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       # taz.de -- Queere Filmfestivals in Norddeutschland: Sich ändernde Gestalten
       
       > In Bremen, Hamburg, Hannover und Oldenburg beginnen dieser Tage wieder
       > die queeren Filmfestivals. Die taz nord gibt zwei besondere Empfehlungen.
       
   IMG Bild: Leos wildes Leben in Alaska: Abends singt er in Pailletten, tagsüber nimmt er Fische aus
       
       Bremen taz | Mit dem ausgehenden Sommer beginnt im Norden die Saison der
       Festivals mit queerer Thematik. Den Auftakt macht kommende Woche Bremen, es
       folgen Hamburg, Hannover und Oldenburg (siehe Kasten). Jedes dieser
       Festivals wird autonom veranstaltet, aber die Organisator*innen haben sich
       vor Jahren zusammengeschlossen: Gemeinsam auftretend haben sie bessere
       Chancen, attraktive Filme für – und über – Schwule, Lesben, Trans*- und
       Inter*sexuelle Menschen ins Programm zu bekommen.
       
       Nehmen wir [1][„Sidney & Friends“], zu sehen am 10. Oktober in Bremen, am
       18. in Hamburg, und am 23. in Hannover: Gedreht hat der schottische
       Filmemacher Tristan Aitchison die Dokumentation in Kenia, aber dank einer
       stilisierten Kameraarbeit hat der Film so gar nichts Warmes oder Sonniges
       an sich: In schroffen Schwarz-weiß-Bildern zeigt Aitchison seine
       Protagonist*innen meist in Nahaufnahmen.
       
       Auch die Geschichten, die sie erzählen, lassen frösteln. Etwa die von
       Sidney, der in einem kleinen Dorf als Mädchen geboren wurde. Schon früh
       merkte er, dass er sich in Hosen wohler fühlte als in Kleidern. Seine
       Eltern hielten ihn für besessen und beauftragten eine Gruppe von Männern,
       die Dämonen auszutreiben. Seine Mutter sah sogar zu, wie die Exorzisten ihn
       fast umbrachten.
       
       Während der junge Mann von diesen Erfahrungen berichtet, bleibt die
       Leinwand schwarz. Zu diesen Schreckensgeschichten gibt es vielleicht keine
       passenden Bilder, und Regisseur Aitchison hat ein sehr gutes Gespür dafür,
       wann er etwas zeigt, und was er lieber weglässt.
       
       ## Schwarze Leinwand statt schrecklicher Bilder
       
       Sidney ist irgendwann nach Nairobi, Kenias Hauptstadt, geflohen. Dort traf
       er eine kleine Gruppe Menschen, die als Männer in Frauenkörpern geboren
       wurden oder als Frauen in den Körpern von Männern. Sechs dieser
       Freund*innen stellt der Film vor, nicht alle haben so extreme Leidenswege
       hinter sich wie Sidney selbst: Maria etwa ist eine Überlebenskünstlerin.
       Sie ist schön, Männer verlieben sich in sie. Einige weinen, wenn sie
       bemerken, dass Maria einen Penis hat; wenn sie selbst auch verliebt ist,
       dann weint sie mit. Eine Operation, um eine „richtige“ Frau zu werden,
       kommt für Maria nicht in Frage, aber Brustimplantate, die hätte sie gerne.
       
       Ben hat ganz andere Sorgen: Er findet keine Arbeit. In seinem Ausweis hat
       er einen Frauennamen und auf dem Passfoto sieht er aus wie ein Mädchen, und
       so werden seine Papiere von niemandem anerkannt – und kein Amt stellt ihm
       neue, seiner Realität entsprechende aus.
       
       Sidney und seine Freund*innen leben im Slum, Einige können sich kaum
       verständigen, weder auf Englisch noch Swahili: In den Dörfern, aus denen
       sie geflohen sind, spricht man ländliche Dialekte. Aitchison stellt ihre
       Armut nicht aus, hat kein Interesse daran, eine Sozialreportage zu drehen.
       Stattdessen war er neugierig darauf, wie es all diesen Menschen gelingt,
       sich neu zu gestalten, gegen alle sozialen Widerstände – um die zu werden,
       als die sie sich selbst sehen.
       
       Aitchison ist ein eigenwilliger Filmemacher. Er nennt „Sidney & Friends“
       einen „Guerilla“- und „Null-Budget-Film“ und entfernt sich in der
       Gestaltung teils erstaunlich weit vom Realismus, wie er in so vielen Dokus
       üblich ist: Sagt Sidney etwa einen Satz seines Vaters wie „We are digging
       her grave“, verwandelt sich seine Stimme in die eines älteren Mannes. Und
       dann gibt es immer wieder diese unscharfen, schemenhaften Bilder, in denen
       die Hauptfigur durch einen Stoffvorhang zu erkennen ist; nicht als Frau
       oder Mann – sondern als Umriss, der sich ständig verändert.
       
       Ein anderer zu empfehlender Film ist nicht nur geografisch weit weg von
       Sidney und seinen Freund*innen: [2][„Alaska is a Drag“] von Chaz Bennett –
       am 12. Oktober in Bremen im Programm, am 22. in Hannover – ist eine
       leichtgewichtige Komödie über eine Drag-Queen in der tiefsten Provinz: In
       Perücke und Neon-Makeup kann Leo (Martin L. Washington Jr.) hinreißend
       Discosongs mitsingen und dazu tanzen – aber was soll er damit werden in
       seinem Kaff in Alaska? Eine Karriere verspricht da schon eher das Boxen,
       denn auch dafür hat Leo ein Talent.
       
       Tunte und Kämpfer: Dass der Held zwei so gegensätzliche Männerbilder
       glaubwürdig repräsentieren kann, macht dieses sympathische, aber auch sehr
       konventionell inszenierte Stück Wohlfühlkino interessant. Leo hat in
       Gestalt seiner krebskranken Zwillingsschwester und eines religiös eifernden
       Vaters, der mit „Jesus liebt dich“-Plakaten an der Dorfstraße steht, auch
       noch allerlei Familienprobleme. Aber das wirkt wie dramaturgisches
       Füllmaterial, so wie sein Konflikt mit dem einzigen offen homophoben Macho:
       Dass dieser einst Leos erster Geliebter war und aus enttäuschter Liebe
       Schwulenhasser geworden ist – eine Plotdrehung zu viel.
       
       Viel witziger, wie Leo versucht, im ländlichen Alaska zu leben, als sei er
       in Los Angeles: Tagsüber arbeitet er in einer Fischfabrik und die Schuppen
       der Fische glitzern wie Pailletten auf seinem Kleid. Es gibt einen
       attraktiven Sparringpartner, der noch nicht weiß, dass er selbst auf Männer
       steht und den ersten Kuss mit einem Kinnhaken beantwortet – nur im schwulen
       Kino sind Liebesgeschichten noch so schön simpel.
       
       4 Oct 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://vimeo.com/258663639
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=1XJxpTAjD2A
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wilfried Hippen
       
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