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       # taz.de -- Niedersachsen ist Pferdeland: Wo der Gaul eine Lobby hat
       
       > Die Heide ist ein idealer Ort zum Reiten. Für Ranchurlaube,
       > Planwagenfahrten, Gourmet-Ritte oder um nur die Natur zu genießen.
       
   IMG Bild: Mit dem Pferdewagen durch die Lünebuger Heide
       
       Der Wanderritt auf einem Pferd fühlt sich sehr eigen an. Ein unregelmäßiger
       Takt, während die Hufe mal tief einsinken, mal klackern auf Asphalt.
       Ticktack, ticktack. Als Anfänger in der Lüneburger Heide auszureiten, ist
       ein bisschen, als müsse man ein Kind auf Japanisch erziehen. In einer
       fremden Sprache, in der ich keine Autorität habe; reich an
       Missverständnissen, tastend nach Vertrauen. Mein Pferd, der schwarze
       Saphir, schwitzt in der Wärme. Die Tropfen rinnen durch sein Fell. Sein
       Rücken schaukelt, als wir uns auf dem Sandweg bewegen, vorbei an sanft lila
       blühender Heide, an Wacholdersträuchern und vereinzelten Kiefern, weiter
       durch eine Furt.
       
       Die Wanderreitführerin Katrin Maerten reitet vor. Sie leitet mich durch
       die Lüneburger Heide auf einem Wanderritt, der offiziell keiner ist. Die
       Wanderritte, die Maerten üblicherweise anbietet, dauern meist drei bis vier
       Tage und gehen von Station zu Station. Dafür aber braucht es Übung. Katrin
       Maerten, mit B-Trainer-Lizenz der Deutschen Reiterlichen Vereinigung,
       sitzt im Sattel, seit sie sechs Jahre alt war. Sie spricht über Pferde, als
       seien es ihre Kinder, und über den Weg, als sei er auch für sie jedes Mal
       wieder eine Entdeckung.
       
       Die verschiedenen Grüntöne. Die Arten der Heide, lila blühende und weiße.
       Einmal erzählt sie, sie wolle Wanderritte durch die Lüneburger Heide, ihrem
       überwiegenden Trainingsgelände, nicht allzu oft anbieten. „Ich will nicht
       an den Punkt kommen, zu sagen: Hier auf der rechten Seite sehen Sie gleich
       folgenden Baum.“ Und die Wahrheit ist auch: Berufliche Wanderreitführerin
       lohnt sich nicht.
       
       Pferdetourismus hat viel mit Hingabe zu tun, wenig mit Gewinnmargen.
       Niedersachsen ist das Kernland der Verflechtung von Pferdeliebe und
       Pferdegeschäft. Und ein Gesetz hilft. Denn das Niedersächsische Gesetz über
       den Wald und die Landschaftsordnung gestattet Reiten auch auf Fahrwegen,
       solange ganzjährig gewöhnliche Autos darauf dürfen. Das gibt Reitern
       Freiheit.
       
       Laut der Deutschen Reiterlichen Vereinigung sind in Niedersachsen 50.000
       bis 70.000 Arbeitsplätze vom Pferd abhängig. Die 2016 herausgegebene
       Lobby-Broschüre „Wirtschaftsfaktor Pferd“ behauptet einen jährlichen
       Gesamtumsatz von 900 Millionen Euro rund um Pferdesport. Katrin Maerten
       formuliert es so: „Wir sind in der Heide eine so genannte strukturschwache
       Region. Pferde haben bei uns eine größere Lobby als anderswo.“
       
       ## Ein traditionelles Pferdeland
       
       Küste und Strand, Watt und Meer, Wald und Heide: Niedersachsen ist ein
       farbiger Flickenteppich der Vielfalt. Und alternde Königin des
       Reittourismus. „Es ist ein traditionelles Pferdeland mit vielen Züchtern,
       die aus alten Reiterfamilien kommen“, sagt Ulrike Franke von BTE Tourismus.
       
       Franke hat die letzte große Studie zu Pferdetourismus in Deutschland mit
       verantwortet. Sie legt nahe: Das Pferd als Wirtschaftsfaktor ist ein
       Überlebenskünstler. Nicht immer freiwillig und sinnig. Das Duhner
       Wattrennen, auch das findet in Niedersachsen statt, steht seit Jahren wegen
       Tierquälerei unter massiver Kritik.
       
       Wir ziehen weiter durch die Heide. Reiten ist archaisch. Ein bewusstes
       Erleben statt schnellen Konsums, ein Gefühl, bei dem man Wind, Sandboden
       und Pferdemähne spürt. Den allmählichen Übergang beobachtet, wenn in der
       Lüneburger Heide der Kiefernwald zu Mischwald wird und der Mischwald zu
       Laubwald. Reiten erfordert mehr als Schwimmen oder Fahrrad fahren: Man muss
       sich einlassen, Empathie entwickeln. Loslassen. Die Natur hat sich um uns
       gelegt wie eine Decke.
       
       Schon vor einigen Jahren stellte das HorseFuturePanel eine „Verschiebung
       weg vom klassischen Turniersport hin zu alternativen Reitweisen“ fest.
       Reitsportvereine kämpfen mit rückläufigen Mitgliederzahlen, alternative
       Konzepte dagegen wachsen.
       
       „Der Pferdesport befindet sich im Umbruch“, bestätigt Ulrike Franke. „Der
       Trend geht weg von der Leistungs- und hin zur Naturorientierung. Viele
       Reiter bevorzugten entspannte Ausritte in der Landschaft.“ Und: „Viele
       wünschen sich ein sicheres, organisiertes Abenteuer.“ Sie erzählt von
       Ranchurlauben mit Lagerfeuerromantik, Planwagenfahrten mit
       Posträuberüberfall oder Gourmet-Ritten. Es geht aber auch viel einfacher.
       
       Ein Nachmittag auf dem Reiterhof Cohrs am Rande des Naturschutzgebiets.
       Drei Teenagerinnen haben sich um ihre Pferde gruppiert. Sie striegeln und
       tätscheln und finden alles supersüß, machen Handyfotos. Die drei Mädchen,
       Reitschülerinnen, sind so etwas wie die Kernzielgruppe der
       Pferdetourismusindustrie. Wer über Reiten redet, muss auch über das
       Mädchending reden. Für Männer ist es schwer geworden, das Pferd gut zu
       finden. Reiten war mal Wildwest, heute ist es rosa Glitzer und die Wendy.
       Laut Studie sind 88 Prozent der Pferdeurlauber weiblich. Jahrelange Werbung
       für eine Zielgruppe hat eine sehr begrenzte Klientel geschaffen. Heute
       bemüht man sich, Reiterhofangebote für Jungs zu machen. Oft heißen sie
       Fußball.
       
       ## Ein Familienhof wie aus dem Bilderbuch
       
       Henrike Meyer geht die Ställe ab. Der Reiterhof Cohrs ist ein Familienhof
       mit Bilderbuchcharakter, mit Pferden und Ponys, Kleintieren, großzügigen
       Weiden und Heuboden. „Die Familien kommen vor allem, weil sie einen
       Reiterhofurlaub machen wollen“, sagt sie, „nicht so sehr wegen der
       Lüneburger Heide. Bei Urlaubern mit eigenem Pferd ist es anders: Sie kommen
       vor allem wegen der Landschaft.“
       
       Meyer ist eine, die mit Pferdeliebe in der Region groß wurde: Aufgewachsen
       direkt um die Ecke im Ort Bispingen, ging sie zum Studium nach Stuttgart
       und Kiel – und kam wieder. „Ich bin ein Landei“, sagt sie. Auf den
       Reiterhof Cohrs ging sie eigentlich nur für einen Sommerjob und wurde
       rechte Hand der Inhaberin Marianne Cohrs. Es ist harte Arbeit, in der
       Hochsaison oft elf oder zwölf Stunden am Tag. Das Geld kommt vor allem
       durch die Ferienwohnungen; Reitunterricht allein macht kaum jemanden
       reich. Und Pferde sind teuer.
       
       Der Pferdeurlauber ist Überzeugungstäter. Im Schnitt seit 25 Jahren aktiver
       Reiter, 21 Stunden pro Woche im Reitstall. Und in Heimatnähe unterwegs.
       Vormittags Reitunterricht und nachmittags Ausritte, Stockbrot und
       Ponyspiele, viele Familien, die jedes Jahr wiederkommen. Viele Städter
       kommen aus der Umgebung: In diesem Fall aus Bremen, Berlin, Hamburg und
       Hannover. Wer vom Land kommt, bringt das Reittier oft mit. Meyer sagt:
       „Hier hat ja jeder Zweite sein eigenes Pferd.“
       
       Stammkundschaft und Mundpropaganda, danach funktionieren bis heute viele
       Höfe. Ist das zukunftsfähig? Frankes Studie fordert mehr Schnupperangebote
       für Einsteiger; auch Vernetzung ist schon länger ein deutschlandweites
       Thema. Und neuerdings die Reiseziele. „Was die Reiseziele für
       Pferdetourismus in Deutschland betrifft, ergeben sich deutliche Hinweise
       auf Verschiebungen“, sagt Ulrike Franke. Weg aus Niedersachsen, hin nach
       Schleswig-Holstein oder Mecklenburg-Vorpommern.
       
       ## Noch liegt Niedersachsen vorn
       
       „Vielleicht hat sich Niedersachsen zu lange ausgeruht.“ Der Aufstand aus
       Nordost gegen die alte Königin, das ist bislang eher ein Flackern am
       Horizont. 49 Prozent der Befragten von 2017 gaben an, den letzten
       Pferdeurlaub in Niedersachsen gemacht zu haben. Das zweitplatzierte NRW kam
       auf 28 Prozent.
       
       Wenn es wirklich etwas gibt, was den Pferdesport und Pferdetourismus
       deutschlandweit beunruhigt, dann eher: Lange Schulzeiten.
       Breitensportvereine aller Couleur klagen über die Ganztagsschule; bei einem
       zeitintensiven Hobby wie Reiten ist sie besonders spürbar. Der
       Pferdeurlauber altert; der Zugang zu Pferden wird für Kinder schwieriger.
       Schulen und Kindergärten sollen vermehrt mit Reitsportvereinen kooperieren.
       Rund 1.800 Kooperationen gibt es aktuell. Das Pferd zum Kind, statt das
       Kind zum Pferd. Wieder ein Weg in die Moderne.
       
       Wanderritt, letzte Etappe vor dem Umkehren. Wir machen Halt im kleinen,
       autofreien Örtchen Wilsede mitten im Naturschutzgebiet Lüneburger Heide.
       Die Restaurants haben selbstverständlich Stellplatzmöglichkeiten für
       Pferde; daneben ist ein Parkplatz für Kutschen. Der Kutscher,
       unbeschäftigt, schaut träge vor sich hin. Nach dem Essen kommen wir zurück
       zum Stellplatz und erschrecken. Katrin Maertens Pferd ist weg. Der
       Kutscher sitzt noch da. „Ihr Pferd ist eben weggelaufen“, sagt er
       ungerührt. Ob er gesehen hat, wohin? „Nee.“ Ist es denn schon lange weg?
       „Ach nee, ich glaube nicht.“
       
       Nach einigem Suchen und einem Rückruf vom Hof Cohrs stellt sich heraus: Das
       Pferd ist nach Hause gelaufen. Nicht in sein angestammtes Zuhause, sondern
       zum Hof Cohrs, wo es übergangsweise mit seinen Herdenmitgliedern steht.
       „Ist das nicht faszinierend?“, fragt Katrin Maerten. Sie macht sich auf den
       Rückweg, zu Fuß.
       
       13 Oct 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alina Schwermer
       
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