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       # taz.de -- Entscheidungen über Organspende: Fremdbestimmte Organentnahmen
       
       > Derzeit noch gilt hierzulande bei Organspenden die Einwilligungslösung.
       > Doch zumeist entscheiden die Angehörigen.
       
   IMG Bild: In einem OP-Saal wird die kurz zuvor entnommene Niere in einen Transportbehälter gelegt
       
       Hamburg taz | „Organspende“ soll in Deutschland „zum Normalfall werden“,
       fordert Jens Spahn (CDU). Um dies zu befördern, will der
       Bundesgesundheitsminister die Regeln zur Einwilligung in Organentnahmen
       geändert sehen; [1][geht es nach dem Willen Spahns, wird 2019 im
       Transplantationsgesetz eine sogenannte doppelte Widerspruchslösung
       eingeführt.] Käme es so weit, würden künftig alle BürgerInnen nach
       Feststellung des „[2][Hirntods“] als potenzielle OrganspenderInnen gelten –
       ausgenommen nur diejenigen, die irgendwann vorher ihren Widerspruch
       schriftlich erklärt hatten.
       
       Liegt keine Willenserklärung vor, sollen die Angehörigen entscheiden, ob
       dem oder der „Hirntoten“ Nieren, Leber, Herz, Bauchspeicheldrüse und Gewebe
       entnommen werden dürfen oder nicht. Ein fraktionsübergreifender
       Gesetzentwurf, der darauf zielt, ein solches Vorgehen zu legitimieren, soll
       laut Spahn „bis Jahresende“ erarbeitet und anschließend in den Bundestag
       eingebracht werden, wohl unter gemeinsamer Federführung von Spahn und dem
       SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach.
       
       Seitdem Spahn dieses Vorhaben im September bekannt gemacht hat, diskutieren
       PolitikerInnen, Medien und Verbände eifrig über das Für und Wider einer
       doppelten Widerspruchslösung. Dabei tun fast alle so, als würden in
       Deutschland bisher nur solchen „hirntoten“ Menschen Organe entnommen, die
       ihr Einverständnis zuvor schriftlich erklärt hatten. Das aber ist eine
       Legende: Tatsächlich erfolgen Organspenden in den allermeisten Fällen
       fremdbestimmt – und das seit Jahrzehnten!
       
       Wer wissen will, was in der Praxis passiert, sollte die Bilanzen der
       Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) lesen. Im aktuellen
       DSO-Bericht für das Jahr 2017 erfährt man, dass rund 20 Prozent derjenigen
       „Hirntoten“, die von Krankenhäusern gemeldet wurden, einer Organentnahme
       persönlich zugestimmt hatten. 2017 hatten laut DSO exakt 161 der 797
       registrierten OrganspenderInnen schriftlich eingewilligt.
       
       Für die übrigen 636 Fälle gibt die DSO als Rechtfertigung für die Entnahme
       von Körperstücken dies an: mündlicher Wille (208 SpenderInnen) oder
       vermuteter Wille (328) des „Verstorbenen“ – und bei 100 Organspenden:
       zustimmende Entscheidung der Angehörigen „nach eigenen Wertvorstellungen“.
       
       ## Stellvertretende Entscheidung
       
       Die übliche Praxis kommt einer „Widerspruchslösung“, wie Spahn sie fordert,
       also bereits ziemlich nahe. Zumal auch gemäß den bisher verbreiteten
       Statements des Bundesgesundheitsministers die stellvertretenden
       Entscheidungen der Angehörigen der „Hirntoten“ letztlich den Ausschlag
       geben sollen.
       
       Verständlicher und redlicher wäre es aber, wenn die Befürworter ihr
       Vorhaben „Register-Regelung“ nennen würden. Was ihnen vorschwebt, hat
       SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach schon Anfang dieses Jahres in einem
       Interview angedeutet: „Notwendig wäre ein Register, in das man sich
       eintragen kann, wenn man nicht bereit ist zu spenden. Wir können verlangen,
       dass sich jeder aktiv erklärt, der seine Organe im Todesfall nicht für das
       Leben anderer Menschen hergeben möchte.“
       
       Die Vorstellung, dauerhaft in einer Datenbank der Spendeverweigerer
       gespeichert zu sein, dürfte unzählige Menschen so sehr abschrecken, dass
       sie ihre Ablehnung lieber für sich behalten – und das ist wohl auch das
       Kalkül von PolitikerInnen wie Spahn und Lauterbach, die „Organspende“ quasi
       zum Regelfall im Dienste der Allgemeinheit aufwerten wollen.
       
       Die dafür entworfene Logik „Wer schweigt, stimmt zu“ verdreht indes
       gesellschaftliche Werte und Regeln. Noch müssen ÄrztInnen vor jedem
       medizinischen Eingriff eine eindeutige Zustimmung des zuvor korrekt
       aufgeklärten Patienten einholen – und im Zweifel auch nachweisen können.
       Stellvertretende Einwilligungen und Vermutungen im Grenzbereich von Leben
       und Tod sollte der Gesetzgeber ausdrücklich ausschließen, will er die
       selbstbestimmte Entscheidung von Menschen für oder gegen die Entnahme ihrer
       Körperteile ernst nehmen. Spahn und Lauterbach werben für das Gegenteil.
       
       26 Oct 2018
       
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       ## AUTOREN
       
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