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       # taz.de -- Gewerkschafterin über EU-Politik: „Soziales stärker berücksichtigen“
       
       > Die neue Debatte über soziale Leitlinien in Europa habe sich zum
       > Megathema entwickelt, sagt Gabriele Bischoff. Dadurch könne neues
       > Vertrauen in die EU entstehen.
       
   IMG Bild: Protest gegen Rentenreform in Athen
       
       taz: Frau Bischoff, vor einem Jahr hat die EU-Kommission angekündigt, ihre
       bisher vor allem auf Markt und Wettbewerb ausgerichtete Wirtschaftspolitik
       um eine „Säule sozialer Rechte“ zu ergänzen. Was kann man sich darunter
       vorstellen? 
       
       Gabriele Bischoff: Das haben wir uns am Anfang auch gefragt. Was soll das
       denn jetzt – das war unsere erste Reaktion. Schließlich haben wir in der EU
       ja schon eine Grundrechte-Charta. Da brauchen wir nicht auch noch
       unverbindliche soziale Leitlinien, dachten viele. Doch inzwischen hat sich
       herausgestellt, dass wir die soziale Säule als Türöffner für eine andere
       Wirtschaftspolitik nutzen können. Sie hat sich sogar zum Megathema
       entwickelt.
       
       Können Sie diesen Schwenk erklären? 
       
       Nehmen wir den wachsenden Populismus und die um sich greifende
       Europa-Feindlichkeit. Das hat mit einer falschen Wirtschaftspolitik zu tun,
       mit wachsender Ungleichheit und zunehmender Divergenz in und zwischen den
       EU-Staaten. Digitalisierung, Handel und die Globalisierung, die
       Lieblingsthemen der EU-Kommission, produzieren eben nicht nur Gewinner,
       sondern auch Verlierer. Und da können wir mit der Säule sozialer Rechte
       gegensteuern. Die politischen Folgekosten der Laisser-faire-Ökonomie sind
       zu groß geworden, das sehen mittlerweile sogar Arbeitgeber ein.
       
       Aber sieht das auch die EU-Kommission so? Die hängt doch weiterhin einer
       neoliberalen Ideologie an. 
       
       Bis zur Halbzeitbewertung der Lissabon-Agenda (Die 2000 auf einem
       Sondergipfel verabschiedete Lissabon-Strategie sollte die EU bis 2010 zum
       wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt machen – die Red.) war die EU
       nicht auf eine so neoliberale Politik festgelegt. Das kam erst unter dem
       früheren Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso. Die Treiber waren die
       Briten, sie haben das Mantra der Wettbewerbsfähigkeit durchgesetzt. Sogar
       die EU-Staaten sollten plötzlich miteinander konkurrieren – damit war der
       neue Nationalismus angelegt, den wir jetzt überall erleben. Unter Barrosos
       Amtsnachfolger Juncker hat sich das zunächst fortgesetzt – man denke nur an
       die massiven Grundrechtsverletzungen durch die Gläubiger in Griechenland.
       Doch Juncker hat auch verstanden, dass die neoliberale Politik das
       Vertrauen in die europäischen Institutionen erschüttert – und dass der
       Vertrauensverlust gefährlich für die EU wird. Mit der Säule sozialer Rechte
       versucht er nun, etwas gegenzusteuern. Bundeskanzlerin Merkel wollte das
       übrigens verhindern, doch bisher sieht es so aus, als habe sich Juncker
       durchgesetzt.
       
       Wirklich? In Griechenland wird die neoliberale Politik auf die Spitze
       getrieben … 
       
       Jeder weiß, dass die Auflagen, die nach dem Ende des dritten Bail-outs
       erlassen wurden, die Probleme nicht lösen, sondern weiter verschärfen
       werden. Auf der anderen Seite fordert die Säule sozialer Rechte ein
       Mindestniveau für die soziale Grundsicherung. Und das gilt auch für
       Griechenland. Wenn wir darauf aufbauend eine europäische Rahmenrichtlinie
       für ein Mindesteinkommen in allen EU-Ländern durchsetzen, haben wir einen
       Hebel, mit dem wir etwa gegen Rentenkürzung in Griechenland vorgehen
       können. Zur Not können wir dagegen vor dem Europäischen Gerichtshof klagen!
       
       Mit dem schon vom ehemaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors
       versprochenen sozialen Europa hat das nicht viel zu tun, oder? 
       
       Nein, aber die soziale Säule kann als Türöffner dienen. Unter Juncker gab
       es große Rückschritte – etwa mit der Refit-Politik, bei der unter dem
       Deckmantel der Entbürokratisierung soziale Schutzstandards beschnitten
       wurden. Aber immerhin haben wir nun wieder einen anderen, sozialeren
       Diskurs. Und Juncker versucht auch, neue Institutionen zu schaffen – wie
       die Europäische Arbeitsbehörde, die die Einhaltung von Sozialstandards
       überwachen könnte. Diese EU-Kommission hat große soziale Verwerfungen
       verursacht – doch nun versucht sie immerhin, einiges wieder einzufangen.
       
       Dabei bekommt sie es zunehmend mit Populisten und Nationalisten zu tun, wie
       in Polen, Ungarn oder Italien. 
       
       Ja, das macht mir große Sorgen. Aber es ist auch eine Folge der
       neoliberalen Wirtschaftspolitik und der schlechten Lohnentwicklung. Sie
       hat zu großen Pull- und Pushfaktoren geführt, was sich zum Beispiel im
       massiven Braindrain aus Osteuropa bemerkbar macht. Die Abwanderung aus dem
       Osten hat ein Niveau erreicht, das die Gesellschaften erschüttert und sogar
       den Binnenmarkt gefährdet. Zugleich fehlt in vielen EU-Ländern eine soziale
       Grundsicherung. Schauen Sie nach Italien – dort begründet die
       Fünf-Sterne-Bewegung die neuen Schulden auch mit der [1][Einführung einer
       Grundsicherung]. Die EU-Kommission darf darüber im Budgetstreit mit Italien
       nicht einfach hinweggehen. Sie muss die sozialen Aspekte im Europäischen
       Semester (dem EU-Prozess für die Budgetplanung, die Red.) stärker
       berücksichtigen. Das ist ein wichtiger Test für die soziale Säule.
       
       Was erwarten Sie von der nächsten EU-Kommission nach der Europawahl 2019? 
       
       Die Gewerkschaften gehen mit konkreten Forderungen in den Europawahlkampf:
       Wir wollen etwa eine Mindestgrundsicherung für alle Europäer und im
       EU-Semester Regeln für armutsfeste Mindestlöhne. Die Juncker-Kommission
       behauptet, dafür gebe es keine Rechtsgrundlage. Aber das stimmt so nicht.
       Wir erwarten, dass die nächste Kommission hier aktiv wird. Außerdem muss
       sie das zarte Pflänzchen der sozialen Säule weiterentwickeln. Die Offensive
       der Nationalisten und Populisten birgt allerdings die Gefahr, dass die
       nächste Kommission eine viel stärker wettbewerbsorientierte und neoliberale
       Agenda verfolgen könnte. Wir brauchen ein starkes Bündnis für ein soziales
       Europa. Darum geht es bei der EP-Wahl im Mai 2019.
       
       17 Oct 2018
       
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