# taz.de -- Indiens neue Krankenversicherung: „Modicare“ für Millionen arme Inder
> Indien plant das größte Krankenversicherungsprogramm der Welt.
> Ministerpräsident Narendra Modi will sich damit die Wiederwahl sichern.
IMG Bild: Indische Frauen in einer Klinik in Bilaspur im Bundesstaat Chhattisgarh
DELHI taz | Rechtzeitig zum Wahlkampf hat Indiens hindunationalistische
Regierung von Premierminister Narendra Modi das weltgrößte
Krankenversicherungsprogramm gestartet. Das als „Modicare“ (oder auf Hindi:
Ayushman Bharat) bekannte Programm soll die ärmsten 40 Prozent der knapp
1,3 Milliarden Einwohner erreichen.
Allein die ärmsten 100 Millionen Familien sollen eine jährliche
Krankenversicherung über umgerechnet 6.000 Euro erhalten – eine
beträchtliche Summe für arme Familien.
Modi verteilte im August eigenhändig die ersten Versicherungskarten in der
Stadt Ranchi im Bundesstaat Jharkhand. „Wir wollen die Rechte der Armen
stärken und mit ihnen Seite an Seite für die Gesundheit kämpfen“, twitterte
er.
Das Programm, das auch mit Beratung der Deutschen Gesellschaft für
Internationale Zusammenarbeit (GIZ) entwickelt wurde, wird den indischen
Staat und die 29 Bundesstaaten mindestens 1,4 Milliarden Euro im Jahr
kosten.
## Bisherige Reformen stecken fest
Modi will im Frühjahr 2019 wiedergewählt werden und kämpft damit, dass
viele seiner Reformen bisher wenig Erfolg hatten. Zwar ist Indiens
Wirtschaft im letzten Quartal um 8,2 Prozent gewachsen. Doch weite Teile
der Mittelschicht sind frustriert, weil das Wachstum keine neuen Jobs
produziert, sondern den Abstand zwischen Arm und Reich vergrößert hat.
Wenn Modi nun „den Armen“ direkt unter die Arme greifen will, ist dies auch
der Versuch, [1][der oppositionellen Kongress-Partei] die traditionelle
Wählerschaft streitig zu machen. Die Partei reagiert verärgert: „Das wird
ein erneuter Schwindel, der nur den privaten Versicherungsfirmen nützt“,
sagte Sanjay Nirupam von der Kongress-Partei in Mumbai der
Nachrichtenagentur AFP. „Die Bürger werden merken, dass es sich nur um
einen Wahlkampftrick handelt.“
Wenn es funktioniert, wäre das Programm ein wichtiger Schritt der sozialen
Sicherung für viele Familien. Diese geben Schätzungen zufolge 60 Prozent
ihres Einkommens für Arzt- und Krankenhausrechnungen aus.
Nach einer Studie von 2015 basierend auf Erkenntnissen der Strategischen
Beratungsgruppe SAGE der Weltgesundheitsorganisation WHO fallen jedes Jahr
8 Prozent der indischen Bevölkerung wegen Gesundheitskosten in die Armut
Zwar sind die staatlichen Krankenhäuser auch bei aufwändigeren Operationen
sehr günstig. Aber die Qualität ist oft schlecht. Und gute Kliniken haben
lange Wartezeiten.
## Kritik an Zweiklassenmedizin
Qualifizierte private Ärzte hingegen verlangen oft für eine einzige
Konsultation umgerechnet 12 Euro – unbezahlbar für Personen unterhalb der
Armutsgrenze, die mit weniger als 2 Euro/Tag auskommen müssen.
Doch die Schar der Modicare-Kritiker ist groß, nicht nur in der Opposition.
Amit Sengupta von der Volks-Gesundheitsbewegung „Jan Swasthiya Abhiyan“,
einem NGO-Netzwerk, fürchtet, dass die neue Versicherungskarte nur etwa
„vier Prozent“ der Krankheiten abdecken werde, da sie ausschließlich für
Krankenhausaufenthalte gelte. Die meisten Krankheiten aber werden ambulant
behandelt.
Zugleich verschlinge die neue Versicherung „ein Viertel“ des gesamten
staatlichen Budgets für Gesundheit. Das soll nach dem Willen der Regierung
bis 2025 von derzeit mageren 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf
2,5 Prozent steigen. Im Vergleich: In Deutschland sind es rund 11 Prozent
Die von links vorgebrachte Kritik, dass die Versicherung nur private
Krankenhäuser stärke und das staatliche Gesundheitssystem schwäche, wird
nicht von allen geteilt. Auch Versicherungsunternehmen sehen nur begrenzte
Profitmöglichkeiten, da beschlossen wurde, dass eine Treuhandgesellschaft
das Geld verwalten soll, statt Gruppenversicherungen abzuschließen.
## Krankenhaus-Lobby ist kritisch
Die Ärzte-Lobbyorganisation Indian Medical Association (IMA), die kleine
und mittlere Krankenhäuser an dem Programm zu beteiligen versucht,
kritisiert, dass die geplanten erstattungsfähigen Kosten
„unwissenschaftlich, unwirtschaftlich und eine Gefahr für die Gesundheit
der Patienten“ seien.
„Behandeln Krankenhäuser zu den angebotenen Tarifen, werden sie wegen
Unwirtschaftlichkeit schließen müssen“, sagt Dr. RV Asokan vom
IMA-Krankenhausvorstand.
Prathan C. Reddy, Gründungsvorsitzender der Apollo-Krankenhausgruppe
hingegen begrüßte die Initiative als „ersten Schritt in Richtung
universeller Gesundheitsversorgung“. „Dies ist ein entscheidender Moment,
der die Zusammenarbeit aller Beteiligten am Gesundheitssystem, staatlich
und privat erfordert“, so Reddy. Der Teufel wird wie bei vielen
Reformvorhaben in Indien im Detail der Umsetzung liegen.
10 Oct 2018
## LINKS
DIR [1] /Regionalwahl-in-Indien/!5507431
## AUTOREN
DIR Britta Petersen
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