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       # taz.de -- Grüne bei der Landtagswahl in Hessen: Punkt für Punkt ganz nach vorn
       
       > Im Landtagswahlkampf tourt Umweltministerin Priska Hinz durch Hessen. Die
       > Bilanz der Grünen in der Koalition mit der CDU ist gemischt.
       
   IMG Bild: Priska Hinz will eine Schutzzone von 150m vor Beratungsstellen wie „Pro Familia“ einführen
       
       „Priska on Tour“ steht auf dem quietschgrünen Hybridkombi, mit dem die
       Spitzenkandidatin der hessischen Grünen, Priska Hinz, vor der Frankfurter
       Zentrale von Pro Familia vorfährt. Die hessische Umweltministerin will hier
       zusammen mit dem Bündnis für Frauenrechte gegen die „Mahnwache“
       fundamentalistischer KatholikInnen protestieren.
       
       Seit ein paar Tagen haben sie sich auf dem Platz vor der Beratungsstelle
       aufgebaut: Heute sind es ein Mann und vier Frauen, eine von ihnen kniet auf
       dem Pflaster. Sie nesteln an ihren Rosenkränzen und murmeln Gebete. Ein
       Plakat zeigt ein Baby. „Nimm meine Hand und mir nicht das Leben!“, steht
       da.
       
       „Empörend“ nennt es die grüne Spitzenkandidatin, „dass wir die Frauen, die
       sich zu einer Abtreibung entschlossen haben, auf dem Weg zu einer
       gesetzlich vorgeschriebenen Beratung nicht vor dieser Drangsalierung
       schützen können.“
       
       In der nächsten Legislaturperiode werde ihre Partei für eine gesetzliche
       Regelung sorgen, die in einer Schutzzone von 150 Metern rund um solche
       Beratungsstellen Demonstrationen untersagt. „Bislang haben wir bei unserem
       Koalitionspartner CDU eine solche Regelung noch nicht durchsetzen können“,
       sagt sie und dankt denen, die gekommen sind, um die Frauen auf dem Weg zur
       Beratung abzuschirmen.
       
       ## Rot–Rot–Grün ist möglich
       
       Es gibt eine Reihe solcher Punkte, die die hessischen Grünen in den letzten
       fünf Jahren bei ihrem Koalitionspartner CDU nicht haben durchsetzen können.
       Etwa eine gesetzliche Regelung, nach der Städte mit angespannter
       Wohnungssituation die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen verhindern
       können. Auch da verspricht die Partei für die nächste Legislaturperiode
       eine neue gesetzliche Regelung.
       
       Gut möglich, dass die Hessen-Grünen nach der Landtagswahl am 28. Oktober
       ihre Themen tatsächlich durchsetzen können. Der aktuelle
       Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir könnte neuer Ministerpräsident werden.
       In Umfragen liegt seine Partei bei 21 Prozent, genauso wie die SPD.
       
       Ministerpräsident Volker Bouffiers CDU liegt mit aktuell 26 Prozent zwölf
       Prozentpunkte unter dem Ergebnis von 2013. Rechnerisch möglich wären
       demnach Dreierbündnisse aus Grünen, SPD und Linken oder auch aus SPD,
       Grünen und FDP. Eine Mehrheit für die amtierende schwarz-grüne Regierung
       ist in den Umfragen ungewiss.
       
       ## Die Bilanz ist gemischt
       
       Im Regierungsbündnis mit der CDU mussten die grünen Koalitionäre einige
       Kröten schlucken. Am Frankfurter Flughafen wird das dritte Terminal gebaut,
       im Wahlkampf 2013 hatten die Grünen noch dagegen plakatiert. Die von
       Al-Wazir ausgehandelte freiwillige „Lärmobergrenze“ sichert allenfalls den
       Status quo. Die Luftverkehrswirtschaft hat sich vorbehalten, sie
       aufzukündigen, wenn sie zusätzliche Kapazitäten, sprich mehr Starts und
       Landungen braucht.
       
       Als Verkehrsminister darf Al-Wazir jetzt Autobahnabschnitte eröffnen, gegen
       die Grüne und Umweltschützer jahrzehntelang gestritten hatten. „Damit die
       Diesel-Fahrer nicht die Dummen sind“, klagt die schwarz-grüne
       Landesregierung sogar gegen das Diesel-Fahrverbot in Frankfurt.
       
       Die Grünen haben aber auch einiges erreicht: Überall im Land drehen sich
       mehr Windräder – mit der Angst vor „Windkraftmonstern“ hatte die hessische
       CDU zuvor Wahlkämpfe bestritten. Gegen starke Widerstände wurde der
       Staatsforst auf eine schonende Bewirtschaftung umgestellt.
       
       Beim Ausbau der Infrastruktur setzt die Regierungskoalition verstärkt auf
       den öffentlichen Personennahverkehr, bei den Straßen auf Erhalt statt
       Neubau. Das neu eingeführte Schülerticket ist ein Renner, jede SchülerIn
       ist in Hessen für 365 Euro im Jahr in ganz Hessen mobil. Und allen
       Landesbediensteten steht ein Job-Ticket zu.
       
       ## Solidarisch und bio
       
       Auch auf dem Land hat sich einiges getan. Es gibt in Hessen so viele
       Biobetriebe wie nie zuvor. An diesem Nachmittag besucht Priska Hinz die
       „Solidarische Landwirtschaft“ im Frankfurter Stadtteil Niederrad. Bei
       frisch gekeltertem Apfelsaft informiert sich Hinz, die auch
       Landwirtschaftsministerin ist, über das Modell.
       
       Auf 7.000 Quadratmetern bauen Betriebsleiterin Irmtraud Schmid und ihre
       drei MitarbeiterInnen auf dem Schwemmland am Mainufer Topinambur, Kohl,
       Tomaten, Auberginen und alle sieben Kräuter der berühmten Frankfurter
       „Griee Soß“ an. Die achtzig Mitglieder der Kooperative beziehen das Gemüse
       und die Kräuter im einem Abonnement. „Überall sprießen solche Projekte aus
       dem Boden. Es gibt eine neue Bewegung für gute Landbewirtschaftung und
       gutes Essen“, freut sich die Grüne.
       
       Doch die Betriebsleiterin bekennt offen, dass sie die Fördermittel für
       ihren Biobetrieb gar nicht in Anspruch nimmt. „In der Zeit, die ich für das
       Ausfüllen der Anträge brauche, wickele ich 30 Portionen Grüne Soße; das
       Ausfüllen der Anträge lohnt nicht für die 300 Euro, die mir vielleicht
       zustehen“, sagt sie.
       
       ## Feldbetten für Erstsemester
       
       Das Problem ist der Ministerin bekannt. Wenn das Land Mittel der EU zu
       verteilen habe, sei der bürokratische Aufwand beträchtlich. „Es ist die
       Pest“, räumt sie ein und verspricht, über ein unbürokratisches Programm mit
       Landesmitteln nachzudenken.
       
       Am Abend hat Hinz ein Heimspiel im Frankfurter Nordend, einer grünen
       Hochburg. Fünfzig Interessierte sind ins Café Awake gekommen, die meisten
       Mitglieder oder FunktionärInnen. „Priska“ berichtet vom Kurswechsel beim
       sozialen Wohnungsbau. In den beiden letzten Jahren habe die Landesregierung
       Milliarden für die Förderung ausgegeben, sagt sie. Die landeseigene
       Wohnungsbaugesellschaft NH, die zu Beginn der Legislaturperiode noch
       verkauft werden sollte, sei gestärkt worden.
       
       Doch das ist Zukunftsmusik. Keine hundert Meter vom Veranstaltungsort
       entfernt hat der Asta der Fachhochschule Feldbetten in einer Mehrzweckhalle
       aufgestellt. Dort können Erstsemester, die keine Wohnung finden,
       übernachten. In Frankfurt schießen die Mieten durch die Decke.
       
       ## Sozialwohnungen verschwinden
       
       Ein junger Mann berichtet, schon zwei mal habe er seine Wohnung verloren,
       weil neue Eigentümer Eigenbedarf angemeldet hätten. Jetzt hat eine Firma
       das Haus, in dem er wohnt, übernommen. Das Unternehmen ist für seine rüden
       Methoden bekannt. Die Ministerin kündigt an, in der nächsten
       Legislaturperiode ein gesetzliches Umwandlungsverbot durchsetzen zu wollen.
       
       „War’s das?“, fragt der Mann. Er weiß, dass er zum dritten Mal ausziehen
       muss. Und noch immer fallen Jahr für Jahr in Frankfurt mehr Sozialwohnungen
       aus der Bindung, als neue gebaut werden.
       
       Bei den Themen bezahlbarer Wohnraum, Bildungspolitik und
       Wirtschaftskompetenz liegen die Grünen in den Umfragen deutlich hinter der
       CDU und den Sozialdemokraten. Bei der Sonntagsfrage liegen sie dagegen fast
       gleichauf. Richtig erklären kann den Höhenflug niemand.
       
       ## „Tarek statt GroKo“
       
       CDU-Ministerpräsident Volker Bouffier meint, die Grünen hätten sich von der
       linken Mitte hin zum „Bürgertum, ja zum Großbürgertum“ geöffnet. Er
       bescheinigt seinem Koalitionspartner, „erstaunlich diszipliniert und
       hierarchisch organisiert“ zu sein. Für grüne Fundis ist das wohl eher ein
       vergiftetes Lob.
       
       Unter dem Slogan „Tarek statt GroKo“ lächelt seit dem Wochenende ein
       überlebensgroßer Tarek Al-Wazir in ganz Hessen von Großplakaten. Die
       Popularitätswerte des grünen Frontmanns sind besser als die des
       Regierungschefs Bouffier. Am Wochenende hat der Grünen-Frontmann noch
       einmal klar gemacht, dass nichts entschieden ist.
       
       Der Welt sagte Tarek Al-Wazir, erst nach Auszählung aller Stimmen werde
       sich zeigen, „was rechnerisch geht und – noch wichtiger – was mit wem
       inhaltlich geht“. Sein Regierungschef Bouffier und Bundeskanzlerin Angela
       Merkel warnten schon mal vorsorglich vor einer möglichen linken Mehrheit.
       
       23 Oct 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christoph Schmidt-Lunau
       
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