URI: 
       # taz.de -- Italiens Schuldenstreit mit der EU: Wir machen Schulden, basta!
       
       > Warum braucht es eine rechtspopulistische Regierung, um gegen das
       > Spardiktat aus Brüssel aufzumucken?
       
   IMG Bild: Die Koalition in Rom unter Luigi Di Maio und Matteo Salvini (im Bild) will weg vom Sparkurs
       
       Berlin/Rom/Brüssel taz | Sparen, Ausgaben kürzen, sparen, bis die
       ökonomischen Kennziffern stimmen, ohne Rücksicht auf die Menschen vor Ort –
       so sieht die Haushaltspolitik aus, die Brüssel seit der Eurokrise von den
       Staaten der Währungsunion verlangt. Derzeit [1][probt die italienische
       Regierung den Aufstand] dagegen, weil sie mehr Schulden machen will, um
       Rentner zu entlasten und eine Grundsicherung zu finanzieren. Es ist die
       unterirdische Regierung mit dem Innenminister Matteo Salvini, der Schiffe
       mit Geflüchteten [2][durch das Mittelmeer irren lässt].
       
       In dieser Situation steckt ein veritables Dilemma. Es geht nicht um eine
       neue Euro-Krise. Sondern darum, dass es ausgerechnet erklärte Europafeinde
       sind, die in ihrem Land eine neue Sozialpolitik durchsetzen wollen – was
       offenbar nicht mit, sondern nur gegen die EU geht.
       
       Der Reihe nach. Der zentrale Punkt im Konflikt der Italiener mit Brüssel
       ist die Neuverschuldung von 2,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die das
       Land 2019 anpeilt. Zwar erlaubt der Vertrag von Maastricht drei Prozent,
       eine Hürde, die viele Staaten oft gerissen haben. Aber der während der
       Eurokrise geschlossene Fiskalpakt verpflichtet die Euroländer zu weit mehr:
       Wer beim Gesamtschuldenstand über 60 Prozent liegt, muss Schulden abbauen.
       Italien hat 130 Prozent.
       
       Die Koalition in Rom zwischen der 5-Sterne-Bewegung unter Luigi Di Maio und
       der Lega unter Matteo Salvini wollen trotzdem weg vom Sparkurs. Versprach
       die Vorgängerregierung Brüssel noch eine Neuverschuldung von 0,8 Prozent,
       will die Koalition jetzt einen expansiven Haushalt: Weg von der Austerität,
       um Wachstum zu ermöglichen. Schon im Wahlkampf hatten sowohl die Fünf
       Sterne als auch die Lega immer wieder deutlich gemacht, wie wenig sie von
       der EU und dem Fiskalpakt halten.
       
       Um diesen Eindruck zu zerstreuen, ließ Salvini schon Ende Mai 2018 zur
       Regierungsbildung in großen Lettern auf der Fassade des Parteisitzes in
       Mailand den Slogan „Basta Euro!“ überpinseln. Der Freund von Marine Le Pen
       steht trotzdem in Verdacht, die EU und den Euro sprengen zu wollen. Seine
       Ansagen Richtung EU sind oft herablassend, manchmal verachtend. Er spreche
       „nur mit nüchternen Leuten“, sagte Salvini oft und bezeichnete
       EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker damit als Trunkenbold.
       
       In der Haut des parteilosen Ministerpräsidenten Giuseppe Contes möchte man
       dieser Tage also nicht stecken. Am Mittwoch und Donnerstag lief er mit der
       immer gleichen Botschaft durch Brüssel, wo er sich zum EU-Gipfel aufhielt:
       Seine Regierung habe einen „schönen Haushalt“ vorgelegt, und über den werde
       es natürlich einen „konstruktiven Dialog“ mit der EU-Kommission geben.
       
       Der sah dann so aus: EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici überreichte
       in Rom einen blauen Mahnbrief, in dem er auf „beispiellose“ Abweichungen
       von den Haushaltsregeln der EU hinweist. Angesichts der Schuldenquote des
       Landes sei eine „explosive Lage“ entstanden, warnte Moscovici weiter. Auch
       die deutschen Abgeordneten im Europaparlament schäumten. „Mit diesem
       Haushaltsentwurf strecken Salvini und Di Maio Europa die Zunge raus“,
       schimpfte der CSU-Finanzexperte Markus Ferber. Das sei ein „Affront“, auf
       den die Kommission sofort reagieren müsse. Noch weiter ging der grüne
       EU-Abgeordnete Sven Giegold. Er hatte bereits Ende September ein
       Defizitverfahren gegen Italien gefordert – da lag der Budgetentwurf noch
       nicht einmal vor.
       
       Gleichzeitig sprach sich Giegold jedoch auch für eine Reform des
       Stabilitätspakts aus, der zu prozyklisch ausgerichtet sei. „Verschuldete
       Länder haben kaum Chancen, durch Investitionen ihre Wirtschaft
       wiederzubeleben“, kritisierte Giegold. Mit dem Bruch der Regeln habe
       Italien dieser überfälligen Reform aber einen „Bärendienst erwiesen“, so
       der grüne Finanzexperte.
       
       ## Das gebeutelte Land
       
       Damit verwies er auch auf die realen Probleme Italiens, mit der die
       römische Regierung umgehen muss. Und das findet sogar bei den
       Gewerkschaften Anerkennung. Susanna Camusso, Vorsitzende des größten
       Gewerkschaftsbunds, CGIL, sieht gleich in drei Maßnahmen eine neue „soziale
       Dimension“: im Grundeinkommen, in der Senkung des Renteneintrittsalters und
       in der Aufrechterhaltung sozialer Puffer wie dem Kurzarbeitergeld, das in
       vielen Fällen auslaufen sollte.
       
       So ist das „Bürgereinkommen“, das ab März 2019 gewährt werden soll,
       [3][eine universelle Grundsicherung] für alle, die über weniger als 780
       Euro im Monat verfügen. Wer arbeitet und weniger verdient, bekommt eine
       Aufstockung, wer gar nichts hat, erhält den vollen Betrag – muss aber dem
       Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Und auch arme Rentner sollen in Zukunft
       die „Bürgerrente“ in gleicher Höhe erhalten.
       
       Von bis zu 6,5 Millionen Anspruchsberechtigten ist die Rede. Fünf Millionen
       Menschen in Italien leben in absoluter Armut, die Hälfte von ihnen lebt im
       Süden. Viele dieser Menschen fielen bisher durch alle sozialen Netze.
       Entgegen der allgemeinen deutschen Wahrnehmung ist Italien kein
       Sozialstaatsparadies: Die Pro-Kopf-Ausgaben der öffentlichen Hand sind seit
       1991 kaum gestiegen, sie liegen mit 12.966 Euro pro Jahr niedriger als in
       Deutschland (15.418 Euro) oder Frankreich (18.027 Euro).
       
       Die öffentlichen Investitionen etwa in Straßen, Schienen oder Schulden
       haben sich seit 2010 fast halbiert. Ausgaben für Gesundheit und Bildung
       gehen permanent zurück – die Regierungen haben beispielsweise die
       Unterstützung für Studierende aus Familien mit niedrigem Einkommen
       zusammengestrichen.
       
       Die Beispiele zeigen, dass sich die letzten Regierungen in Rom weitgehend
       an die Vorgaben aus Brüssel gehalten haben und trotzdem blieb das Wachstum
       hinter dem EU-Schnitt zurück. Der Schuldenberg ist nach jahrelanger
       Austeritätspolitik nicht geschrumpft, er verharrt auf gefährlich hohem
       Niveau.
       
       All das erwähnt die EU-Kommission aber nicht. Gravierend hinzu kommt, dass
       die realen Löhne in Italien seit der Jahrtausendwende fast stagnieren – wo
       die Leute wenig Geld in der Tasche haben, wächst die Wirtschaft auch nicht.
       
       Auch die Rentenreform der Regierung in Rom lässt sich sozial rechtfertigen.
       Sie korrigiert eine Reform von 2011, als das Rentenalter auf 67 Jahre
       angehoben wurde. In Zukunft sollen alle mit mehr als 38 Beitragsjahren im
       Alter von 62 in Rente gehen können. So würden auch, erklärte Di Maio,
       Arbeitsplätze für Jüngere frei.
       
       ## Wer ist hier sozial?
       
       Für die EU steht im Budgetstreit mit Italien also viel auf dem Spiel. Da
       geht es zum einen um die Glaubwürdigkeit des Stabilitätspakts für den Euro.
       Zum anderen geht es um die Frage, wie die EU endlich wegkommt vom Image
       sozialer Kälte. Die EU-Kommission hat versprochen, eine „Säule sozialer
       Grundrechte“ aufzubauen und sozialpolitische Aspekte bei der Wirtschafts-
       und Finanzpolitik stärker zu berücksichtigen.
       
       Sozialreformen kosten nicht nur, sie schaffen oft auch Kaufkraft und damit
       Nachfrage und Wachstum, außerdem sorgen sie für politische Stabilität, was
       auch gut für die Wirtschaft ist. Das könnte künftig bei der Überwachung von
       Haushaltsdisziplin stärker berücksichtigt werden. Im Streit mit Italien
       geht Moscovici jedoch mit keinem Wort darauf ein. Soziale Sicherheit und
       Stabilität spielen immer noch eine Nebenrolle.
       
       Beim EU-Gipfel am Donnerstag bekam die Kommission dafür Rückendeckung. Vor
       allem die Niederlande und Österreich forderten ein hartes Durchgreifen
       gegen die „Schuldensünder“. Auch Deutschland gehört [4][wie schon in der
       Griechenlandkrise 2015] zu den Hardlinern.
       
       Doch diesmal agiert die Bundesregierung lieber geräuschlos hinter den
       Kulissen. Grund dürfte die Sorge sein, dass das ohnehin schlechte Image
       Deutschlands in Italien noch mehr leiden könnte, wenn man sich zu weit aus
       dem Fenster lehnt.
       
       Ganz andere Töne kommen aus dem Wirtschafts- und Sozialausschuss in
       Brüssel, der die EU-Kommission berät. Die Vorsitzende der
       Arbeitnehmergruppe, Gabriele Bischoff, fordert die EU-Behörde auf, im
       Streit über das italienische Budget auch sozialpolitische Aspekte zu
       berücksichtigen. „Die Fünf-Sterne-Bewegung begründet die neuen Schulden
       auch mit der Einführung einer Grundsicherung“, sagte sie im Gespräch mit
       der taz. Die EU-Kommission dürfe darüber nicht einfach hinweggehen. „Das
       ist ein wichtiger Test für die soziale Säule“, so die SPD-Politikerin.
       
       Martin Schirdewan, der für Die Linke im EU-Parlament sitzt, kritisiert,
       dass nationale Regierungen wegen des Fiskalpakts keinen Spielraum für
       Sozialreformen haben. Dadurch würden Regierungen wie die in Rom erst an die
       Macht gespült. „Rechtspopulistische Sozialreformen richten sich immer an
       die Teile der Gesellschaft, die ins Bild der Parteien passen“, sagt er.
       Migranten und andere Minderheiten würden dagegen ausgeschlossen.
       Sozialpolitik könne man das kaum nennen.
       
       19 Oct 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Italien-macht-neue-Schulden/!5539677
   DIR [2] /Debatte-Lampedusa-Unglueck/!5540360
   DIR [3] /Einfuehrung-von-Grundsicherung/!5543752
   DIR [4] /Krisenlaender-zu-Euroreformen/!5513098
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Braun
   DIR Eric Bonse
   DIR Ingo Arzt
       
       ## TAGS
       
   DIR Italien
   DIR Europäische Union
   DIR Eurokrise
   DIR Schuldenkrise
   DIR Sozialpolitik
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR BSW
   DIR Italien
   DIR Europäische Kommission
   DIR Movimento 5 Stelle
   DIR EU-Kommission
   DIR Italien
   DIR Italien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Gregor Gysi über die Zukunft Europas: „Bricht die EU, kommt der Krieg“
       
       Gregor Gysi übt scharfe Kritik am Kurs der Kanzlerin während der Eurokrise.
       Er rechnet damit, dass bei der Europawahl 2019 EU-Gegner auftrumpfen.
       
   DIR Interview zum Streit Italien/EU: „Armut destabilisiert Italien“
       
       Rom beharrt darauf, mehr Geld auszugeben als von der EU-Kommission
       erwünscht. Die Ökonomin Antonella Stirati sieht ihr Land im Recht.
       
   DIR Kommentar EU-Streit mit Italien: Kalter Krieg in Brüssel
       
       Der Kollisionskurs der Regierung in Rom könnte nicht nur Italien ins
       Börsenchaos stürzen. Auch die EU riskiert eine Krise der Eurozone.
       
   DIR Brüssel lehnt Italiens Haushaltsentwurf ab: Ein Novum in der Geschichte der EU
       
       Gravierend, ja beispiellos nennen es die EU-Kommissare, dass Italien eine
       zu hohe Neuverschuldung anpeilt. Rom könnten Geldstrafen und Kürzungen
       drohen.
       
   DIR Staatsdefizite in der Eurozone: Brüssel rüffelt nicht nur Italien
       
       Auch Frankreich, Spanien und Portugal bekommen einen blauen Brief der
       EU-Kommission. Die Begründung ist jedoch selbst unter Ökonomen umstritten.
       
   DIR Kommentar Haushaltsstreit Italien/EU: Der kommende Aufstand
       
       Wenn die Eurozone auseinanderbricht, dann nicht etwa wegen Griechenland,
       sondern wegen Italien. Niemand sollte sich in Sicherheit wähnen.
       
   DIR Einführung von Grundsicherung: Hartz IV auf Italienisch
       
       In Italien sollen Arbeitslose und arme Rentner künftig 780 Euro erhalten.
       Das System ähnelt Hartz IV – und erhöht die geplante Neuverschuldung.