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       # taz.de -- Grüne nach Hessen-Wahl: Kurz vorm Platzen
       
       > Die Grünen heben auch bei der Wahl in Hessen ab. Doch im nächsten Jahr
       > stehen gleich drei Landtagswahlen im Osten an.
       
   IMG Bild: Sie jubeln, aber sind nicht übermütig: die Grünen
       
       Berlin/Wiesbaden taz | Während in der CDU die Gegner Merkels heimlich
       jubilieren, zollt die Chefin der Partei, die in der Opposition sitzt, der
       Kanzlerin erst mal Respekt. Sie sei ja erst seit einem dreiviertel Jahr
       Parteivorsitzende, sagt die Grüne Annalena Baerbock in der Berliner
       Bundespressekonferenz. Für Merkel sei der Rückzug keine leichte
       Entscheidung gewesen, sie habe als erste Frau die CDU geführt und „für
       modernes Gesellschaftsbild geöffnet“.
       
       Eine faire Geste, die zum Image der Grünen passt, die letzten Merkel-Fans
       im Lande zu sein. Eigentlich hat Baerbock an diesem Montagmittag anderes zu
       tun: Wieder darf sie den Journalisten eine Sensation verkaufen. Wieder hat
       die Ökopartei einen Sieg eingefahren, von dem sie vorher nicht zu träumen
       wagte.
       
       19,8 Prozent in Wiesbaden, das sind fast 9 Prozentpunkte mehr als vor fünf
       Jahren – und ein hauchdünner Vorsprung vor der SPD. Am Ende lagen die
       Grünen mit ihren SpitzenkandidatInnen Tarek Al-Wazir und Priska Hinz 94
       Stimmen vor den Sozialdemokraten. Nach dem Sieg in Bayern ist Hessen die
       nächste Wegmarke zum Ziel, „führende Kraft der linken Mitte“ zu werden.
       
       Der Triumph wird von der Merkel-Nachfolgedebatte in den Schatten gestellt,
       die Journalistenreihen im Saal sind spärlich gefüllt. Baerbock, die neben
       der Hessen-Spitzenkandidatin Priska Hinz Platz genommen hat, dankt erst mal
       für das Interesse. Was bedeutete ein CDU-Chef Jens Spahn für grüne
       Machtoptionen, was ein Friedrich Merz? Würde Schwarz-Grün erschwert?
       
       ## Eine kleine Spitze
       
       Baerbock lässt sich nicht auf dieses Spielchen ein. Was ihr zu Herren in
       der CDU einfalle, sei nicht entscheidend. Die Grünen wollten gestalten.
       Dann zählt Baerbock ein paar Classics auf, Klimaschutz, eine Politik, die
       nicht spalte, sondern sich etwas traue. Was man eben so sagt, als
       Vorsitzende in diesen Tagen.
       
       Nur die eine Spitze gönnt sie sich: Sie finde es ja schon interessant, dass
       Merkel zurücktrete, während der Mann, der schon drei Mal seinen Rücktritt
       angekündigt habe, weiter bleibe. Seehofer wird damit leben können.
       
       Aber was bleibt nun von dem grünen Sieg? In Wiesbaden könnte es wieder auf
       ein schwarz-grünes Bündnis hinauslaufen. CDU-Ministerpräsident Volker
       Bouffier und Al-Wazir können gut miteinander – und die FDP hat bereits
       abgelehnt, in einer Jamaika-Koalition das „Ersatzrad“ (Spitzenkandidat René
       Rock) zu sein. Hinz kündigt in der Bundespressekonferenz dennoch an, dass
       die Grünen mit allen Parteien sprechen würden, mit denen es rechnerisch
       gehe. Das wäre eine Ampel mit SPD und FDP unter grüner Führung.
       
       Bei dieser, betont Hinz, wäre ihr Co-Spitzenkandidat Al-Wazir am Ende
       Ministerpräsident. 94 Stimmen hin- oder her, die Grünen würden auf ihrem
       Vorsprung bestehen. Der legendäre Pragmatismus der Hessen-Grünen zeigt
       sich, wenn man Hinz fragt, warum eigentlich der Mann Ministerpräsident wäre
       – und nicht sie. Seltsam für eine gendersensible Partei, oder? Al-Wazir sei
       nun mal der beliebteste Politiker, antwortet Hinz.
       
       ## Demut ja, Übermut nein
       
       Bei den Zielen in einer neuen Regierung bleibt Hinz im Ungefähren.
       Irgendwie noch mehr Öko, mehr soziale Themen und mehr Bildungspolitik
       wollen sie erreichen. „Wir waren Motor, wollen Motor bleiben und noch einen
       Zacken zulegen“, sagt Hinz. Bei einem spannenden Punkt weicht sie lieber
       aus. Wäre für sie ein Nein zu der von der Groko geplanten Ausweitung der
       sicheren Herkunftsstaaten eine rote Linie? Das sei eine „Symboldebatte“,
       die nichts an dem Problem ändere, dass Asylverfahren schneller entschieden
       werden müssten.
       
       Würden die Hessen-Grünen in Koalitionsverhandlungen mit der CDU der
       Asylrechtsverschärfung zustimmen, wäre die Bundespartei brüskiert, die sich
       gegen die Reform stemmt. Baerbock lächelt etwas gezwungen.
       
       Jenseits von Hessen müht sich die Partei, demütig zu bleiben. „Übermut ist
       nicht angebracht“, [1][sagt der erfahrene Chef der Europa-Grünen], Reinhard
       Bütikofer. Leicht fällt ihnen das nicht. Schließlich haben sie in Hessen –
       ähnlich wie in Bayern – in verschiedenen Milieus dazu gewonnen. Sie zogen
       laut „Tagesschau“ von der SPD 142.000 WählerInnen herüber. Aber auch von
       der CDU wanderten 108.000 Menschen zu den Grünen. Das ist schon
       bemerkenswerter: Auch der mittige Kurs eines Volker Bouffier konnte
       Abflüsse zur Ökopartei nicht stoppen.
       
       Ein Grund war die Popularität ihres Spitzenmannes Al-Wazir, der in
       Befragungen sogar SPD-Herausforderer Thorsten Schäfer-Gümbel und
       Ministerpräsident Bouffier abhängte. Doch auch urgrüne Themen spielten eine
       wichtige Rolle. So gaben in einer Infratest-dimap-Erhebung 85 Prozent der
       Befragten an, mit der Bundesregierung beim Thema Diesel unzufrieden zu
       sein. 33 Prozent glaubten, die Grünen könnten Probleme mit Diesel-Autos in
       den Griff kriegen. Viel weniger Leute trauten das der CDU (12 Prozent) und
       der SPD (10 Prozent) zu.
       
       ## Schöne bunte grüne Welt
       
       Alles schön bunt also in der grünen Welt? Schon im nächsten Jahr stehen
       drei Wahlen in Ostdeutschland an: Thüringen, Brandenburg, Sachsen. Dort
       kämpfen die Grünen um den Einzug in die Parlamente. Sie stehen vor
       handfesteren Problemen als dem, sich Gedanken zu machen, ob sie jetzt
       Volkspartei sind oder nicht. Was erzählt man dem Lausitzer Kohlekumpel, der
       Angst vor der Arbeitslosigkeit hat? Wie umgehen mit dem Hass der AfD?
       
       StrategInnen in Berlin beobachten mit Sorge, dass der Bundestrend im Osten
       nicht so hilft wie im Westen. Die drei Landesverbände legten nach der
       Inthronisierung des Chef-Duos Habeck und Baerbock im Januar in Umfragen
       auch zu, aber nur leicht. Und den Grünen fehlen Mitglieder, um Plakate in
       jedes Dorf zu hängen. In Brandenburg sind es 1.260, in Thüringen 823 und in
       Sachsen 1.724. Zum Vergleich: Allein der Kreisverband München hat 2.100
       Mitglieder.
       
       Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt kommt aus Thüringen. Sie glaubt, dass
       die Frage, wie es dem Osten gehe, an Bedeutung gewonnen habe. Wenn sie dort
       zulegen wollten, „wird es darauf ankommen, die Ostdeutschen und ihre Fragen
       und Themen sichtbar zu machen und eigene grüne Antworten zu formulieren.“
       Die müssten auf Augenhöhe sein.
       
       Man kann es auch so sagen: Die echte Herausforderung wartet noch auf die
       Grünen – im Osten.
       
       30 Oct 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Gruener-Buetikofer-zur-Wahl-in-Hessen/!5546221
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Schulte
   DIR Christoph Schmidt-Lunau
       
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