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       # taz.de -- Retrospektive González in Berlin: Sehr traurige Dinge in schönen Farben
       
       > Vor 33 Jahren besetzte die kolumbianische Guerilla den Justizpalast in
       > Bogotá. Das war ein Wendepunkt für Künstlerin Beatriz González.
       
   IMG Bild: Beatriz González, „Los Suicidas del Sisga No 2“, 1965, Öl auf Leinwand. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin, von Óscar Monsalve und des Museo La Tertulia, Cali
       
       Der 6. November 1985 markiert für Beatriz González einen Wendepunkt in
       ihrem künstlerischen Schaffen. Damals besetzten Mitglieder der
       kolumbianischen Guerilla M-19 den Justizpalast in Bogotá. Das Militär
       stürmte das Gebäude und zerstörte es vollständig. Über hundert Menschen
       starben. Elf Personen verschwanden spurlos. Das Ereignis war der Auftakt zu
       einer weiteren Eskalation der Gewalt zwischen Guerilla, Paramilitärs und
       Regierung in Kolumbien.
       
       Aus ihrer Wohnung in Bogotá sah die Malerin damals die Rauchschwaden über
       dem Justizpalast aufsteigen. Danach änderte die 1938 in Bucaramanga
       geborene Künstlerin nicht nur ihre Farbpalette. Bereits Mitte der 1960er
       Jahre hatte Beatriz González in Auseinandersetzung mit der kolumbianischen
       Wirklichkeit und deren populär-medialer Bildsprache begonnen,
       Zeitungsbilder als Vorlagen für ihre Porträts zu verwenden. Feine
       Leinwände und teure Pinsel tauschte sie gegen weniger perfekte, aber
       ausdrucksstarke Techniken und Materialien ein.
       
       Erstmals in diesem Umfang außerhalb Kolumbiens präsentieren die Berliner
       Kunstwerke das zwischen 1965 und 2017 entstandene Werk der Künstlerin in
       einer großen Retrospektive, die in Zusammenarbeit mit dem Museum für
       zeitgenössische Kunst in Bordeaux und dem Museum Reina Sofia in Madrid
       entstanden ist.
       
       Gleich im ersten Raum dieser Ausstellung von Beatriz González ist ihr
       Gemälde „Los Suicidas del Sisga No.2“ (Die Selbstmörder von Sisga) von 1965
       zu sehen, das beispielhaft für ihre künstlerische Praxis steht. Es zeigt
       ein einfach gekleidetes Paar, dessen Finger ineinander verschmelzen, mit
       einem Blumenstrauß vor einem flächig gemalten rosa-orangefarbenen
       Hintergrund.
       
       ## Der tödliche Sprung
       
       In der benachbarten Vitrine entdeckt man den dazu passenden
       Zeitungsausschnitt – eine Reproduktion des Porträts, das die Liebenden vor
       ihrem tödlichen Sprung in den Fluss von einem Fotografen anfertigen ließen.
       Dieser Prozess der mehrfachen Übertragung macht das analytische Interesse
       der Malerin für mediale Bilder und deren öffentlicher Wahrnehmung deutlich.
       
       Ein Foto auf der vergilbten Gesellschaftsseite einer kolumbianischen
       Tageszeitung präsentiert einen entstellten Leichnam und ist betitelt „In
       einer Pension ermordete Frau. Es war nicht möglich, sie zu identifizieren“.
       Das Bild der unbekannten Toten hielt González auf einem gemusterten
       Bettüberwurf großformatig fest. Andere Arbeiten zeigen in leuchtenden
       Farben die internationalen und lokalen Celebrities jener Jahre wie Jacky
       Kennedy, Queen Elizabeth oder den kolumbianischen Radrennfahrer Lucho
       Herrera.
       
       Nicht zuletzt wegen der von ihr aufgegriffenen populären Sujets wurde
       Beatrix González, die schon 1971 an der Biennale in São Paulo teilnahm,
       vielfach als lateinamerikanische Pop-Art-Künstlerin bezeichnet. Doch sie
       selbst sah diese frühen Arbeiten eher als Antwort aus der „Peripherie“ auf
       jene Kunstrichtung der 1960er Jahre. Zu verschieden war die
       gesellschaftliche Realität Kolumbiens, das, seit 1948 politisch
       destabilisiert, bürgerkriegsähnliche Zustände und mehrere Phasen der Gewalt
       bis in die Gegenwart erlebt hat.
       
       ## Holzimitat und Emaillefarben
       
       In den 1970er begann González, Bettgestelle aus Holzimitat, Tabletts,
       Fernseher sowie günstige Anrichten und Kommoden mit Malerei zu kombinieren.
       Dazu griff sie zu Emaillefarben, die sie auf Metallplatten auftrug. Eine
       große Kollektion dieser hybriden, lebendig wirkenden Objekte ist in der
       Haupthalle ausgestellt. In deren Hintergrund hängt eine zwölf Meter breite
       Replik von Manets „Frühstück im Grünen“.
       
       So spielt Telón de la móvil y cambiante naturaleza“ (dt: „Vorhang einer
       mobilen und wechselhaften Natur“) von 1978 auf humorvolle Weise mit dem
       Umstand, dass die Meisterwerke der europäischen Kunstgeschichte in
       Lateinamerika nur noch als verblasste Kopie ankommen. Daneben zeigt
       „Decoración de interiores“ (dt.: „Innenausstattung“), ein im
       Siebdruckverfahren 1981 hergestellter Vorhang in Gelb-, Schwarz- und
       Grüntönen, eine private Abendgesellschaft des kolumbianischen Präsidenten
       Julio César Turbay (1978–1982). Beide Wandarbeiten wurden auf der Documenta
       2017 ausgestellt.
       
       Doch solch eher tragischkomischen Sujets verschwinden seit 1985, nach der
       Erstürmung des Justizpalasts in Bogotá vollständig aus den Arbeiten von
       Beatriz González. Sie zeigen nun vermehrt ländliche Szenen in dunklen
       Farben, auf denen Figuren als Umrisse auf der Leinwand festgehalten sind.
       Die Bilder handeln vom Schmerz und der Trauer der Opfer, von der Gewalt
       besonders in den Provinzen. So vereint „La pesca milagrosa“ (dt.: „Der
       wundersame Fang“) im Jahr 1991 einen Fischer, eine Badende und eine
       schwimmende Leiche in einer düsteren Flusslandschaft.
       
       Anlässlich der Eröffnung in den Kunstwerken zeigt sich die 80-jährige
       Künstlerin im Gespräch sichtlich zufrieden mit der großen Retrospektive in
       Europa und die damit verbundene späte internationale Anerkennung ihrer
       Arbeit außerhalb Kolumbiens. Noch sehr gut erinnert sie sich an ihre
       Teilnahme an der Biennale in São Paulo, als ihre leuchtend bunten Arbeiten
       in einem Meer von schwarz-weißer Konzeptkunst völlig aus dem Rahmen fielen.
       Die Berliner Ausstellung von Beatriz González gelingt es, eine Lücke zu
       schließen, indem sie parallelen künstlerischen Entwicklungen Sichtbarkeit
       verleiht, die lange Zeit ignoriert wurden. Schließlich kann die Welt nicht
       nur von einem Standort aus betrachtet werden.
       
       6 Nov 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eva-Christina Meier
       
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