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       # taz.de -- Neues Album von Barbara Morgenstern: Auf eine Zigarette
       
       > „Unschuld und Verwüstung“ heißt das neue Album der Berliner Künstlerin
       > Barbara Morgenstern. Es ist ihr musikalisch facettenreichstes Werk.
       
   IMG Bild: Mit langem Atem: Berlins very own Barbara Morgenstern
       
       Wie viele Menschen hat die Popmusik zum Rauchen gebracht, schlichtweg, weil
       das Ausgehen so mehr Spaß machte? Früher zumindest, als man jung war und in
       geschlossenen Räumen rauchen durfte. So konnte man easy ein paar
       Zigarettenlängen an eine gute Nacht dranhängen. Selbstzerstörung galt
       ohnehin als glamourös. Und dann? Wird man von diesem Missverständnis, das
       dem Rauchen zugrunde liegt, popkulturell irgendwann auch wieder
       wegbegleitet?
       
       Dank Barbara Morgenstern, der elektroakustischen Musikerin aus Berlin, gibt
       es nun zumindest einen Song, der das Dilemma beackert, ob man sich vom
       demonstrativen Hedonismus verabschieden kann, ohne der Verspießerung
       anheimzufallen – die sich heutzutage ja gerne als Selbstoptimierung tarnt:
       „30 Jahre noch, komm, wir gucken was geht“ heißt es in dem subtil-wuchtigen
       „Live fast, die young!“. Zu finden ist das Stück auf Morgensterns neuem
       Album „Unschuld und Verwüstung“. Zum Jungsterben, so unattraktiv das auch
       ist, ist man mit Ende 40 sowieso zu alt, wie Morgenstern in dem Song
       trocken konstatiert.
       
       „Unschuld und Verwüstung“ ist das vielleicht tollste, sicher aber rundeste
       und facettenreichste Werk ihrer Laufbahn. „Für mich ist es ein Album der
       Mitte“, erklärt sie im Interview. „Die Mitte des Lebens, wo man sich fragt:
       Was geht noch? Einerseits ist das Rauchen ein schnödes Thema. Doch es
       beinhaltet mehr. Damit aufzuhören, bedeutet eben auch Identitätsverlust.“
       
       ## Midlife ohne Crisis
       
       Damit geht Morgenstern sympathisch lakonisch um. Midlife ohne Crisis, so
       könnte man den Fokus der Songs umreißen, die Titel haben wie
       „Karriereleiter“, „Brainfuck“ oder „Triggerpunkt“. Ihre chansoneske
       Electronica setzt die Musikerin diesmal etwas akustischer um als auf
       bisherigen Alben. 1994 landete sie, aus Hagen kommend, via Hamburg in
       Berlin. Hier dockte sie an das an, was man seinerzeit „Wohnzimmerszene“
       nannte: in unkommerziellem Ambiente wurde mit Track, Song und allem
       dazwischen experimentiert. Seither bewegt sie sich mit wechselndem
       Schwerpunkt zwischen Folk, Elektronischem und Diskurspop.
       
       Seit zehn Jahren führt Morgenstern zusammen mit Philipp Neumann auch den
       Chor im Haus der Kulturen der Welt, der ein ambitioniertes Programm mit
       Pop, Traditionals und Avantgarde fährt. Vergangenen Sommer etwa trat man
       mit Matthew Herberts Brexit Big Band auf. Dieser Nebenjob hat auch
       Morgensterns eigenen Sound verändert: „Dynamik ist für die Chor-Arbeit
       entscheidend. Das habe ich mitgenommen in mein eigenes Songwriting.“
       
       Auf ihrem neunten Album sind nun zudem brummende Drone-Sounds zu hören,
       eine Klangfacette, die dem Baritonsaxofonisten Christian Biegai geschuldet
       ist. Mit dem arbeitete sie erstmals zusammen. Dazu gibt es verstolperte
       Beats, Akkordeonklänge und schön nachschwingende, manchmal
       vorausgaloppierende Klavierpassagen. Und avantgardistische Sounds, die sich
       erstaunlich geschmeidig ins Ohr fräsen.
       
       ## Mehr Collage, weniger Selbstoptimierung
       
       Dass sie in ihren Songs von der Lebensmitte erzählt, ohne die damit
       einhergehenden Veränderungen zu beklagen, bedeutet nicht, dass Krisen kein
       Thema sind. Im Gegenteil, sie scheinen auf diesem Album gegenwärtiger denn
       je. Doch Morgenstern vermeidet die subjektivistische Nabelschau. Es sind
       eher die gesellschaftlichen Untiefen, die sie umtreiben, auch wenn ihre
       Erzählhaltung eine persönliche ist.
       
       Sie umschreibt, Worte munter collagierend, den neoliberalen Zwang zur
       Selbstoptimierung ebenso wie die allgemeine Weltlage. Da passt, dass
       „Unschuld und Verwüstung“ erstmals nicht bei ihrem langjährigen Label
       Monika Enterprise erscheint, sondern bei Staatsakt, dem coolsten aller
       hiesigen Protestpop-Labels.
       
       Gleich der Eröffnungssong „Michael Stipe“ illustriert Morgensterns
       Herangehensweise: Mit Popzitaten, verschiedenen Ebenen und einer
       assoziationsreichen, bedeutungsoffenen Sprache formuliert Morgenstern
       Unbehagen, ohne dass befindlichkeitsfixierte Musik herauskommt. Jedem
       Anflug von Pathos wird prompt die Luft rausgelassen: „Ist die Welt nun wie
       sie war vorbei?/ Michael Stipe sang das bereits vor ewiger Zeit/ And I do
       not feel fine“. Zugleich formuliert sie Zweifel daran, dass die Welt je
       besser war: „War es einfach nur die Abwesenheit / Von Störung und Gewalt in
       der letzten Zeit? / All I want is my peace of mind“.
       
       Das mal auszusprechen ist wirklich überfällig in unserer regressiven
       Gegenwart, in der die Menschen sogar schon auf die neunziger Jahre mit
       Nostalgie zurückblicken.
       
       15 Nov 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stephanie Grimm
       
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