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       # taz.de -- 4-Stunden-Film „An Elephant Sitting Still“: Jugend in kontaminiertem Gebiet
       
       > Ein Tag, vier Schicksale, wenig Hoffnung: Der Spielfilm „An Elephant
       > Sitting Still“ von Hu Bo erzählt so lässig wie traurig vom heutigen
       > China.
       
   IMG Bild: Reiseziel Manzhouli, wo der Elefant stillsitzt: Huangling (Wang Yuwen) und Weibu (Peng Yuchang)
       
       Man meint, an diesem endlos währenden Tag würde niemals die Sonne zu sehen
       sein. Und dann lugt sie einen plötzlich an. Und man ist sich nicht sicher,
       ob das jetzt Hoffnung bedeuten kann oder doch eher nichts.
       
       Die Welt, die Hu Bo in seinem ersten und letzten langen Film „An Elephant
       Sitting Still“ errichtet – oder vielmehr für das Kino aufbereitet, lässt
       eigentlich nicht viel Grund für so etwas für Hoffnung. Sie ist geflochten
       aus einer endlosen Kette an Ereignissen, die alle auf ungute Weise
       miteinander verbunden sind, die alle Beteiligten auf eine ebenso ungute
       Weise miteinander verbinden: Schlägst du mich, schlag ich dich; bestiehlst
       du mich, bestehle ich dich; wenn es mir schlecht geht, dann darf es dir
       nicht gut gehen.
       
       In der Unmöglichkeit, nicht zu reagieren, reiht sich ein Affekt an den
       nächsten, der wiederum einen weiteren auslöst. Nur bei einem ist es anders:
       dem geheimnisvollen Elefanten, der wie ein Zenmeister an einem etwas
       entfernt liegenden Ort einfach nur stillsitzen und nichts machen soll. Er
       löst bei allen, die von ihm hören, Gelächter aus. Aber kein höhnisches,
       sondern ein bewunderndes, verunsichertes, so als könnte man es kaum
       glauben, dass es etwas in dieser Art wirklich geben könnte: einfach
       dasitzen; nichts machen; den Tag passieren lassen, weder einstecken noch
       austeilen.
       
       Der Elefant hockt in Manzhouli, einer nordchinesischen Stadt, in einem
       Zoo. Er ist im Film immer wieder anwesend, obwohl er unsichtbar bleibt. Man
       erzählt sich über ihn, seine Existenz wird nicht vergessen. Die Idee, zu
       ihm zu fahren, ist auch der Wunsch, diesen unbenannt bleibenden – und damit
       vielleicht stellvertretend für viele Orte stehenden – Flecken zu verlassen,
       an dem den ganzen Tag schon Fürchterliches geschieht.
       
       Der Elefant taucht auf, wenn es einen Moment des Durchatmens gibt. In der
       Begegnung zwischen dem 16-jährigen Bu (Peng Yuchang) und seiner
       Mitschülerin Ling (Wang Yuwen) etwa. Sie unterhalten sich über einen Trip
       nach Manzhouli. Fast, als wäre nichts dabei und als spiele es keine Rolle,
       dass Bu in diesem Augenblick von Cheng (Zhang Yu) gesucht wird, einem
       Lokalganoven, dessen Netze weit reichen, und der Bu auf seiner
       Abschussliste stehen hat. Warum? Weil Bu am Morgen desselben Tages Chengs
       jüngeren Bruder, einen unausstehlichen Peiniger der hiesigen Schule, derart
       geschubst hat, dass dieser die Treppen hinunterfiel und –
       unglücklicherweise – daran starb.
       
       ## Festen Schrittes Richtung Fenster
       
       Dabei ist Cheng selbst mit noch ganz anderem Gepäck unterwegs: Ebenfalls am
       Morgen dieses dunklen Tages musste er mit ansehen, wie sein bester Freund
       festen Schrittes Richtung Fenster lief und sprang. Warum? Weil er seine
       Frau mit Cheng in der gemeinsamen Wohnung erwischte, kurz nachdem sich
       beide die Kleider wieder angezogen hatten.
       
       Später werden andere Motive genannt: die Verschuldung, die der Freund mit
       dem Kauf der Wohnung eingegangen war, um Bedürfnissen nach Komfort
       nachzukommen und im Wettlauf um einen Platz im schönen neuen China nicht
       zurückzubleiben. Es ist der andere Motor in dieser trüben, rasanten und
       gleichzeitig wie erlegten Welt, der die Dinge ins Rollen bringt: die
       Sehnsucht nach Verbesserung und Aufstieg, mitunter sehr zynisch
       vorgetragen.
       
       Da ist zum Beispiel der höhere Angestellte einer Schule (der auch ein
       Verhältnis mit der Schülerin Ling hat und außerdem eine große, frische
       Wohnung), der seinen Schülern ihre Zukunft prophezeit: als armselige
       Straßenverkäufer mit transportablen Garküchen würden sie alle enden. Warum?
       Diese Schule sei so schlecht, sie könne gar nichts anderes ausspucken als
       Verlierer.
       
       ## Das nächste Unglück in Gang setzen
       
       Das „Warum“ im Film, und damit auch in diesem Text, schwindelt eine
       Kausalität herbei, die nicht unbedingt wahr ist, aber die Folgehandlungen
       legitimiert. Irgendwo muss es ja einen Grund dafür geben, dass sich das
       nächste Unglück in Gang setzen darf. In „An Elephant Sitting Still“ ist
       dieses Prinzip ohne Anfang und Ende – und der Film hat eine Laufzeit von
       knapp vier Stunden. Sie tun weh. Gleichzeitig sind sie wunderschön.
       
       In einem englischsprachigen Blogbeitrag, verfasst während der Berlinale, wo
       Hu Bos Film in der Sektion Forum lief und sich schnell den Ruf eines
       Must-see erspielte, heißt es: „What Joy Divsion achieved chromatically
       through sound, Hu Bo did with light.“ Genau genommen nicht nur Hu Bo,
       sondern auch dessen Kameramann Fan Chao. Das Internet kennt ihn noch nicht,
       jedenfalls das außerhalb Chinas. Es sagt, Fan Chao habe bisher nur diesen
       einen Film gemacht. Das ist wahrscheinlich nicht richtig. Und selbst wenn,
       fällt es schwer zu glauben.
       
       Es ist eine sehr selbstbewusste, freie Kameraführung, die hier zu sehen
       ist, eine, die sich nicht nur vorausschauend und geschmeidig zu bewegen
       versteht, sondern auch mit Schärfen und Unschärfen umzugehen weiß, und
       darüber hinaus: auch mit ihnen erzählt. Das eingesetzte Licht macht indes
       die Spanne zwischen Abgrund und Weite deutlich. Immer wieder verschwinden
       Menschen in die Dunkelheit hinein, in Treppenhäuser oder Wohnungen, in die
       kein Licht dringt, weil gleich vor dem Fenster eine Mauer aufsteigt.
       
       ## Man pöbelt und mordet auch bei Tageslicht
       
       Aber auch das Licht, das es vor der Tür anzutreffen gilt, ist nicht
       automatisch gutmütig gesinnt – es stellt aus. Interessanterweise scheint
       das niemanden zu stören. Heißt es, das Gräuel passiere im Dunkeln, spielt
       all dies hier keine Rolle mehr: Man pöbelt und mordet auch bei Tageslicht,
       wo es jeder sehen kann.
       
       Es gibt ein großes, stellenweise sogar stumpfes Einvernehmen mit diesen
       Abläufen, ganz so, als hätte man es mit Naturgesetzen zu tun. „Das Leiden
       beginnt schon mit der Geburt“, sagt der Lehrer an einer Stelle zu Ling, und
       damit ist nichts Weises gemeint, sondern vielmehr eine Art Freibrief, in
       dem steht, dass es legitim und normal ist, Leid zuzufügen. Hu Bos Einsicht
       in diese Prozesse ist deprimierend. Den Glauben an die Erwachsenen hat er
       aufgegeben. Sympathisches umgibt höchstens die Alten, die noch andere
       Zeiten kennen, deren Weg aber unaufhaltsam Richtung Altersheim weist.
       
       Den Jungen wird etwas zugetraut, aber sie wachsen in kontaminiertem Gebiet
       heran. Und dann gibt es solch zwielichtige interessante Gestalten wie eben
       diesen Cheng, den man fürchtet, der aber auch noch nicht ganz abgeschaltet
       hat. In jenem Aufeinandertreffen zwischen Cheng und dem Teenager Bu könnte
       etwas geschehen, das über das Reflexhafte hinausgeht. Und Hu Bo baut seinen
       Film geschickt auf diese Klimax hin.
       
       ## Als Held gefeiert
       
       Angeblich wird Hu Bo von seinen Altersgenossen für das Zeigen dieses Chinas
       als Held gefeiert. Dass er sich im Oktober 2017, nur wenige Monate vor der
       Premiere seines Films, im Alter von 29 Jahren, in einem Treppenhaus
       erhängte, trägt sicherlich zum Mythos bei. Man kann nur spekulieren, was
       von diesem Regisseur noch zu erwarten gewesen wäre – beziehungsweise von
       diesem Autor. Denn Hu Bo hat sich auch als Verfasser von Erzählungen
       hervorgetan, allerdings unter dem Namen Hu Quian.
       
       Im Januar letzten Jahres erschien seine Kurzgeschichtensammlung,
       herausgegeben vom Verlag Jiuzhou Press, unter dem Titel „Big Crack“. Bis
       dato liegt weder eine englische, geschweige denn eine deutsche Übersetzung
       vor. Eine solche aber böte immerhin die Gelegenheit, noch etwas tiefer in
       diesen Kopf zu dringen, der so lässig wie tieftraurig von einem Land und
       seiner Gesellschaft berichtet. Sein Tonfall erinnert an das musikalische
       Thema, von dem „An Elephant Sitting Still“ unterwandert ist, einer
       monotonen, hübschen und melancholischen Melodie (Hua Lun), die beschwingt
       und gleichzeitig kaputt klingt, wie auf defekten Instrumenten aufgenommen.
       Ein verschatteter Herzschlag. Aber doch ein Herzschlag.
       
       15 Nov 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carolin Weidner
       
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