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       # taz.de -- Kommentar EU-Beziehungen zu Russland: Keine Missionare, bitte!
       
       > Wie können die Chancen für eine Demokratisierung Russlands steigen? Wenn
       > das Land nicht an westlichen Normen gemessen wird.
       
   IMG Bild: Keine Klischees, bitte: Kreml bei Nacht
       
       Russlands Rolle in Europa und die russisch-europäischen Beziehungen waren
       stets ein heikles Thema. Die internationalen Beziehungen werden heute
       größtenteils unter ideologischen Prämissen und mit Betonung von „Werten“
       betrachtet. Doch es sind immer noch harte Interessen, die weltweit die
       Außenpolitik prägen.
       
       Die EU, Europa und Russland haben viele gemeinsame Interessen, wenn es um
       Wirtschaft, Politik und vor allem um Sicherheit und Frieden geht. Wir sind
       Zeugen einer langsamen und wohl unvermeidlichen globalen Verschiebung der
       wirtschaftlichen und politischen Macht in Richtung Asien und hin zu einer
       multipolaren Weltordnung. Die Finanzkrise von 2008 hatte weltweite Folgen,
       aber für den Westen – das Zentrum der alten Weltordnung – stellte sie seine
       Hegemonie infrage. Sie weckte Zweifel an der Allgemeingültigkeit des
       neoliberalen Wirtschaftsmodells für die Länder der Peripherie – also all
       die höchst verschiedenen Gesellschaften, die historisch einem anderen
       Entwicklungsmodell folgten als der Westen.
       
       Die Krise vertiefte die Widersprüche der neoliberalen Modelle und förderte
       neonationalistische und rechtspopulistische Antworten auf das Scheitern des
       Neoliberalismus.
       
       Russland ist als eine wichtige Großmacht der Peripherie Teil dieser
       Geschichte. Auf die Fehlschläge bei der postsowjetischen Transformation
       folgten nationalistische Antworten mit autoritärem und konservativem
       Einschlag. Diese Tendenz verstärkte sich ab 2008. Gleichzeitig bestärkte
       die Wirtschaftskrise die russische Sichtweise, von innen und außen bedroht
       zu sein. Das Regime versuchte daraufhin, diesen eingebildeten oder
       tatsächlichen Bedrohungen entgegenzuwirken. Dies bedeutete auch, die vom
       Westen und Europa betriebene Festschreibung von Normen offen
       zurückzuweisen. Die Botschaft ist eindeutig: Russland wird sich nicht
       demütig dem Westen unterwerfen; es will selbst Normen setzen.
       
       Die Europäische Union gründet auf die Macht von Normen. Man kann auch von
       „soft power“ sprechen oder von der „Macht der Verführung“ – ein Narrativ,
       das nicht von politischen oder wirtschaftlichen Beziehungen ausgeht,
       sondern davon handelt, wie sich die Gesellschaften der Peripherie dem
       Zentrum angleichen sollen. Dies verleugnet, dass die kapitalistische
       politische Ökonomie das Gegenteil diktiert – und dass sich die EU eher als
       ein Motor der Peripherisierung erwiesen hat.
       
       Die Krise der normativen Macht der EU ist mit der Krise von 2008 verknüpft.
       Aber die Wurzeln liegen tiefer: Der Westen verliert zum einen politische
       und wirtschaftliche Macht. Die Krise wurde außerdem kurzzeitig durch die
       neoliberale Wirtschaftsordnung beschleunigt – jenes katastrophale Rezept
       zum sozialen Ausbluten und dem Untergraben der sozialen Stützpfeiler der
       Demokratie. Ebendieser Cocktail struktureller Probleme schuf die
       Voraussetzungen für einen tiefgreifenden Bruch in den Beziehungen der EU
       wie der USA zu Russland.
       
       Tiefere strukturelle Probleme zeigen sich oft in Äußerungen, die kulturell
       konnotiert sind, die dann von „unseren“ und „ihren“ Werten handeln oder die
       eine existenzielle Bedrohung heraufbeschwören. Das kann dann leicht in eine
       kriegstreiberische Rhetorik eskalieren, die übertüncht, dass man die
       eigentlichen Probleme nicht angehen will. Antonio Gramsci lag richtig, als
       er schrieb, dass politische Fragen unlösbar werden, wenn „sie sich als
       kulturelle verkleiden“. Forderungen nach höherer Sicherheit und die damit
       einhergehende Politik, Ängste noch zu schüren, sind weitere Symptome der
       heutigen Krise.
       
       Die Erweiterung der Nato spielt eine unsägliche Rolle bei den Beziehungen
       der EU zu Russland, denn sie verstärkt den Konflikt und verschiebt den
       Fokus auf Militär und Sicherheit. Sie errichtet neue Zäune in Europa. Sie
       begreift Europas Sicherheit als ein exklusives Privileg, das auf bestimmten
       Werten und Ideologien beruht, nicht als gemeinsames Gut, für das man über
       ideologische Differenzen. unterschiedliche politische Systeme und
       auseinanderlaufende Interessen hinwegsehen muss.
       
       In der postimperialen Welt hängt Frieden nicht davon ab, dass alle gleich
       denken, sondern dass man Meinungsverschiedenheiten erträgt. Die
       fortdauernde Verschiebung der Machtzentren scheint für den Westen eine
       große Herausforderung zu sein. Die USA setzen in der Außenpolitik stärker
       auf Eigennutz und Hegemonie – vor allem durch militärische Mittel. Es
       scheint, dass sich der bislang nur wirtschaftliche Konflikt mit China
       ausweiten wird. Russland arbeitet enger mit China zusammen, was China
       stärkt, die Rolle Europas als Modernisierungspartner Russlands aber
       schrumpfen lässt.
       
       China präsentiert ein neues Entwicklungsmodell mit dem Fokus auf dem Ausbau
       von Infrastruktur in all den Gegenden, in denen der Westen scheiterte, also
       in der Peripherie des westlichen Kapitalismus. Doch die EU zögert weiter,
       sich vom neoliberalen Modell und ihrer eurozentristischen Weltsicht zu
       verabschieden. An ihnen festzuhalten heißt, weiter Konflikte zu schüren und
       die Provinzialisierung Europas zu vollenden – bis hin zu einer möglichen
       Auflösung der Europäischen Union.
       
       Die EU und besonders ihre führenden postimperialen Großmächte sollten
       aufhören, Russland durch die Brille „unserer“ Werte und „unseres richtigen
       Lebensstils“ zu betrachten. Die Chancen für eine Demokratisierung Russlands
       sind besser, wenn das Land nicht unter dem normativen Druck Europas steht.
       Stattdessen sollte sich die EU als Gemeinschaft unterschiedlicher
       Gesellschaften darauf konzentrieren, sich im Inneren radikal zu
       demokratisieren und mit dem Ausland friedlich zu koexistieren. Weder
       Russland noch der Rest der Welt hat ein Interesse an anderen
       westeuropäischen Missionaren in neuen Gewändern. Höchste Zeit, das zu
       begreifen.
       
       Übersetzung aus dem Englischen: Stefan Schaaf
       
       20 Oct 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Veronika Sušová-Salminen
       
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