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       # taz.de -- Lyrikband von Leonard Cohen: Ein Selbst, das nie feststeht
       
       > Noch im hohen Alter präsentierte sich Leonard Cohen als werdender
       > Künstler. Ein neuer zweisprachiger Band ist sein literarisches
       > Vermächtnis.
       
   IMG Bild: Wurde mit seinem letzten Werk nicht fertig: Leonard Cohen verstarb 2016
       
       Lyrik entsteht an einem Ort, den niemand beherrscht und niemand erobert“,
       hat [1][Leonard Cohen] im Oktober 2011 gesagt, als er in Madrid mit dem
       Prinz-von-Asturien-Preis ausgezeichnet wurde. Sich selbst schließt er dabei
       mit ein. Ohne jeden Anflug von Koketterie lässt er die Anwesenden an jenem
       Abend wissen, er beherrsche Lyrik ebenso wenig. Erst durch die Lektüre des
       spanischen Dichters Federico García Lorca habe er eine eigene Stimme
       gefunden, Material für „ein Selbst, das nicht feststand“.
       
       So hat sich Cohen auch noch im hohen Alter charakterisiert, als Künstler,
       der im Werden begriffen ist. Abgedruckt ist jene Dankesrede, genau wie
       Gedichte und Songtexte, zusammen mit zahlreichen Zeichnungen in dem
       zweisprachigen Band „Die Flamme – The Flame“. Es ist das Vermächtnis
       [2][des 2016 verstorbenen kanadischen Künstlers], ein Vermächtnis, das er
       zu Lebzeiten begonnen hatte, aber nicht mehr fertigstellen konnte.
       
       Das Projekt hat sein Sohn Adam Cohen nun mit Hilfe von Freunden des Vaters
       abgeschlossen. Obwohl Texte aus unterschiedlichen Jahrzehnten versammelt
       sind, ist „The Flame“ keine Loseblattsammlung. Die Mehrzahl der Texte
       stammt aus der späten Phase von Cohens Karriere, ab den 2000er Jahren
       bilden sie die Chronologie seines durchaus zähen Existenzkampfs. Der
       Weltstar musste damals von vorne anfangen. Teils hatte er sein Geld mit
       vollen Händen ausgegeben, teils hatte ihn seine Managerin um Einkünfte
       gebracht. Und trotzdem spricht aus den Zeilen in „The Flame“ keine
       Verbitterung, das Leben sei „curiously peaceful / behind the apparent
       turbulence / of litigation and advancing age“, schreibt er in dem Gedicht
       „The Apparent Turbulence“.
       
       Nachgeborenen wird in „The Flame“ ein widersprüchlicher Mann nähergebracht;
       ein Mensch, der empfindsam ist und nach außen grantig wirkt, ein zaudernder
       politischer Kommentator, der seine Wahlheimat Los Angeles kritisch sieht,
       und ein überzeugter Städter, der noch Jahrzehnte nach seinem Wegzug
       Verbundenheit mit seiner Geburtsstadt Montreal äußert, der aber in der
       französischsprachigen Metropole als auf Englisch Schreibender und als Jude
       in der katholisch geprägten Gesellschaft Québecs Außenseiter bleibt.
       
       Und ein Aussteiger, der schon in den Sechzigern auf der griechischen Insel
       Hydra lebt und von dort Flaschenpost-Nachrichten über die Gleichförmigkeit
       des Lebens versendet. Man erlebt einen Kindskopf, der nicht erwachsen sein
       will: „All my secrets / I’ve told to the pillow / Like a teenage girl / In
       a motown song“ und einen unverbesserlichen Womanizer, der nie schmierig
       klingt, wenn er über Frauen schreibt, sondern weise: „I’m slowing down the
       tune / I never like it fast / You want to get there first / I want to get
       there last“ („Slow“).
       
       ## Mildes Brummen der sonoren Stimme
       
       Dass das Leben aus Höhen und Tiefen besteht, aus Trauer und Angst, aber
       auch aus unsterblicher Liebe und augenblicklichem Hingerissensein, das kann
       man hier entdecken, oftmals in einem Text. „As the mist leaves no scar / On
       the dark green hill / So my body leaves no scar / On you, nor even will.“
       Seine Oden an Frauen funkeln wie die Augen einer Geliebten, die er
       warmherzig-ironisch beschreibt: „I love Charmaine / Her heart is kind / I’m
       still a fool / She doesn’t mind // Her eyes are grey / But when I’m mean /
       Her eyes display / A shade of green“ (aus „I Hear the Traffic“). Man kann
       sich bei vielen Gedichten den Song dazu vorstellen, Cohens Sprache lebt vom
       Rhythmus, von der Wortwiederholung und der Einteilung in Strophen.
       
       Hierzulande kennt man ihn vor allem als Singer-Songwriter, der zu karger
       Gitarrenbegleitung Texte in beeindruckender Ruhe vorträgt; im milden
       Brummen seiner sonoren Stimme klingen Cohens existenzialistische
       Vorstellungswelten gedimmt. Lange vor Welthits wie „Suzanne“ hat Cohen
       Mitte der Fünfziger zwei Gedichtbände veröffentlicht und 1966 den Roman
       „Beautiful Losers“. Obwohl er damals Preise und Stipendien erhält, kann
       Cohen von seinen literarischen Ambitionen nicht leben. Also beschließt er
       seine Poesie zu vertonen. Gitarrespielen hat er in einem sozialistischen
       Sommercamp als Kind gelernt.
       
       Er bezeichnet sich selbst als unpolitisch, obwohl er 1961 aus Solidarität
       mit Fidel Castro nach Kuba geht. „Ein Anarchist, dem es unmöglich ist,
       Bomben zu werfen“, schreibt die New York Times über ihn. Schon mit seinem
       Debütalbum „Songs of Leonard Cohen“ (1968) feiert er Erfolge, jedes seiner
       ersten sechs Alben verkauft mehr als 500.000 Exemplare. Cohens Starwerdung
       geschieht zeitgleich mit dem Goldenen Zeitalter des Folk.
       
       Er verkehrt im New Yorker Chelsea Hotel, ist mit KollegInnen wie Joni
       Mitchell und Bob Dylan befreundet, bleibt aber ein Solitär im Popbusiness.
       Für jene Vergangenheit interessiere er sich nicht, schreibt Cohen in dem
       Gedicht „School Days“, mehr interessiert sie sich für ihn: „I never think
       about the past / But sometimes / The past thinks about me / And sits down /
       Ever so lightly on my face“ („School Days“).
       
       ## Leicht surrealer Gentleman im Anzug
       
       Manchmal ringt er in „The Flame“ mit Gott, den er „G-d“ nennt, auch der
       Horror des Holocaust blitzt immer wieder auf. Mit seinen jüdischen Wurzeln
       hat sich Cohen intensiv auseinandergesetzt. Aus seiner Lyrik spricht etwas,
       das Theodor W. Adorno in „Minima Moralia“ postuliert hat: „Ein Blick, der
       aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungemilderten Bewusstsein der
       Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält.“ Die Umstände mögen noch
       so negativ sein, bei Cohen besteht die Aussicht auf eine Wende zum
       Positiven.
       
       Wenn, wie in dem Gedicht „My Lawyer“, von „junk that has killed the
       revolution“ die Rede ist, meint Cohen mit „Junk“ allerdings harte Drogen.
       In den Sechzigern ist er selbst eine Weile heroinabhängig. In der deutschen
       Fassung „Mein Anwalt“ steht, „die Revolution sei an Dreck krepiert“. Zum
       Glück lässt sich das englische Original lesen. „I love to speak with
       Leonard / He’s a sportsman and a shepherd / He’s a lazy bastard / Living in
       a suit“, heißt es an anderer Stelle in „Going Home“. Und so bleibt Leonard
       Cohen auch in Erinnerung, als leicht surrealer Gentleman im Anzug, der ein
       in jeder Hinsicht aufregendes Leben sportlich gemeistert hat.
       
       9 Oct 2018
       
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   DIR Julian Weber
       
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