag als Erstes die Oppositionspartei auf ein zweites
       Brexit-Votum festlegen, gegen den ausdrücklichen Willen von Parteichef
       Jeremy Corbyn. Dann könnte eine parlamentarische Mehrheit in Sicht kommen,
       auch wenn die Zeit knapp ist.
       
       Der Weg zu einer neuen Brexit-Volksabstimmung führt also über eine
       Labour-Revolte gegen Corbyn, zusätzlich zur ohnehin eingepreisten
       Tory-Revolte gegen May, der absehbaren offenen Revolte der
       Brexit-Befürworter gegen [3][ein neues Referendum] sowie einem Sabotagekurs
       im Staatsapparat gegen die aktuellen Brexit-Vorbereitungen.
       
       Kurz gesagt: politisches Chaos allerorten, Verfassungskrise – und die EU
       trüge Mitverantwortung. Woher soll da plötzlich eine Mehrheit der Briten
       bei einer zweiten Befragung ihre Liebe zur EU entdecken? Und wie zynisch
       muss man als Europäer sein, um das alles zu wollen?
       
       22 Sep 2018
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Dominic Johnson
       
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