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       # taz.de -- Georgische Frauen und die Buchmesse: Frei sprechen, aber verhungern
       
       > Gastland Georgien kommt mit vielen Frauen zur Buchmesse – dem
       > Geschlechterverhältnis im Land entspricht das aber nicht. Zwei Romane
       > erzählen davon.
       
   IMG Bild: Erinnerungen und Eingemachtes in einem georgischen Haushalt
       
       Mit Kulturattaché verhält es sich wie mit Lokomotivführer, man sortiert sie
       unter Männerberufe. Beim Kolloquium „Literatur und Kunst aus Georgien“ auf
       Schloss Wiepersdorf kommt eine junge Frau auf die Bühne, als der
       Kulturattaché der georgischen Botschaft angekündigt wird. Dudana
       Mazmanishvili, Ende 30, eine bekannte Pianistin, mischte auf den „Young
       Euro Classics“ ein Klavierkonzert von J. S. Bach mit elektronischen Beats.
       Auf die Frage des Moderators, was dran sei an den Behauptungen, Frauen in
       Georgien seien besonders durchsetzungsstark und emanzipiert, antwortet die
       höflich zurückhaltende Mazmanishvili, dass sie wohl der beste Beweis dafür
       sei.
       
       Tatsächlich sind es fast ausschließlich Frauen unter der Leitung von Medea
       Metreveli, Direktorin des Georgian National Book Centers, die den Auftritt
       des Gastlandes auf der Frankfurter Buchmesse organisiert haben. Metreveli
       und ihre Kolleginnen sind alle jung, gut ausgebildet, irre charmant, klug
       und geschäftstüchtig.
       
       Georgien und seine Frauen, das erinnert an andere postsowjetische
       beziehungsweise postsozialistische Gesellschaften wie etwa die Region des
       ehemaligen Jugoslawien: starker Rotwein, hohe Dichterdichte, stolze Frauen,
       die es, wie in Kroatien, sogar zur Präsidentin geschafft haben und
       trotzdem, da stimmt was nicht. Zu sehr ist breitbeiniges Mackertum in den
       Straßen sichtbar, zu sehr liegt ein Aroma männlicher Gewaltdrohung in der
       Luft. Wissenschaftler und Aktivisten stellen hier wie dort fest, dass es
       mit der Gleichstellung der Geschlechter unterm roten Stern besser war, als
       es heute ist.
       
       Eine Studie des Gunda-Werner-Instituts für Feminismus und
       Geschlechterdemokratie der Heinrich-Böll-Stiftung belegt dies mit Daten und
       Fakten. Zu Sowjetzeiten betrachtete der Staat die Gleichberechtigung der
       Geschlechter als seine Aufgabe. Im Georgien von heute seien es
       ausschließlich Frauenorganisationen, die um eine bessere Teilhabe von
       Frauen an politischen Gestaltungsprozessen kämpfen. Seit 2010 gibt es ein
       Gleichstellungsgesetz, aber immer noch, so erläutert beispielsweise die
       Genderforscherin Eka Aghdgomelashvili, sei Georgien eine patriarchale
       Gesellschaft. Das größte Problem sei die häusliche Gewalt, von der ein
       Drittel aller Frauen in Georgien betroffen seien. Ein Drittel von ihnen
       glaubt, dass Gewalt gegen sie legitim sei.
       
       ## Mit einem unerbittlichen „Hallo, bitte!“
       
       Es gebe ein Gleichstellungsgesetz, es könne offen über Diskriminierung und
       Gewalt gesprochen werden. All das sei unter sozialistischer Flagge ein Tabu
       gewesen. Allerdings gehe es heute, viel mehr als noch zu Sowjetzeiten,
       darum, dass Führungsposten auch entsprechend besetzt, Gehälter entsprechend
       angepasst würden.
       
       Einig sind sich viele Experten darin, dass es in Sachen Gleichberechtigung
       rückwärts geht. Uneinig ist man sich, ob es die sowjetische Gesellschaft
       war, die in Georgien die Gleichstellung der Frau erobert habe. Verwiesen
       wird auf Ekaterine Gabashvili, die Ende des 19. Jahrhunderts die erste
       Schule für Frauen in Georgien gegründet hatte. Andere gehen zurück bis ins
       Mittelalter, zur Königin Tamar, die Georgien in seiner Blütezeit regiert
       und demokratische Elemente eingeführt hatte. Manche gehen noch weiter
       zurück, bis zur Zeile „Des Löwen Welpen sind gleich, seien sie männlich
       oder weiblich“ aus dem georgischen Nationalepos „Der Recke im Tigerfell“,
       geschrieben von Schota Rustaweli im 12. Jahrhundert.
       
       Will man noch weiter zurück, landet man im Nationalmuseum von Tiflis bei
       der Museumsführerin Madame Dodo, die durch die Ausstellung „Archäologische
       Schätze“ führt. Madame Dodo ist zwischen 60 und 70 Jahre alt, spricht
       grammatikalisch astreines Deutsch und präsentiert den 2.500 Jahre alten
       Goldschmuck ohne überflüssige Schnörkel und zudem derart faktensicher, dass
       jede Nachfrage größten Mut erfordert. Mit ihrem an Ohren, Handgelenken, in
       den Haaren, auf der Brust und im Gewebe ihres Kleides angebrachten
       Geschmeide und ihrem alles andere als dezenten Make-up wirkt Madame Dodo
       wie eine direkte Nachfahrin der Medea von Kolchis, die das Goldene Vlies zu
       Schmuck verarbeitet hat.
       
       Mit einem unerbittlichen „Hallo, bitte!“ ermahnt sie alle, die sich von
       ihren detaillierten Ausführungen zu den die Fruchtbarkeit symbolisierenden
       goldenen Schildkrötenanhängern entfernen. Madame Dodo, deren sowjetische
       Disziplin so weit reicht, dass sie keine Nachfragen zu ihrer persönlichen
       Geschichte duldet, ist sich dennoch sicher: „Starken Frauen gab es in
       Georgien immer. Sie sehen doch, welch edle Dinge man hier für sie
       angefertigt hat.“ Etwa im gleichen Alter wie Madame Dodo ist Naira
       Gelaschwili. Germanistin, Autorin und politische Aktivistin. Goldschmuck
       trägt sie nicht. Eine gewisse sowjetische Sozialisierung merkt man auch ihr
       an. Bis heute ist sie nicht nur aktive Autorin, Lektorin und Übersetzerin,
       sondern – wie schon ihr ganzes Leben lang – Dissidentin und Kritikerin der
       Regierungspolitik.
       
       Einzige Ausnahme: In den neunziger Jahren war sie Beraterin des georgischen
       Reform-Präsidenten Eduard Schewardnadse und zuständig für Kulturpolitik und
       Minderheiten. In ihrem 1993 gegründeten „Kaukasischen Haus“ ist sie bis
       heute federführend engagiert in kultureller Bildungsarbeit, Umweltpolitik
       und der Hilfe für Flüchtlinge. „Die Idee der Einheit der kaukasischen
       Region und ihrer Bewohner mit ihren über 50 Sprachen und diversen
       Religionen klinge heute wie die Idee einer Verrückten“, erzählt sie.
       „Damals war etwa die grüne Bewegung in Tschetschenien am weitesten
       entwickelt in dieser Region, heute lebt ihr Chef im Ausland als politischer
       Flüchtling.“
       
       ## „Wir können frei sprechen. Aber wir verhungern“
       
       Dem Berliner Verbrecher Verlag sei Dank, sind ihre Romane und Erzählungen
       nun auf Deutsch zu lesen. Zuletzt erschien ihre im Original bereits 1982
       publizierte Novelle „Ich fahre nach Madrid“, für die sie damals einen Preis
       bekam und damit das Buch vor der Zensur rettete, da es eine scharfe
       politische Systemkritik enthält.
       
       Während Madame Dodo ihren Nationalstolz mit dem Goldschatz im Museum
       legitimieren kann, sagt Naira Gelaschwili: „Wir haben das Gefühl, dass wir
       dem Verschwinden unserer Heimat zusehen.“ Bildung werde abgeschafft,
       Literaturkritik habe sich selber abgeschafft und die Autoren würden nur
       noch für den deutschen Markt schreiben, was man an dem üppigen Lokalkolorit
       sehe. „Wir können frei sprechen. Aber wir verhungern“, bringt sie ihre
       Analyse der georgischen Gegenwart auf den Punkt. Es sei ja schön, dass ihre
       Hölderlin-Übersetzungen nun endlich erschienen seien. Aber die inoffizielle
       Arbeitslosenquote von bis zu 40 Prozent spreche eine deutlichere Sprache
       als alle schönen Worte des Tourismusministers.
       
       Arbeitslos ist auch der Protagonist in Davit Gabunias Roman „Farben der
       Nacht“. Während seine Frau arbeitet, verbringt Sura seine Tage zu Hause,
       kümmert sich um die Kinder und wird darüber zusehends irre, weil er sich
       dadurch gedemütigt fühlt. Er wird zum Voyeur seines neuen schwulen
       Nachbarn, zum Komplizen eines Mordes und verstrickt in einen
       Selbstmordversuch. Der 1982 in Tiflis geborene Gabunia, der auch als
       Dramatiker, Übersetzer und Drehbuchautor erfolgreich ist, erzählt in seinem
       Romandebüt präzise von den existenziellen Kämpfen im Georgien der
       Gegenwart, wie sie auch im Rest der Welt Alltag sind: Es ist tiefe soziale
       Ungleichheit, die trotz aller Gleichstellungsgesetze und TV-Serien mit
       Transgenderaspekt patriarchale Männlichkeitsbilder wieder stark werden
       lassen können.
       
       8 Oct 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Doris Akrap
       
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