URI: 
       # taz.de -- Diskussion zur Hetzjagd in Chemnitz: Auf unsicherem Grund
       
       > Ob in Chemnitz Menschen gejagt wurden oder gar gehetzt, ist einerlei: Wie
       > jeder Mob verbreitete auch dieser Angst und Schrecken.
       
   IMG Bild: Sie wollen Angst auslösen: Rechtsextreme in Chemnitz
       
       Diese Debatte führt in die Irre: Die Frage, ob in einem formaljuristischen
       Sinne in Chemnitz nach der Tötung eines Bürgers, vermeintlich durch zwei
       Flüchtlinge, und der anschließenden hitlergrußgarnierten Demonstration
       gegen Menschen, die irgendwie „ausländisch“ aussehen, eine Hetzjagd auf
       diese stattfand oder bei dieser Gelegenheit es lediglich zu „Jagdszenen“
       kam, mag für [1][juristische und redaktionelle Feinsterörterungen] von
       Belang sein, etwa durch Torsten Kleditzsch, Chefredakteur der Freien Presse
       aus Chemnitz.
       
       Für Flüchtlinge, für Linke, für, so sagen es Rechtsradikale, „Zecken“ gab
       es besonders in jenen Tagen kein Entrinnen vor dem, was gemeinhin Mob
       genannt wird: eine gewaltandrohende Gruppe. Die [2][ARD-Dokumentation
       „Chemnitz – Stadt in Aufruhr“ ist, von der 18. Minute an], ein klassisches
       Beispiel für Verängstigung, Einschüchterung und die Erzeugung von blanker
       Angst.
       
       Semantische Erwägungen spielen jedoch gar keine Rolle. Sie mögen allenfalls
       von Belang sein, wenn ein Mann wie [3][Hans-Georg Maaßen, Präsident des
       Verfassungsschutzes], sie dazu nutzt, die Androhungen von Gewalt zu
       bagatellisieren. Die 65.000 Menschen, die kurz nach der Eroberung der
       Innenstadt Chemnitz' dorthin für ein [4][Solidaritätskonzert mit Feine
       Sahne Fischfilet, Campino, Trettmann und Kraftklub] zusammenkamen, waren
       auch ein mächtiger Sicherheitsgürtel, der dafür sorgte, sich rechter
       Aggressionen erwehren zu können.
       
       Das Problem ist nur: Erstens ist einschüchternde Gewalt nichts, was
       Rechtsradikalen allein attestiert werden muss, auch Linke sind in
       spezifischen Situationen fähig und in der Lage, Gewalt auszuüben,
       vorzugsweise aus einer Position der Mehrheit gegen Minderheiten. Wenn
       [5][Tobias Burdukat, Panter Preis Träger und Sozialarbeiter in Grimma],
       Sachsen, erzählt, dass Linke wie er gerade in den sächsischen Dörfern
       unermüdlich aufpassen müssten, um von der rechten Populärkultur
       buchstäblich nicht erschlagen zu werden, dann ist das, nach allem, was man
       aus diesen Provinzen hört, nichts als wahr.
       
       Andererseits war das Gefühl Hunderter von [6][Frauen in der Silvesternacht
       2015/2016 am Kölner Hauptbahnhof,] der männlichen Gewalt, in diesem Fall
       überwiegend der von männlichen Flüchtlingen, ausgeliefert zu sein, erstens
       auch kleingeredet worden („Nützt sonst nur den Rassisten!“). Zweitens aber
       war gerade das Kleinreden ein weiterer Akt von Desolidarisierung, weil jene
       Frauen (und Männer), die sich einer Übermacht an Gewalt(androhung)
       ausgesetzt sahen, auch noch politisch verhöhnt wurden – oder getröstet mit
       dem Hinweis, das, was vorgefallen sei, hätte auch auf dem Oktoberfest unter
       einheimischen Bayern passieren können.
       
       ## Unsicherheit und Desintegration
       
       Interessant war auch eine Veranstaltung zu den Folgen des Deutschen
       Herbstes 1977 im Berliner Mehringhof, einem linken Gebäudeensemble in
       Kreuzberg: Der Autor dieser Zeilen, Moderator des Panels, war dem
       überwiegend unauffällig-rentnerhaft aussehenden Publikum ausgesetzt – und
       ahnte nicht, dass es sich um die alt gewordenen Freund*innen des linken
       Terrorismus handelte. Als gefragt wurde, ob die Idee der Gewalt nicht Angst
       und Schrecken verbreite, antworteten einige, ein Knieschuss habe noch
       niemanden umgebracht. Das Ende war, dass mir Gewalt angedroht wurde, „wir
       finden dich überall“.
       
       [7][Der Psychoanalytiker Paul Parin hat vor vielen Jahren in einem Aufsatz
       über Jüdisches und Schwules] und was beide Gruppen eint, geschrieben: das
       Gefühl, die Welt nicht auf sicherem Terrain zu begehen, nirgendwo. Immer
       lauert Unsicherheit, Desintegration – mit der Folge fundamentaler Furcht.
       Wer mit diesem Befund immer noch findet, es sei ja nicht schlimm, als Jude
       etwa durch Berlin zu gehen, er müsse eben nur die Kippa abnehmen, hat den
       Kern von Weltmisstrauen nicht im politischen Empfinden.
       
       Wenn deutsche People of Colour darüber berichten, dass sie als nichtweiße
       Bürger*innen immer Angst haben, bedroht, eingeschüchtert und womöglich
       körperlich attackiert zu werden, muss das grundsätzlich verstanden werden:
       Als Angriff auf die Integrität aller. Gewalt, sagt [8][Jan Philipp
       Reemtsma], zerstört, wenn sie überall lauert, jedes zivilisierte
       Zusammenleben. Und zwar nicht strukturelle Gewalt, sondern konkrete Gewalt,
       Schläge, mächtig und mit vielen inszenierten Körperdrohungen, Schreien und
       Gesten, wie in der ARD-Dokumentation über die enthemmenten Nazis und ihre
       Freund*innen auf der vermeintlichen Solidaritätsdemo für einen Getöteten
       aus Chemnitz.
       
       Schwächere verlassen sich darauf – Frauen, Migrant*innen, People of Colour,
       schwule Männer –, dass die Polizei auch sie schützt, vor wem auch immer:
       Das Aberkennen der Charakterisierung einer „Hetzjagd“ als irgendwie zwar
       Stattgefundenes, aber nichts weiter von besonderem Belang, ist das
       eigentlich an diesem Spitzenbeamten Deprimierende. Da hat einer nicht
       begiffen, was demokratischer Schutz durch die Polizei zu bedeuten hat – den
       Mob nötigenfalls brutal an der Durchsetzung seiner Lebensform zu hindern.
       
       14 Sep 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.freiepresse.de/chemnitz/chemnitz-darum-sprechen-wir-nicht-von-hetzjagd-artikel10299149
   DIR [2] https://www.ardmediathek.de/tv/Reportage-Dokumentation/Chemnitz-Stadt-in-Aufruhr/Das-Erste/Video?bcastId=799280&documentId=55770018
   DIR [3] /!5535404/
   DIR [4] /Archiv-Suche/!5530015&s=chemnitz+kraftklub/
   DIR [5] /Archiv-Suche/!5419261&s=tobias+burdukat/
   DIR [6] /Archiv-Suche/!5418023&s=k%C3%B6ln+silvesternacht&SuchRahmen=Print/
   DIR [7] /!217373/
   DIR [8] https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2014/vertrauen/gewalt-kann-eine-lebensform-sein
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
       
       ## TAGS
       
   DIR Chemnitz
   DIR Rechte Gewalt
   DIR Rechtsextremismus
   DIR Schwerpunkt Landtagswahlen
   DIR Schwerpunkt AfD
   DIR Chemnitz
   DIR Chemnitz
   DIR Lesestück Interview
   DIR Hans-Georg Maaßen
   DIR Chemnitz
   DIR Hans-Georg Maaßen
   DIR Lesestück Meinung und Analyse
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Psycho
   DIR Chemnitz
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Organisator von „Dorf der Jugend“: Jung, links, unerwünscht
       
       Mit einem Projekt kämpft er in Sachsen gegen rechts. Behörden kritisieren
       Tobias Burdukats politische Haltung – und verweigern mehr Geld.
       
   DIR NS-Artikel in Sachsen erschienen: Nazis? Die kommen nicht von hier
       
       In Rosenthal-Bielatal wird im Gemeindeblatt ein NS-Artikel nachgedruckt.
       Unkommentiert. Für den Bürgermeister offenbar kein Problem.
       
   DIR Hitlergrüße in Chemnitz: Nazi aus Versehen?
       
       Das Chemnitzer Amtsgericht urteilt im Schnellverfahren Rechte ab. Etliche
       sind stramme Nazis, andere behaupten, sie haben sich mitreißen lassen.
       
   DIR Antifaschistische Arbeit in Chemnitz: Den Menschen zuhören
       
       Wir haben Menschen besucht, die in Chemnitz die Demokratie verteidigen. Von
       der Stadt und dem Staat werden sie alleingelassen.
       
   DIR Fake-News-Kampagnen von Rechts: „Das sind gezielte Angriffe“
       
       Extremismusforscherin Julia Ebner untersucht, wie Rechtsextreme
       Falschinformationen im Netz verbreiten. Ein Gespräch über Chemnitz, Köthen
       und #meTwo.
       
   DIR Hetzjagd-Zitat des Verfassungsschutzchefs: Merkel will Maaßen rauswerfen
       
       Verfassungsschutzchef Maaßen muss offenbar seinen Posten räumen. Die
       Kanzlerin habe entschieden, ihn abzulösen, berichtet die „Welt“.
       
   DIR Zu Besuch beim Chemnitzer FC: Staatsbürgerunterricht in der 4. Liga
       
       Das Regionalligaspiel zwischen dem Chemnitzer FC und dem Berliner AK wird
       zum friedlichen Bekenntnisfestival. Die Probleme bleiben.
       
   DIR Verfassungsschutz und Maaßen: Mitarbeiter verdoppeln, einen ablösen
       
       Das Bundesamt für Verfassungsschutz plant einem Bericht zufolge, bis 2021
       auf fast 6.000 Mitarbeiter anzuwachsen. Der Chef hingegen soll gehen.
       
   DIR Kommentar Nach Chemnitz und Köthen: Nazis und Rechte klar benennen
       
       Man dürfe nicht pauschalisieren, heißt es oft. Doch das ist auch ein
       Propagandainstrument. Es schützt jene, die in der Grauzone verharren
       wollen.
       
   DIR Festnahmen in Chemnitz: Bürgerwehr kontrolliert Ausweise
       
       In Chemnitz hat eine selbsternannte Bürgerwehr Menschen unterschiedlicher
       Nationalitäten bedroht. Dann griff die Polizei durch.
       
   DIR Kolumne Psycho: Die Angst vor der eigenen Zivilcourage
       
       Es darf nicht selbstverständlich sein, ohne Gegenwind Rassismus in der
       Öffentlichkeit zu verbreiten. Doch oft kommt die Schlagfertigkeit zu spät.
       
   DIR Chemnitz urteilt im Schnellverfahren: Bewährungsstrafe für Hitlergruß
       
       Acht Monate Haft auf Bewährung: Dazu verurteilte das Chemnitzer Amtsgericht
       einen Mann, der den Arm zum Hitlergruß gehoben haben soll.