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       # taz.de -- Debatte Wohnungsnot in Großstädten: Gegenteil einer sozialen Bewegung
       
       > In Großstädten tritt immer häufiger ein links-alternatives Bürgertum auf,
       > das ein Recht auf Stadt einfordert – für sich und nicht für Wohnungslose.
       
   IMG Bild: Diese Demonstranten in Frankfurt am Main wollen den „Mietenwahnsinn stoppen“
       
       Die Schaffung und Sicherung [1][bezahlbaren Wohnraums] für alle
       Bevölkerungsschichten gehört zur DNA sozialer Bewegungen. Bereits Ende des
       19. Jahrhunderts entstanden in Preußen die ersten
       Wohnungsbaugenossenschaften und nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erlebte
       diese Form gemeinwirtschaftlichen Wohnungseigentums einen großen
       Aufschwung.
       
       Und ab den 1970er Jahren begann vor allem in Westberlin, aber auch in
       anderen Großstädten eine regelrechte Welle von Hausbesetzungen unter der
       Losung „Die Häuser denen, die drin wohnen“. Die Besetzungen wurden entweder
       von der Staatsgewalt unter Berufung auf das Eigentumsrecht der Besitzer
       beendet oder mündeten in legalisierte Formen wie Genossenschaften und
       Hausvereinen.
       
       Doch kurz nach der Jahrtausendwende begann ein riesiges Rollback. Kommunale
       und andere Bestände des im weitesten Sinne gemeinwohlorientierten Sektors
       wurden an private Investoren verkauft, Baugrundstücke fast ausschließlich
       nach dem Höchstpreisprinzip vergeben. Verbunden mit der weitgehenden
       Einstellung des sozialen Wohnungsbaus führte dies allmählich zu einem
       dramatischen Mangel an bezahlbarem Wohnraum für große Teile der
       Bevölkerung.
       
       Mittlerweile hat die Politik die Dramatik der Lage anscheinend erkannt und
       setzt wieder – wenn auch zaghaft – auf regulatorische Eingriffe in den
       Wohnungsmarkt. Doch besonders in bestimmten großstädtischen Milieus tritt
       inzwischen ein „links-alternatives“ Bürgertum auf den Plan, das in
       eloquenter Selbstermächtigung ein [2][„Recht auf Stadt“] einfordert, und
       zwar für sich und nicht für die große Masse der von Wohnungsnot betroffenen
       Menschen.
       
       ## Soziale Wohnraumversorgung
       
       Gern kokettiert man bei diesen unter dem Label „Stadtgesellschaft“
       agierenden Gruppen mit der alten Losung „Die Häuser denen, die drin
       wohnen“, und knüpft auch an genossenschaftsähnlichen Eigentumsformen und
       der Idee der „nachbarschaftlichen Selbstverwaltung“ als Form der „direkten
       Demokratie“ an.
       
       Erneut ist Berlin – wie schon bei den Hausbesetzungen – Vorreiter dieser
       Entwicklung. Bei größeren innerstädtischen Bauvorhaben werden
       Landesregierung und Planungsbehörden schlicht die Legitimation
       abgesprochen, im gesamtstädtischen Interesse unter der Prämisse der
       sozialen Wohnraumversorgung vorzugehen.
       
       Im Aufruf zu dem großen Vernetzungskongress „Urbanize“ im Oktober hieß es,
       Ziel der „Stadtgesellschaft“ sei es, die „Normalität des politischen und
       Verwaltungshandelns in kreative Unruhe zu versetzen“. Kategorisch wird
       gefordert, dass alle städtischen Wohnungsbauvorhaben einer ergebnisoffenen
       Partizipation, also einer Art Genehmigungsvorbehalt, seitens der selbst
       ernannten „Stadtgesellschaft“ unterliegen.
       
       Propagiert wird stattdessen ein neuer Munizipalismus, eine ursprünglich dem
       Anarchismus entlehnte Form der basisdemokratischen Politik in Gemeinden und
       Stadtteilen.
       
       ## Selbstbewusste Stadtgesellschaft
       
       Bei Grünen und Linken rennt man damit in Berlin offene Türen ein. Schon vor
       der Wahl im Herbst 2016 hatten sich diese beiden Parteien in die Kampagnen
       der „Neubaukritiker“ eingereiht, unter anderem gegen die Randbebauung des
       Tempelhofer Feldes und des Mauerparks. Als Regierungsparteien knüpften
       beide Parteien daran an und setzten im Koalitionsvertrag umfangreiche
       Formen der Partizipation durch, die von der „Stadtgesellschaft“ vor allem
       dazu genutzt werden, um Neubauvorhaben zu reduzieren, zu verzögern oder gar
       zu verhindern.
       
       Und wenn schon gebaut wird, dann bitte unter maßgeblicher Beteiligung
       „lokaler Akteure“ mit „selbstverwalteten Strukturen“. Bei innerstädtischen
       Verdichtungen kommen dann stets noch die berühmten „Kaltluftschneisen“
       dazu. Mit dabei sind auch die sogenannten Baugruppen und
       Mikrogenossenschaften, also jene gut betuchten Teile des alternativen
       Bürgertums, die sich unter der Fahne der Selbstverwaltung mit öffentlicher
       Förderung ihr Wohneigentum in bester Lage sichern wollen.
       
       Was sich da als emanzipatorische, soziale Bewegung geriert, ist im Kern das
       genaue Gegenteil. Wer die Castings für Wohnungen in selbstverwalteten
       Häusern kennt, kann sich kaum vorstellen, dass ein identitätspolitisch
       unbedarfter und überhaupt bewegungsferner „Normalo“ jemals eine Chance
       haben könnte, die Wohnung zu bekommen, auch wenn er sie noch so dringend
       bräuchte. Wenn schon Hartz-IV-Bezieher, dann bitte aus dem eigenen
       soziokulturellen Milieu und gern auch eine Flüchtlingsfamilie für die
       antirassistische Credibility.
       
       Eine selbstbewusste Stadtgesellschaft, die diesen Namen verdient und sich
       auf die sozialen Bedürfnisse großer Teile der Bevölkerung bezieht, müsste
       dem entschieden entgegentreten, statt es unter falscher Flagge zu
       hätscheln. Wohnungsbau und Wohnraumvergabe gehören unter öffentliche und
       entsprechend legitimierte Kontrolle, was auch bedeutet, gesamtstädtische
       soziale Notwendigkeiten gegen egoistische Klientele durchzusetzen.
       
       ## Mächtige Immobilienlobby
       
       Und zwar sowohl gegen die mächtige Immobilienlobby als auch gegen
       alternative Kiez- und Projektegoisten. Eine rot-rot-grüne, also dem
       Selbstverständnis nach eher linke Stadtregierung hätte die Aufgabe, diese
       Prämissen durchzusetzen und die Interessen der 50.000 Wohnungslosen in den
       Mittelpunkt zu stellen. Aber sie tut es nicht, weil besonders Linke und
       Grüne selber stark in diesen neobürgerlichen Milieus verwurzelt sind.
       
       Es wäre dringend notwendig, [3][die alte linke Losung „Die Häuser denen,
       die drin wohnen“] teilweise neu zu interpretieren. Natürlich bleiben
       Besetzungen spekulativ leer stehender Immobilien mit dem Ziel der
       kollektiven Aneignung ein legitimes Mittel. Doch ein quantitativ relevanter
       Teil der Lösung der Wohnungsfrage sind sie nicht. Es geht um die Schaffung
       und Verteilung von Wohnungen, die allen gehören und von allen genutzt
       werden können, und nicht nur wortmächtigen oder reichen Minderheiten.
       
       15 Nov 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /!166451/
   DIR [2] /Recht-auf-Stadt-fuers-Buecherregal/!5222114
   DIR [3] https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/bundestagswahl/alle-schlagzeilen/die-haeuser-denen-die-drin-wohnen-gruene-uneinig-ueber-wahl-slogan-aus-berlin/20296020.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rainer Balcerowiak
       
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