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       # taz.de -- Willkommenskultur auf dem Land: Fremdeln im Gemeinschaftshaus
       
       > Zwei Jahre lang begleitete die Göttinger Werkgruppe2 ein
       > deutsch-syrisches Liebespaar in der Provinz und bastelte daraus
       > Dokutheater. Nun zieht „Im Dorf“ durch die Dörfer.
       
   IMG Bild: Am Ende scheitert ihre Liebe an den Umständen: Asan (Ahmad Kiki) und Beate (Elisabeth-Marie Leistikow).
       
       Göttingen taz | Raus aus Göttingen, hinein ins sanft auf- und abwellende
       Eichsfeld, dorthin, wo einst Sackgassendörfer an der Westseite der
       DDR-Grenze und ihre Ost-Pendants in der 5-Kilometer-Sperrzone vor sich hin
       darbten. Heute schlängelt sich der ehemalige Todes- als schmucker
       Grünstreifen durch den ländlichen Raum. Genau dort versucht das freie
       Theater Werkgruppe2 prototypisch die Gefühlslage der Nation zu
       dokumentieren – inklusive Denkbewegungen und -verweigerungen.
       
       Als Mikrokosmos haben die Göttinger ein Thüringer Dorf auserkoren, dessen
       Namen die Theatermacher*innen allerdings nicht verraten – das hatten sie
       allen Bewohner*innen in dieser Oase für xenophobe Menschen versprochen:
       keine Moschee weit und breit, nirgendwo eine Unterkunft für Migrant*innen.
       Willkommenskultur scheint dort überflüssig, denn Fremde sind bisher nur
       einmal zugezogen – aus dem Nachbardorf. Und jetzt das: Die Tochter des
       Gastwirts kommt mit einem syrischen Kurden heim und ist schwanger. Während
       ihres Jobs in einer Nordhausener Unterkunft für Geflüchtete verliebten sich
       die beiden.
       
       In den vergangenen zwei Jahre interviewten Regisseurin Julia Roesler und
       Dramaturgin Silke Merzhäuser das Paar immer wieder, um etwas vom Wandel
       ihrer Beziehung unter der besonderen sozialen Kontrolle in der Provinz zu
       erfahren. Inklusive der Einflüsterungen einiger Dorfbewohner, die ebenfalls
       interviewt wurden. 600 Seiten O-Ton-Abschriften sind so zusammengekommen,
       konzentriert auf 30 Textseiten kommen sie nun zu Gehör – der Authentizität
       zuliebe mit allen Halbsätzen, Versprechern, Ääähhs und kraus im Nichts
       verknoteten Formulierungen.
       
       Meist in direkter Publikumsansprache sprechen Profischauspieler*innen,
       obwohl mit der Übersetzung in szenisches Spiel noch viel mehr zu erzählen
       wäre. Aber es gibt Musik: Jazzsängerin Esra Dalfidan interpretiert
       DDR-Schlager und kurdische Lieder, Uli Genenger perkussioniert einen
       sanften Soundtrack unter die Szenen von „Im Dorf“. Die Produktion tourt
       durch Gasthäuser und Gemeindesäle der ländlichen Region, um deren Bedeutung
       als Orte der Selbstverständigung zu stärken.
       
       ## Ein- und Unterordnen
       
       Heute in Gellierhausen. Etwa 400 Einwohner. Nichts außer der Bushaltestelle
       „Ortsmitte“ weist auf eine solche hin. Gülleduft liegt in der Luft,
       durchzogen von Aromen faulender Äpfel. Idyllisch gemeinte Vorgärten im
       Landhausstil und kantige Neubaumoderne der Zugezogenen wechseln sich ab mit
       Fachwerknostalgie und dahinbröckelnden Nebenerwerbshöfen. Auf dem Weg zum
       Friedhof ist das ehemalige Raiffeisengebäude zum Dorfgemeinschaftshaus
       umgebaut worden. Es verströmt schlichten Mehrzweckhallencharme, besitzt
       eine breite Theke, eine kleine Bühne und Seniorenheimmobiliar.
       Familienfeste werden dort gefeiert, Schützen treffen sich zum
       Katerfrühstück, Spiele- und Bastelnachmittage sowie Tanzabende finden
       statt. Und heute also Theater. 40 Besucher kommen, Alterschnitt: über 60.
       
       „Hallo, ich bin Beate.“ Beiläufig findet Elisabeth-Marie Leistikow zu ihrer
       Rolle und liebkost den Zwei-Tage-Bart Asans, gespielt von dem 2015 aus
       Damaskus geflüchteten Mimen Ahmad Kiki. Bald kleben Lippen gierig an
       Lippen, „Kein Wunder“ glitzert es silbern dazu vom Bühnenaufsteller. Denn
       das bedingungslose Aufeinanderzu folgt ja keiner Magie, sondern
       nachvollziehbaren Kriterien. Mit Asan könne sie sich so gut unterhalten,
       ist Beates Argument, später fügt sie noch seine Ehrlichkeit hinzu. Mehr ist
       aber leider nicht zu erfahren, warum sie diese Herausforderung wählt.
       
       Asan ist zwar 20 Jahre alt, gab sich für die Schutzprivilegien geflüchteter
       Minderjähriger aber als solcher aus, was kein Amt je überprüft hat. So gilt
       er offiziell als 17-Jähriger und Beate muss sich wegen sexuellen
       Missbrauchs Schutzbefohlener verantworten. Ihr Arbeitsvertrag wird nicht
       verlängert, das Paar flüchtet zu Beates Eltern ins Dorfgasthaus, hilft dort
       mit. Aber nach anfänglicher Neugier und höflicher Gastfreundschaft gehen
       Nachbarn auf Konfrontationskurs, schneiden das Paar, kritisieren mangelnde
       Integration, womit mal Ein-, mal Unterordnen gemeint ist.
       
       „Dieses Dorf ist eigentlich nur scheiße“, wird Asan später sagen.
       Textauswahl und Inszenierung schlagen sich auf seine Seite und versuchen,
       das zu beweisen. Die Interviewerinnen scheinen vor Ort stets so lange
       nachgefragt zu haben, bis es aus den Gesprächspartnern heraussprudelt, was
       sie angesichts des Neubürgers bewegt. Der Bürgermeister jubelt, wie das
       Dorf nach der Wende wieder flott gemacht wurde, jetzt gebe es 55 Prozent
       CDU-Wähler, trautes Vereinsleben, keine Arbeitslosen – da würden
       Flüchtlinge nur stören.
       
       ## Ein Korn fürs Publikum
       
       Der katholische Pastor fühlt sich von Asan in seiner Panik vor dem Islam
       bestärkt, obwohl der überhaupt kein praktizierender Moslem ist. Keckes
       Rassist*innen- und Neonazi-Geschwätz zeichneten die Autorinnen auf, als sie
       einen Abend lang mit den letzten Stammgästen des Gasthofs gesoffen haben.
       „Eine üble Stimmung zwischen Anmache und politischer Provokation“, sagt
       Roesler. Die beiden Darsteller*innen spielen nun all diese Figuren mit
       grotesken Kostümen – fette Wampe, aufgemalte Modeschäbigkeit – und Masken
       dermaßen karikierend, als wollten sie sich für die mangelnde Empathie
       gegenüber den Protagonist*innen rächen.
       
       Nur Beates Vater wird differenzierter dargestellt und berichtet, einst
       „Ausländer“ grundsätzlich, dann aber nur die abgelehnt zu haben, die sich
       nicht benehmen können. Mit Asan sei er auf langen Harzwanderungen sogar
       warm geworden. Kiki spielt die Rolle mit einnehmender Freundlichkeit,
       gewinnt das Publikum, indem er eine Runde Korn ausgibt. Neigt aber zu
       Unbeherrschtheiten – als Beate die Schwangerschaft verkündet.
       
       Für die folgenden Probleme sind Kompromisse gefragt. Das Kind wird getauft,
       darf aber kein Schwein essen. Final öffnet sich Asan und berichtet vom
       Krieg, vom Verlust der Heimat, Traumatisierungen in der kurdischen Armee
       und die Not, mit all seinem westlichen Tun im Widerspruch zu den familiären
       Traditionen der Eltern zu stehen. Man erfährt von der wachsenden Sehnsucht,
       die Familie nachzuholen – und der schwindenden Kraft, mit dem fremdelnden
       bis feindlichen Umfeld umgehen zu können.
       
       Auch die Paarbindungsenergien scheinen schließlich aufgebraucht. Beate malt
       sich das Leben als Alleinerziehende aus und starrt ins Leere. Es sieht nach
       Trennung aus. So wird aus der Integrationsdoku das Drama einer die
       Alltagsrealität übertrumpfenden, ihren Gesetzen dann aber doch erliegenden
       Liebe. Das Private scheitert als Politikum, bei diesem künstlerisch
       überzeugenden Abstecher in die Provinz.
       
       5 Oct 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Fischer
       
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