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       # taz.de -- Französische Avantgarde im Comic: Ästhetik der Pariser Bohème
       
       > Das Untergrundleben einer anarchistischen KünstlerInnengruppe: Davon
       > erzählt mit feiner, origineller Linie „Der Bücherdieb“.
       
   IMG Bild: Szene aus dem besprochenen Comic
       
       Durch die erste Szene wird gewetzt. Ein junger Typ im Anzug lässt in einem
       kleinen Pariser Buchladen ein Buch mitgehen. Draußen nimmt er die Beine in
       die Hand. Der Buchhändler aber auch. Mitten in die Verfolgungsszene
       hineingeschnitten wird die Erinnerung des Diebs an ein wichtiges Ereignis
       vom Vortag.
       
       Dieses Erzählprinzip ist typisch für die neue Graphic Novel „Der
       Bücherdieb“ von Alessandro Tota und Pierre van Hove. Im spannendsten Moment
       gibt es einen Szenenwechsel oder eine Rückblende. Es ist das Jahr 1953.
       Damals trug ein Jurastudent wie der tragikomische Protagonist Daniel Brodin
       Anzug und Krawatte und kämmte sein Haar streng zurück. Nebenbei ist dieser
       ein leidenschaftlicher Leser, Bücherdieb und Möchtegernpoet.
       
       In der ersten Rückblende erfahren wir: Daniel besuchte am Vorabend mit
       seiner von ihm angehimmelten Kommilitonin Nicole einen Dichterwettstreit im
       Café Serbier, wo sich die gerade angesagtesten Dichter der
       Existenzialistenszene treffen. Dort fühlt er sich spontan berufen, selbst
       mitzumachen. Sein mitreißender Vortrag von der „Hirtenhündin“ begeistert
       den versnobbten Zirkel aus dem Stand und beschert Daniel weitere
       Einladungen.
       
       Nur ein Gast gibt ihm leise zu verstehen, dass das Gedicht geklaut ist – es
       entstammt einer Sammlung von Versen geisteskranker italienischer Dichter.
       
       ## Abseits der etablierten Kunstszene
       
       Daniel macht kurz darauf noch die Bekanntschaft mit einer Gruppe junger
       Bohèmiens, die sich um den düster dreinblickenden Gilles versammelt. Diese
       anarchistischen Avantgardisten scheuen jede Arbeit, betrinken sich
       andauernd in Kaschemmen und wollen wahrhaftige Antikunst machen. Für die
       arrivierte Literatenszene um Jean-Paul Sartre oder die Surrealisten haben
       sie nur Verachtung übrig.
       
       Auf einem Salon gibt Gilles eine Vorstellung von seiner Poesie, einer
       Form von Lautmalerei ohne jeden Sinn. Ein kalkulierter Eklat, es kommt zu
       Handgreiflichkeiten.
       
       Szenarist Alessandro Tota und Zeichner Pierre van Hove, zwei im heutigen
       Paris lebende Künstler, haben sich für ihre amüsante wie originelle Graphic
       Novel von einer Epoche anregen lassen, in der sich zahlreiche
       literarisch-künstlerische Bewegungen in der Seine-Metropole bildeten.
       
       ## Sabotage als wesentliches Mittel
       
       Vorlage für die Avantgardeclique um Gilles war laut Tota (Jahrgang 1982)
       vor allem die Bewegung des „Lettrismus“, die 1945 von Isidore Isou in Paris
       gegründet wurde, dadaistische wie surrealistische Ideen aufgriff und in
       ihren Performances Wörter zerlegte und Lautgebilde produzierte. Ziel war
       die Lettristische Revolution und ein Aufstand der Jugend.
       
       Ein radikaler Kern der Gruppierung spaltete sich ab zur „Lettristischen
       Internationale“, die Sabotage als wesentliches Mittel ihrer Kunstaktionen
       verstand. Später ging daraus auch die „Situationistische Internationale“
       hervor, die in der 68er Zeit eine Rolle spielte.
       
       Tota und van Hove nehmen diese Inspirationen auf und gehen doch sehr frei
       mit ihnen um. Alle Hauptfiguren sind fiktive Charaktere, vielleicht lose
       angelehnt an manche Protagonisten der genannten Bewegungen.
       
       ## Präziser, lässiger Stil
       
       Dem 1974 geborenen früheren Trickfilmzeichner van Hove gelingt in seinem
       Comicdebüt eine atmosphärisch äußerst dichte Nachbildung vom Paris der
       Nachkriegszeit – insbesondere von Saint-Germain-des-Prés. Akribisch
       studierte er das Aussehen der Straßen in alten Fotobänden und verlieh so
       seinen elegant getuschten Schwarzweißzeichnungen hohe Glaubwürdigkeit.
       Dabei bleibt er sehr locker im Strich, was seinen dezent karikiert
       gezeichneten Figuren Leichtigkeit verleiht.
       
       Mit dem unsicher auftretenden, dabei oft sich selbst überschätzenden
       Antihelden Daniel Brodin haben die beiden Autoren einen sympathischen
       Hochstapler zur Hauptfigur gemacht. Er pendelt zwischen den verlockenden
       Milieus der Bohème, der Salonliteraten und seiner bodenständigen Familie
       hin und her.
       
       Der Leser leidet mit ihm mit, da er stets droht, „aufzufliegen“, und
       zunehmend den Boden unter den Füßen verliert. In ironischem Kontrast zu ihm
       steht die sehr von sich selbst überzeugte Gruppe junger Pseudopoeten, die
       jenseits ihrer weltbewegenden Kunst allesamt Alkohol- und Drogenprobleme
       haben und von Diebstählen leben.
       
       ## Filmische Aussichten
       
       Aus der Figurenschar ragt ein Charakter heraus, der alle anderen an
       Charisma aussticht. Es ist Jean-Michel, ein plumper Riese mit
       Schlägervisage. Seine lange blonde Mähne, die meist die Augen verdeckt, und
       seine Statur mögen manchem Cineasten bekannt vorkommen: Jean-Michel ist dem
       jungen Gérard Depardieu nachempfunden, so wie er etwa im 70er-Jahre-Film
       „Die Ausgebufften“ als Vagabund auftrat.
       
       In Gilles’ Clique spielt Jean-Michel die Rolle des Leibwächters, und seine
       Aura der Brutalität macht ihn auch in besseren Kreisen interessant. Am Ende
       wird er Daniel den nötigen Schubs für seine Dichtkunst verpassen, indem er
       ihm Gelegenheit gibt, am „richtigen Leben“ teilzuhaben.
       
       „Der Bücherdieb“ ist ein kunstvoll erzählter grafischer Entwicklungsroman
       und zugleich eine süffisante Parodie auf alle Kunst- und Jugendbewegungen,
       die Anspruch auf Absolutheit erheben. Es verwundert nicht, dass die Graphic
       Novel verfilmt werden soll. Das Autorenteam ist am Drehbuch beteiligt. Die
       Frage bleibt nur: Wer spielt Jean-Michel?
       
       20 Oct 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralph Trommer
       
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