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       # taz.de -- Flüchtlingshilfe in Süditalien: Engagierter Bürgermeister verhaftet
       
       > Domenico Lucano ist für seine Politik bekannt und mit Preisen geehrt
       > worden. Nun wird ihm „Begünstigung der illegalen Einwanderung“
       > vorgeworfen.
       
   IMG Bild: Lucano 2017 in Dresden, als er mit dem „Dresdner Friedenspreis“ ausgezeichnet wurde
       
       Rom taz | Das ist eigentlich Alltag in Süditalien: Ein Bürgermeister wird
       verhaftet, wegen Kontakten zur Mafia, wegen Korruption, wegen Begünstigung
       im Amt. Doch als es am Dienstag Domenico Lucano traf, den Bürgermeister des
       Dorfs Riace in Kalabrien, schlug die Nachricht in Italien wie eine Bombe
       ein.
       
       Denn Domenico Lucano, den in Riace alle nur Mimmo nennen, ist nicht
       irgendwer. Er regiert seit 2004 einen Ort mit bloß 1600 Einwohnern, der
       völlig aus der Welt liegt – doch die Zeitschrift Fortune führte ihn im Jahr
       2016 unter den 50 einflussreichsten Leadern der Welt auf, und Wim Wenders
       kam extra nach Kalabrien, um einen Kurzfilm zu drehen. Einen Kurzfilm über
       die Politik der Flüchtlingsaufnahme, die Lucano in Riace organisiert, ja
       der er sein Leben verschrieben hat.
       
       Eigentlich war der heute 60-Jährige ein ganz gewöhnlicher Chemielehrer, als
       er 1998 am Strand vor Riace ein Schiff sah – ein Schiff mit gut 200 Kurden
       an Bord. Für ihn war klar: Diesen Menschen gebührt Hilfe. Zusammen mit
       Freunden kümmerte er sich um ihre Aufnahme, gründete dann einen Verein, um
       für Unterkünfte zu sorgen, und trägt seitdem den Spitznamen „der Kurde“.
       
       Lucano hatte und hat vor allem ein Argument auf seiner Seite: Aus Riace
       ziehen die Menschen weg, das Dorf droht auszusterben, warum also nicht
       Migranten ansiedeln? Das Argument überzeugte seine Mitbürger, die den
       Lehrer 2004 zum Bürgermeister wählten und seitdem immer im Amt bestätigten.
       
       ## Das berühmte „Modell Riace“
       
       So konnte Lucano das schaffen, was mittlerweile nicht bloß in Italien als
       „Modell Riace“ berühmt geworden ist. Leerstehende, verfallende Häuser
       wurden für die Migranten wieder hergerichtet, und Menschen aus Riace taten
       sich mit Migranten zusammen, um neue Tätigkeitsfelder zu erschließen. So
       entstanden eine Töpferei, eine Weberei, eine Glasmalerei – und auch die
       Müllabfuhr ging neue Wege. Zwei Migranten und zwei alteingesessene Bürger
       aus Riace ziehen jeden Tag mit Eseln durch die engen Gassen, um auf denkbar
       ökologische Weise den Müll einzusammeln, natürlich sauber getrennt.
       
       Zudem beherbergt Riace mittlerweile etwa 300 bis 400 Flüchtlinge, die
       anschließend weiter wollen. 70 Arbeitsplätze für Sozialarbeiter, Betreuer,
       Sprachlehrer entstanden so, ins sterbende Dorf kehrte Leben zurück.
       
       Doch Engagement für die Flüchtlinge hieß für Mimmo Lucano auch immer Kampf
       mit den Behörden, mit der Präfektur, mit dem Innenministerium. Verwendete
       er die Mittel korrekt? Prüfung um Prüfung durch die Präfektur musste Lucano
       über sich ergehen lassen, zum Beispiel weil er lokales Geld druckte, mit
       dem die Migranten in den örtlichen Läden bezahlen konnten, solange das
       Innenministerium – das regelmäßig verspätet zahlte – nicht die notwendigen
       Mittel bereitgestellt hatte.
       
       Immer ging Lucano sauber aus diesen Prüfungen hervor. Doch jetzt ist er
       plötzlich der „Begünstigung der illegalen Einwanderung“ beschuldigt,
       weshalb ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt wurde. Lucano soll in einem
       abgehörten Gespräch als Lösung für eine abgelehnte Asylbewerberin aus
       Nigeria vorgeschlagen haben, sie könne ja einen Italiener heiraten.
       Außerdem soll die Vergabe der Müllabfuhr an die Kooperative mit den Eseln
       unkorrekt über die Bühne gegangen sein.
       
       Italiens fremdenfeindlicher Innenminister Matteo Salvini nahm die Nachricht
       vom Haftbefehl voller Freude auf. „Was sagen jetzt wohl die Gutmenschen?“,
       twitterte er. Die Antwort kam umgehend. Für Samstag rufen Lucanos Freunde
       zu einer großen Solidaritätsdemo in Riace auf.
       
       2 Oct 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Braun
       
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