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       # taz.de -- Bayerische Landtagswahlen: Weiß-grüne Revolution
       
       > Die CSU galt als letzte Volkspartei. Doch nun verliert sie womöglich die
       > absolute Mehrheit – und immer mehr Wähler an die Grünen. Was ist da los?
       
   IMG Bild: Kann auch Maß halten: Katharina Schulze, Fraktionsvorsitzende der bayerischen Grünen
       
       Dorfen/München/Niedergottsau taz | Josef Mayerhofer denkt auf der Holzbank
       vor seinem Bauernhaus darüber nach, ob er eigentlich ein Konservativer ist.
       „Wertkonservativ“, sagt er, „das bin ich schon. Werte sind mir wichtig. Die
       Menschen sollten gut miteinander umgehen.“ Mayerhofer schaut nachdenklich
       auf den Birnbaum im Hof, daneben prasselt ein Feuer in einer Eisenschale.
       Der Zwiebelturm der Maria Himmelfahrt-Kirche, in der Mayerhofer getauft
       wurde, steht nur 100 Meter weiter.
       
       Wie abfällig die Spitzenleute der CSU [1][über Flüchtlinge sprechen],
       findet Mayerhofer fürchterlich. Asyltourismus. Anti-Abschiebe-Industrie.
       „Das ist nicht christlich, das passt nicht.“ Seehofer? Kein Rückgrat, keine
       Haltung. Dobrindt? Ein aalglatter Karrierist. Scheuer? Geht gar nicht.
       Söder? Nicht viel besser. „So ein Robert Habeck ist meinem Lebensstil
       näher“ sagt Mayerhofer. Der Grünen-Chef hetze nicht, spreche normal,
       vertrete eine klare Haltung.
       
       Mayerhofer, 47, stämmiger Typ, Dreitagebart, graue Strickjacke, lebt seit
       seiner Kindheit in dem oberbayerischen Dorf Niedergottsau und spricht auch
       so. Er kennt hier jeden Stein, jeden Baum, jeden Menschen sowieso und
       erinnert sich noch an die Zeiten, in denen es zehn Bauernhöfe im Ort gab.
       Mit 14 trat er in die Junge Union ein, mit 16 in die CSU. Fast 30 Jahre
       lang hat Mayerhofer CSU gewählt. Dann, bei der Bundestagswahl 2017, wollte
       er nicht mehr. Jetzt ist er ein Grüner. Warum?
       
       In Bayern steht eine Revolution kurz bevor. In einer Woche wählen die
       BürgerInnen einen neuen Landtag. Die CSU wird, das ist so gut wie sicher,
       ihre absolute Mehrheit verlieren. Sie liegt in einer aktuellen Umfrage bei
       33 Prozent. Auf Platz zwei kommen die Grünen mit 18 Prozent, die SPD weit
       abgeschlagen dahinter. Behalten die Demoskopen recht, ist in Bayern bald
       nichts mehr, wie es wahr. Selbst für ein Bündnis mit der SPD wird es eng,
       Schwarz-Grün könnte die einzig mögliche Zweier-Konstellation sein.
       Mayerhofer fände das gut: „Die CSU hat Erfahrung im Regieren“, sagt er.
       „Aber sie braucht starke Aufpasser.“
       
       Auf ein paar Gewissheiten konnte man sich in Bayern stets verlassen. Der
       Himmel ist weiß-blau wie die Fahne und die CSU kann alleine regieren. So
       ist es seit über 60 Jahren, von einem kurzen Zwischenspiel mit der FDP
       einmal abgesehen. Doch inzwischen bröckelt der Nimbus der letzten
       Volkspartei. Die Leute, die sich vor Fremden fürchten, wählen lieber AfD.
       Und viele aus dem liberalen Bürgertum fliehen zu den Grünen.
       
       Was bewegt Konservative, den Grünen ihre Stimme zu geben? Verstehen die
       Grünen das moderne Bayern womöglich besser als die CSU?
       
       ## Ein Kosmopolit, der sein zu Hause liebt
       
       Neulich hat Mayerhofer an der Anschlagstafel im Dorf eine Einladung des
       Altmännervereins gesehen. Tagesausflug nach Österreich, ganz unten ein
       Hinweis, dick unterstrichen: „Achtung, bitte die Ausweise nicht vergessen.“
       Er zündet sich eine Zigarette an und atmet den Rauch tief ein. „Diese
       Rückwärtsentwicklung ist für mich nicht nachvollziehbar. Wir dürfen nicht
       in die Kleinstaaterei zurückfallen.“
       
       Mayerhofer, Vertriebsleiter einer Betonfirma, ist 300 Tage im Jahr
       unterwegs, er hat Projekte in Polen und anderswo gemanagt. Die CSU war
       früher die natürliche Heimat für Leute wie ihn. Ein Kosmopolit, der sein zu
       Hause liebt, Laptop und Lederhose. Und heute?
       
       Liebäugelt die CSU mit dem Nationalismus. Seehofer hofiert den ungarischen
       Autokraten Viktor Orban, Söder sieht das Ende des Multilateralimus nahen.
       Mayerhofer findet, dass in der CSU ein wichtiger Flügel verkümmert ist.
       Franz Josef Strauß begeisterte ihn seinerzeit, weil er ein überzeugter
       Europäer war. Oder Alois Glück, der bis 2009 die Grundsatzkommission der
       CSU leitete. Glück warb für eine aktive Bürgergesellschaft – und ein
       menschliches Miteinander.
       
       Seehofers CSU, so sieht es Mayerhofer, verrät ihr europäisches und
       sozialliberales Erbe. Und es fällt den Grünen nicht schwer, sich als das
       Gegenteil zu positionieren: Proeuropäisch, weltoffen, human. In Bayern
       setzen sie auf die Themen, die ihnen am besten liegen – Umwelt und
       Bürgerrechte. Sie kritisieren die Zersiedelung der Landschaft,
       organisierten das Bürgerbegehren „Betonflut eindämmen“. Und sie stemmen
       sich gegen [2][das Polizeiaufgabengesetz der CSU], das den Behörden
       präventive Verhaftungen ohne Anklage erlaubt und sogar der Gewerkschaft der
       Polizei zu repressiv war. Themen, die allzu links wirken, lassen sie weg.
       Laute Forderungen nach einer Erbschaftsteuer? Nicht in Bayern. Vor allem
       aber verbergen sie nicht, wie gerne sie regieren würden.
       
       ## Bodenständigkeit und Modernität
       
       Das Angebot trifft einen Nerv. Bei einer Demonstration gegen besagtes
       Polizeiaufgabengesetz [3][drängten sich in Münchens Innenstadt über 30.000
       Menschen]. Zehntausende kamen im Juli zu einer Demo gegen rechte Hetze, die
       sich auch gegen die CSU richtete. Grünen-Chef Habeck tritt derweil in
       brechend vollen Bierzelten auf, vor 1.800 Leuten allein in Dachau. Der
       Wechsel zu den Grünen ist für viele frustrierte Bürgerliche offenbar
       naheliegender als der zur FDP oder der marginalisierten SPD. Beim TV-Duell
       des Bayerischen Rundfunks trat neulich der Grüne Ludwig Hartmann gegen
       Söder an – und nicht etwa die Sozialdemokratin Natascha Kohnen.
       
       Grünen-Spitzenkandidatin Katharina Schulze bekommt im Moment viele
       Rückmeldungen von Leuten wie Mayerhofer. Sie schreiben E-Mails oder
       sprechen sie auf Wahlveranstaltungen an. Manche sind sogar ehemalige
       CSU-Mitglieder, schicken ihr ihr Austrittsschreiben. „Am meisten berühren
       mich die, wo man merkt, dass sie mit sich ringen“, sagt Schulze. „Das finde
       ich sehr ehrlich. Wenn Leute sagen, sie hätten nie gedacht, dass sie mal
       vor mir stehen würden, hätten ihr Leben lang nur CSU gewählt. Aber jetzt
       spüren sie: Es geht einfach nicht mehr.“
       
       Aus Angst vor der AfD irrlichtern Seehofer und Co. durch die Politik wie
       Anfänger. Die Revolten gegen Merkel in Berlin, der kurze Frieden im Sommer,
       dann der Irrsinn des Falls Maaßen. Erst Söders Hetze gegen Flüchtlinge,
       dann die Harmonieoffensive. Dagegen wirken die Grünen plötzlich sehr
       staatstragend. Habeck hat es in der taz so ausgedrückt: „Früher waren wir
       die Chaoten, heute sind es die CSUler.“
       
       Katharina Schulze, 33, verkörpert Bodenständigkeit und Modernität. Sie
       fährt mit Polizisten auf Streife, trägt selbstverständlich Dirndl und hat
       ein Lächeln, das leuchtet wie ein Halogenscheinwerfer. Schulze setzt sich
       auf eine Bank im Steinernen Saal des bayerischen Landtags. Durch eine
       Glastür neben ihr kann man in den Plenarsaal sehen. Dort wird gerade über
       den Abschluss des GBW-Untersuchungsausschusses diskutiert, der klärt, ob
       der Verkauf von 33.000 Wohnungen an ein privates Konsortium nötig war.
       
       Nach ihrer subjektiven Wahrnehmung gebe es zwei Gruppen von enttäuschten
       CSU-Wählern, die nun mit den Grünen sympathisierten, erzählt sie. Zum einen
       seien da die wertkonservativen, christlichen Wähler. „Die sagen einfach:
       Das langt uns jetzt. Die Sprache langt uns, das ist keine menschliche
       Politik mehr.“ Schulze breitet die Arme aus. „Warum wird von Asyltouristen
       geredet, warum freut man sich, dass man 69 Menschen am 69. Geburtstag
       abschiebt? Wo ist denn da eine Haltung, wo ist da ein Herz?“
       
       Die anderen kämen aus dem liberalen Bürgertum. Die beschäftigten sich vor
       allem mit Bürgerrechtsthemen, sie habe die CSU etwa durch das
       Polizeiaufgabengesetz vor den Kopf gestoßen.
       
       Wenn die Grünen nun all diesen Heimatvertriebenen eine neue Bleibe bieten
       wollen, bedeutet dies dann auch, dass sie sich thematisch breiter
       aufstellen müssen? Unsinn, meint Schulze. Die Phase, wo sich manche Grünen
       wieder verstärkt auf Öko hätten fokussieren wollen, sei längst vorbei. „Ich
       hab schon damals gesagt: Das ist totaler Quatsch, wir haben schon immer
       alle Themen abgedeckt. Na klar können wir Öko, aber wir können andere
       Sachen genauso gut.“
       
       ## Die Suche nach einer neuen Volkspartei neben der CSU
       
       Klingt fast wie eine Bewerbung. Bayern ist nach dem Niedergang der
       Sozialdemokratie auf der Suche nach einer neuen Volkspartei neben der CSU.
       Grüne in Berlin erinnern in diesen Tagen gerne an den ersten Wahlsieg
       Winfried Kretschmanns in Baden-Württemberg. Seinen Grünen gelang 2011 die
       Sensation, den ersten Ministerpräsidenten der Republik zu stellen. Sie
       profitierten von einer CDU, die unter Stefan Mappus den Anschluss an die
       Wirklichkeit verloren hatte. Und von der Irrelevanz der SPD. Das, hoffen
       Grüne, sind Parallelen zu Bayern.
       
       Die Zeiten, in denen sie im Freistaat als strickende, langhaarige Ökos
       verschrien waren, sind jedenfalls lange vorbei. Dafür hat vor Jahren schon
       der Sepp Daxenberger gesorgt, Biobauer, gelernter Schmied und einst
       Grünen-Chef. Daxenberger, ein Typ wie eine Kastanie, war das, was man
       gemeinhin ein Urgestein nennt. Er hätte vielleicht das Kunststück
       geschafft, den Schwarzen ihre Alleinherrschaft streitig zu machen. Er starb
       2010 an Krebs. Vollenden nun Katharina Schulze und Ludwig Hartmann, zwei
       junge Politiker aus München, seine Mission?
       
       Martin Pavlik, 34, lässt die linke Hand am Steuer, mit der Rechten zeigt er
       durch die Windschutzscheibe. „Da ist er, unser Arc de triomphe!“ Er steuert
       den Ford Focus eine schmale Schotterstraße hinauf. Dort oben, auf dem
       Hügel, hat man die beste Aussicht auf das, was Pavlik am liebsten „den
       Wahnsinn“ nennt. Meterdicke Betonpfeiler wurden bei dem
       15.000-Einwohner-Städtchen Dorfen für eine Autobahnbrücke in die Landschaft
       gerammt, eine breite Schneise mit zwei Asphaltbändern zieht sich durch die
       Wiesen. Die A 94, auf die Pavlik jetzt herabschaut, ist ein Prestigeprojekt
       der CSU. Sie soll München mit Passau verbinden.
       
       Pavlik, randlose Brille, runde Wangen, Trachtenhemd, könnte in jedem
       Heimatfilm sofort die Rolle des grantelnden Bayern besetzen. Seine Eltern
       flohen vor der sozialistischen Diktatur in der Tschechoslowakei, er wuchs
       in Oberbayern auf. Er spricht sieben Sprachen, studierte osteuropäische
       Geschichte und Slawistik und ging zur Deutschen Bahn, als er nach dem
       Studium keine Aussicht auf einen guten Job in der Wissenschaft hatte.
       Zugführer und Ausbilder ist er. In seinem Büro zu Hause hängen drei
       Urkunden: sein Magister, der Dank des Erzbischofs für 20 Jahre
       Ministrantentätigkeit und die Zugführer-Urkunde.
       
       Wenn er über die Bahnstrecke spricht, die Dorfen mit Markt Schwaben,
       München und der Welt verbindet, redet er sich in Rage. Keine
       Elektrifizierung, Stellwerke Baujahr 1905, nur ein Gleis. Kommen sich zwei
       Züge entgegen, was ständig passiert, muss einer am Bahnhof auf dem
       Ausweichgleis warten. „Bei der Autobahn“, sagt Pavlik neben dem Bauzaun,
       „da spielt Geld keine Rolle.“ Ganz anders bei der Eisenbahn. Eine
       elektrische Oberleitung? Moderne Signalanlagen? Nee, zu teuer. „Für die CSU
       sind alle, die mit der Eisenbahn fahren, verkappte Grüne, Ökospinner oder
       Sozis.“
       
       Pavlik hat sich vorbereitet. Er zieht Fotos aus einer Plastikmappe. Die
       gigantische Baustelle für die Autobahnbrücke mit zwei Kränen. Zwei
       abgeknickte Pfeiler, die wegen des moorigen Untergrundes einsackten.
       „Wurden rausgerissen und neu gebaut. Kein Problem.“ Sein Hochzeitsfoto, sie
       im Brautkleid, er mit Anzug und Einstecktuch, auf einer Wiese. „Alles nicht
       mehr zugänglich. Da führt jetzt die Autobahn entlang.“
       
       Die Pavliks leben mit ihrem eineinhalbjährigen Sohn in einem alten, weiß
       getünchten Haus, die Autobahnbrücke ragt gut 200 Meter weiter in den
       Himmel. Drinnen niedrige Decken, draußen ein Apfelbaum, Bienenstöcke,
       Brennnesseln. Pavlik hat für den Besuch aus Berlin den Holzherd eingeheizt
       und Weißwürste aufgesetzt. Er blättert in dem kleinen, blau-weißen Büchlein
       der Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, das er auf dem Esstisch
       bereit gelegt hat. „Ich argumentiere nicht ideologisch. Es reicht, einen
       Blick in die Verfassung zu werfen.“ Pavlik liest vor, laute Stimme,
       zwischendurch schlägt er mit der Hand auf den Tisch, dass das Glas mit dem
       Händlmaier-Senf vibriert.
       
       Jeder Bewohner Bayerns hat Anspruch auf eine angemessene Wohnung. Artikel
       106.
       
       Pavlik blättert weiter, er hat die Stellen mit gelbem Textmarker
       angestrichen.
       
       Rassen- und Völkerhass zu entfachen ist verboten und strafbar. Artikel 119.
       
       Bei Unglücksfällen, Notständen und Naturkatastrophen und im nachbarlichen
       Verkehr sind alle nach Maßgabe der Gesetze zur gegenseitigen Hilfe
       verpflichtet. Artikel 122.
       
       Für jeden Berufszweig können Mindestlöhne festgesetzt werden. Artikel 169.
       
       Pavlik schiebt mit dem Messer die Wurst aus der Pelle und greift sich eine
       Brezn. Bei seinem Kreuzerlass habe Söder argumentiert, in der Verfassung
       sei die Achtung vor Gott festgeschrieben. Komisch, ruft er, bei Wohnungen
       und Mindestlöhnen berufe sich Söder nicht auf die Verfassung. „Wo sind denn
       die billigen Volkswohnungen, die der Staat bei uns fördern muss?“
       
       Auch Pavlik hat lange CSU gewählt. Ehrenamt, Kirche, Familie, das zählt für
       ihn. Er trat mit 16 in die Junge Union ein, arbeitete als Sekretär in der
       Kreisgeschäftsstelle, war Schriftführer im Orts- und Kreisverband. Später
       hadert er mit der Migrations- und Verkehrspolitik, schreibt einen bösen
       Brief an den CSU-Bürgermeister, sammelt Artikel der Lokalpresse. Im August
       2016 setzt er sich hin und tippt seinen Abschiedsbrief. Als Doppelstaatler
       mit deutschem und slowakischen Pass sei es für ihn nicht möglich, der JU
       weiter anzugehören. Andreas Scheuer, damals CSU-Generalsekretär, stelle
       Doppelstaatler pauschal „unter Generalverdacht“.
       
       Pavlik stützt sich mit den Ellenbogen auf den Tisch und beugt sich vor.
       „Weißt du, warum es hier funktioniert? Wegen uns. Nicht wegen der Politik,
       sondern trotz der Politik.“ Als das Landratsamt Flüchtlinge in dem
       aufgegebenen Wirtshaus in seiner Nachbarschaft einquartierte, kümmerten
       sich BürgerInnen um das Entscheidende. Sie setzten durch, dass syrische
       Familien mit Kindern in das Haus mit Spielplatz kamen und die jungen Männer
       aus Eritrea in den Ortskern neben die Bundesstraße. Nicht umgekehrt, wie es
       das Amt wollte. Sie organisierten eine Kleiderbörse und drängten darauf,
       dass eine Bushaltestelle eingerichtet wurde. Wie sollten die Kinder sonst
       zur Schule kommen?
       
       Wer Pavlik einen Tag lang durch seinen Heimatort Dorfen begleitet, mit ihm
       den Bahnhof anschaut, den Unteren Markt und den Marienplatz, kann nicht
       übersehen, wie wichtig ihm gelebter Bürgersinn ist. Er tritt auf die
       Bremse, als ein syrischer Mann mit seiner Frau am Straßenrand winkt. „Wollt
       ihr zum Heim? Magst einsteigen, Ali?“ Er zeigt den Buchladen, wo er immer
       seine Bücher kauft. Und den Schreiner, der die Eckbank für die Küche
       gefertigt hat. Amazon? Ikea? Pffft. Um die heimische Wirtschaft müsse man
       sich eben schon kümmern, findet er.
       
       Pavlik sagt: „Wir regen uns so auf, weil wir unsere Heimat lieben.“
       Vielleicht ist es das, was ihn und Mayerhofer verbindet. Sie finden, dass
       sich Grundsätzliches ändern muss, damit ihr Bayern so schön bleibt, wie es
       ist. Dazu passt die Losung, die die Grüne Schulze für die kommenden Jahre
       ausruft: „Pragmatisch die Welt retten.“
       
       Herbert Gruber bezeichnet sich selbst als „grünen Protestwähler“. Er wolle
       ein Gegengewicht darstellen zu all den Leuten, die AfD wählten. „Und wenn
       ich es der jetzigen Regierung schwer machen will, und die sagt: Wählt die
       Grünen auf keinen Fall! Dann weiß ich natürlich, was ich zu tun habe.“
       
       München Hauptbahnhof, Gleis 14. Gruber ist gerade in den ICE 580 nach
       Kassel eingestiegen. 35 Minuten sind es bis nach Augsburg, wo Gruber, der
       in Wirklichkeit anders heißt, mit Frau und zwei Töchtern wohnt. Der ICE
       fährt mit Ökostrom, die Autos, an deren Bau Gruber tagsüber als Ingenieur
       mitwirkt, nicht. Sein Verhältnis zum Auto bezeichnet er als „durchaus
       kritisch“. Der 47-Jährige ist keiner, der sich die Wirklichkeit einfacher
       macht, als sie ist. Klar, man könne sich schon fragen, warum man Autos
       braucht, die eine so hohe Leistung haben, sagt er. Aber auch: „Dass wir uns
       eine Europäische Union leisten können, hängt auch damit zusammen, dass es
       in Europa eine sehr kräftige Automobilindustrie gibt.“
       
       In Wirklichkeit ist es für ihn natürlich überhaupt nicht leicht, nun die
       Grünen zu wählen. Er hat bei den Schwarzen sein Kreuz gemacht, solange er
       denken kann. Gruber ist – unüberhörbar – Schwabe, und zwar Württemberger
       Schwabe. So war zunächst die CDU die Partei seiner Wahl, bevor er dann 2001
       ins bayerische Augsburg zog. „Wenn ich die Wahl gehabt hätte, weiterhin die
       CDU zu wählen, hätte ich das gemacht.“ Ein neuer Trennungsbeschluss à la
       Kreuth wäre ganz in seinem Sinne.
       
       Gruber erzählt von seinem diskussionsfreudigen Elternhaus und seiner
       christlichen Prägung. Und dass er in der fünften Klasse der einzige war,
       der jeden Abend die Tagesschau gesehen hat und wusste, wer welcher Minister
       war. Es waren so unterschiedliche Politiker wie Helmut Schmidt, Lothar
       Späth und Christian Ströbele, die ihn früher beeindruckt haben. Und heute?
       „Da wird das Eis dünn.“ Vielleicht noch die Claudia Roth. „Das ist eine,
       die ihren Weg geht.“
       
       Gruber sitzt an einem dieser kleinen ICE-Tischchen. Graumeliertes Haar,
       Geheimratsecken, Dreitagebart. Das Hemd ist kurzärmlig, blau und
       kleinkariert. Ja, als konservativ würde er sich schon bezeichnen, aber so
       richtig viel anfangen könne er mit diesen Schubladen nicht. Dass am Ende
       die jetzige Entscheidung stand, hat natürlich weit mehr mit der CSU zu tun
       als mit den Grünen.
       
       Wie die CSU das Thema Flüchtlinge behandle, das gehe ihm gewaltig gegen den
       Strich. „Für mich hat sich die CSU ganz klar von ihren christlichen
       Grundwerten entfernt.“ Und von Arbeitsverboten für Flüchtlinge, auf die die
       CSU setzt, hält Gruber gar nichts. „Wenn Sie jemandem nicht die Möglichkeit
       geben, sein Talent sinnvoll einzusetzen – was soll er denn machen? Im
       Prinzip zwingt man die Leute, schwarz zu arbeiten oder in die Kriminalität
       zu gehen.“
       
       ## Die neuen Verbündeten an der Seite der Grünen
       
       Auch das ist neu bei dieser Wahl: Die Grünen haben Verbündete, die früher
       fest an der Seite der Schwarzen standen. Christliche Organisationen und
       Kirchenvorstände wünschen sich eine humane Flüchtlingspolitik,
       Wirtschaftsverbände und der Mittelstand fordern den Spurwechsel, der es
       Asylbewerbern erlauben würde zu arbeiten.
       
       Im Grunde, überlegt Gruber in dem ICE, sei ja ohnehin jeder Schwabe ein
       verkappter Grüner. „Ein Schwabe würde ja nie selber eine Revolution
       anzetteln, aber wenn eine Revolution ist, dann findet er das schon nicht
       ganz so schlecht. Und ihm liegt der Umgang mit der Natur und mit dem
       Menschen am Herzen.“
       
       Was will Gruber, was wollen die vielen enttäuschten bisherigen CSU-Wähler
       mit ihrer Stimme für die Grünen erreichen? Hofft er auf Schwarz-Grün?
       Langes Schweigen. „Ich weiß es nicht. Ich sehe das eigentlich nicht.“ Aber
       er wolle der CSU aber zumindest einen Denkzettel verpassen. „Die CSU soll
       verstehen, dass immer nur weiter nach rechts nicht der richtige Weg ist.“
       
       Die Grüne Schulze gibt sich im Moment demonstrativ bescheiden. Sie zitiert
       gerne einen Satz, den Kretschmann prägte: „Wir bleiben auf dem Teppich –
       auch wenn der Teppich gerade fliegt.“ Schließlich waren die Grünen schon
       öfter Umfrage-Weltmeister, schnitten dann aber bei Wahlen schlechter ab.
       Menschen geben sich in Umfragen gerne progressiver, als sie tatsächlich
       sind.
       
       Auch die Mobilisierungskraft der CSU ist nicht zu unterschätzen. Söder
       setzt im Schlussspurt auf die Kampagnenfähigkeit seiner Partei und ihrer
       140.000 Mitglieder. Motto: Damit Bayern bleibe, wie es ist, dürfe es „keine
       Experimente und Spielereien“ geben. Die CSU hat die Grünen – neben der AfD
       – zum Hauptgegner erklärt. Sie plakiert, dass die Grünen eine teure
       City-Maut und Tempo 30 für Münchner Autofahrer planten, und schreibt
       darunter: „Nicht mit uns!“
       
       Aber sind die Bayern wirklich Revoluzzer? Oder denken sie in letzter
       Minute: Schlecht ging es uns nicht mit der CSU? Josef Mayerhofer, Martin
       Pavlik und Herbert Gruber haben sich bereits entschieden.
       
       8 Oct 2018
       
       ## LINKS
       
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       Die Zeiten haben sich geändert. Seehofer ist kein Super-Bazi mehr. Der
       Krieg gegen Söder war immer armselig, der Sieg ist teuer erkauft.
       
   DIR Schriftsteller Ani über bayerische Politik: „Ich hab fast Mitleid mit der CSU“
       
       Friedrich Ani hat Horst Seehofer in einem Gedicht als „Unchrist“
       bezeichnet. Er weiß auch sonst gut, wo es gerade langgeht in Bayern.
       
   DIR Bayerisches Polizeiaufgabengesetz: Die nächste Verfassungsbeschwerde
       
       Das Bündnis NoPAG klagt weiter: Jetzt auch gegen die bundesweit
       beispiellose Verschärfung der bayrischen „Maßnahmen zur Gefahrenabwehr“.