URI: 
       # taz.de -- Neuer Roman von Wolf Wondratschek: Gütiger Gott, diese Tränensäcke
       
       > Der Schriftsteller Wolf Wondratschek ist nachdenklicher geworden.
       > „Selbstbild mit russischem Klavier“ dreht sich um die Liebe zur
       > klassischen Musik.
       
   IMG Bild: Will immer noch nicht kerngesund sterben: Wolf Wondratschek
       
       Tief von Musik durchdrungen waren die Texte von [1][Wolf Wondratsche]k
       eigentlich schon immer. Seine [2][frühen Gedichte] wären ohne Popmusik
       nicht denkbar, in seinem wohl bekanntesten und erfolgreichsten Gedichtband
       „Chuck’s Zimmer“ (1974) fanden Pop und Lyrik in Form und Inhalt zusammen.
       
       Spätere Gedichte wie „James, Jimi und Janis“ (1978) waren Rock ’n’ Roll in
       Reinform: „James, Jimi und Janis / niemand lebt, um kerngesund zu sterben“,
       heißt es da, gewidmet ist es natürlich James Dean, Jimi Hendrix und Janis
       Joplin.
       
       Vom „Live fast, die young“-Gedanken des Rock ’n’ Roll ist Wondratschek
       allein deshalb heute denkbar weit entfernt, weil er, um einen
       Element-of-Crime-Spruch zu zitieren, längst „too old to die young“ ist: Im
       August hat der einstige Proto-Popliterat seinen 75. Geburtstag gefeiert.
       Die Musik aber, die hat sein Werk weiter begleitet, nur war es in den
       vergangenen Dekaden eher die Klassik, der sich der lange in München und
       inzwischen in Wien ansässige Schriftsteller gewidmet hat.
       
       In „Mara“ (2003) zum Beispiel erzählt er eine Geschichte aus der
       Perspektive des berühmten Stradivari-Cellos gleichen Namens. Und damit kann
       man eigentlich den Bogen in die Jetztzeit schlagen, denn eine (reale) Figur
       daraus – der 2016 gestorbene österreichische Cellist Heinrich Schiff –
       begegnet einem nun in Wondratscheks Werk erneut.
       
       ## Selbstbildnis mit Ratte
       
       „Selbstbild mit russischem Klavier“ heißt sein neuer Roman, der bei
       Ullstein erscheint und mit dem für Wondratschek zugleich eine Phase endet,
       in der er ohne Verlag war. Zuletzt probierte er aus eben diesem Grunde
       andere Geschäftsmodelle aus – einen Roman veräußerte er in einer Auflage
       von 1 Exemplar an einen Fan und Mäzen (2015, „Selbstbildnis mit Ratte“) und
       in einer Ausstellung in Berlin verscherbelte er Unikate an Einzelpersonen
       („Bin in einer Stunde zurück“, 2016).
       
       Nun also wieder ein regulärer Wondratschek, für jeden käuflich. Und nicht
       nur das, Ullstein veröffentlichte zum rundesten aller halbrunden
       Geburtstage darüber hinaus eine Lyrik-Gesamtausgabe.
       
       Einmal mehr stehen in „Selbstbild mit russischem Klavier“ die Musik und ein
       Musiker im Zentrum. Die Romanhandlung besteht im Kern aus einem Gespräch
       zwischen dem Erzähler und dem alten russischen Pianisten Suvorin, das sich
       zunächst in einem Wiener Kaffeehaus zuträgt und in dem Suvorin auf sein
       Leben zurückblickt; auf sein Verhältnis zur Musik, auf den Tod seiner Frau,
       auf seine Karriere.
       
       Wondratschek wechselt die Erzählperspektive dabei oft plötzlich – sowohl
       der zunächst eingeführte Erzähler als auch der alte Russe treten als
       Ich-Erzähler auf. Wer hier der Erzähler ist, bleibt also eigentlich
       zeitweise in der Schwebe, und das nicht zufällig.
       
       Denn die beiden Protagonisten scheinen einiges gemein zu haben: die
       Einsamkeit, die Liebe zur Kunst, das nachlassende Leben, eine Form von
       Selbstekel. In tief melancholischem Grundton fragt sich der „alte Russe“,
       wie er eingangs genannt wird (oder fragen sich beide?), „wie nutzlos ein
       Mensch werden kann, ein Mensch wie ich, der am Ende in eine Gedächtnislücke
       passt, ohne Schuhe, ohne Traum“. Und dessen Leiden- wie Liebschaften
       sowieso allesamt in der Vergangenheit anzusiedeln sind.
       
       Das Altern ist eines der großen Themen des Buches, ein weiteres die Frage,
       welche Bedeutung, welche Funktion die Musik für das Leben eines
       musikalischen Menschen hat. „Ich habe, glaube ich, bis heute keine Ahnung,
       was Musik ist“, sagt Suvorin zu Beginn, um dann über das Wesen der Musik zu
       sinnieren.
       
       So denkt er nach über den Applaus nach dem Schlussakkord („sofort Geschrei,
       Lärm, Bravo-Rufe. Nicht einen Augenblick Stille, keine halbe Sekunde. Was
       für Ignoranten!“), über die Schönheit von Bach („Er gehört zur Hygiene
       unseres Berufs, […] das ist wie Zähneputzen“), über Musik in der
       Sowjetdiktatur.
       
       ## Der postrebellische Wondratschek
       
       Die beiden Protagonisten erörtern die Frage nach der Perfektion in der
       Kunst („Die Todsünde bei Schubert ist, ihn perfekt spielen zu wollen“) –
       und ein Kapitel widmet Wondratschek eben dem verstorbenen Musiker Schiff
       und dessen großer Liebe, dem Cello.
       
       Der Sound Wondratscheks ist heute ruhiger und nachdenklicher – und das
       wirkt auch völlig stimmig. Es wäre wohl eher peinlich, gäbe er weiterhin
       das Raubein und den Rebell. So gibt es sprachlich beeindruckende Passagen
       in dem Roman; etwa jene, in der Cellist Schiff von der Begegnung mit einer
       alten und alt gewordenen Freundin erzählt, die ihm sagt: „Ich will nicht
       mehr schlafen, weil ich das Gesicht nicht haben will, mit dem ich aufwache.
       Was, guter gütiger Gott, gegen Tränensäcke tun?“
       
       Schiff hört ihr lange zu und konstatiert: „Ich konnte ihr, als ich sie mir
       gegenüber so dasitzen sah, das letzte Glimmen der Hoffnung, das Warten auf
       ein nicht mehr sehr wahrscheinliches Wunder, wenn auch verhaucht, ansehen.
       Ein Blick auf ein mit Raureif beschlagenes Fenster!“ Eine Stärke des Romans
       ist, wie sich die Figuren begegnen, wie sie nicht verbittert oder zynisch,
       sondern ehrlich auf sich und die Gegenwart blicken. Auch wenn dabei oft
       Pathos mitschwingt.
       
       Das Problem des Romans ist ein anderes, ein Erzählerisches. Es fehlt einem
       dann doch an einer Figurenentwicklung, an einem starken Plot, an
       überraschenden Wendungen. Liegt es daran, dass die auftauchenden Figuren in
       ähnlichen Lebenssituationen sind, sich ähnlichen Problemen gegenübersehen?
       
       Für diesen dramaturgischen Mangel aber wird man entschädigt – mit
       lesenswerten Reflexionen und Meditationen über die unwiederbringliche junge
       Liebe, die Musik, den Tod. Und kerngesund, so viel ist dann doch vom frühen
       Wondratschek geblieben, will hier immer noch niemand sterben.
       
       23 Oct 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /!s=&Autor=WOLF+WONDRATSCHEK/
   DIR [2] /!724155/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
       ## TAGS
       
   DIR Pop-Literatur
   DIR Rock'n'Roll
   DIR Lesestück Interview
   DIR David Foster Wallace
   DIR Literatur
   DIR Kinderbuch
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Wolf Wondratschek über das Schreiben: „Ich bin nur der, der tippt“
       
       Poet, Box-Fan und ein Münchner, den es nach Wien zog: Wolf Wondratschek.
       Hier antwortet er auf Stichworte zu Männern und Frauen, Luxus und Erfolg.
       
   DIR Essays von David Foster Wallace: Die Erkenntnis der Sache
       
       Unter dem Titel „Der Spaß an der Sache“ sind alle Essays von David Foster
       Wallace auf Deutsch erschienen. Was macht es mit einem, sie zu lesen?
       
   DIR Maggie Nelsons Buch über die Farbe Blau: Stil got the blues
       
       Die blaue Stunde, blau sein, blaue Flecken davontragen: In dieser Farbe
       steckt die ganze Welt. Die Autorin Maggie Nelson widmet ihr ein ganzes
       Buch.
       
   DIR Nachruf auf Christine Nöstlinger: List und Lust der Vernunft
       
       Eigentlich wollte die gelernte Grafikerin gar nicht schreiben. Nöstlinger
       tat es doch – zum Glück. Ihre klugen Gedanken werden fehlen.