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       # taz.de -- Gewalt gegen Frauen in Sierra Leone: Straflos, „weil es die UNO ist“
       
       > Vergewaltigungen durch UN-Personal in Konfliktländern werden nicht
       > konsequent geahndet. In Sierra Leone wehren sich die Betroffenen nun.
       
   IMG Bild: Für die UNO im Einsatz: Blauhelmsoldaten
       
       Freetown taz | „Niemand hat sich um die Gemeinschaften gekümmert, in denen
       Frauen von der UN-Mission sexuell missbraucht wurden.“ Mit diesen Worten
       beschreibt Saramba Kandeh die Erfahrungen, die sie beim Versuch der
       Aufklärung sexueller Übergriffe durch UN-Blauhelme in Sierra Leone gemacht
       hat. Die Menschenrechtsexpertin sitzt hinter ihrem Laptop im Büro der
       Rechtsberatungsstelle Timap for Justice in Freetown. Sie ist Beraterin der
       internationalen Organisation Aids Free World für deren Projekt „Code Blue“,
       das sexuellen Übergriffen und Gewalt durch UNO-Friedenstruppen nachspürt,
       mit Timap als Partner in Sierra Leone.
       
       Den brutalen Bürgerkrieg in Sierra Leone von 1991 bis 2002 erlebte Kandeh
       als Kind. Von 1999 bis 2006 waren UN-Blauhelmsoldaten zum Schutz der
       Bevölkerung im Einsatz. 2001 erwähnte Save the Children erstmals sexuellen
       Missbrauch durch Friedenstruppen in einem Bericht, 2003 legte Human Rights
       Watch nach.
       
       Die wiederholte Vergewaltigung einer Minderjährigen durch einen
       nigerianischen UN-Soldaten im Jahr 2001 wurde demnach polizeilich
       bestätigt. Im April 2002 sollen zwei ukrainische Friedensschützer in Joru
       im Distrikt Kenema eine Massenvergewaltigung begangen haben, mehrere Frauen
       sagten dazu aus. Im Juni 2002 soll ein UN-Soldat aus Bangladesch einen
       14-jährigen Jungen vergewaltigt haben, die Polizei stellte Penetration
       fest.
       
       Was ist seitdem geschehen? Nichts, sagt Kandeh. Ein öffentlicher UN-Bericht
       im Jahr 2005 lobte den Einsatz in Sierra Leone in höchsten Tönen, ohne ein
       Wort über die Sexualvergehen zu verlieren. Kandeh spricht von einem Gefühl
       der Ohnmacht, nicht nur auf individueller, sondern auch auf
       gemeinschaftlicher Ebene, „weil nichts gegen die Vergehen unternommen
       werden konnte, weil es die UNO ist“.
       
       ## Befragung von betroffenen Frauen
       
       „Wir wollen dafür sorgen, dass die Vereinten Nationen sich nicht ihrer
       Verantwortung entziehen können“, erklärt Kandeh. „Sie sollen für zukünftige
       Einsätze neue präventive Maßnahmen einführen, die im Einklang mit den
       Empfehlungen und Forderungen ehemaliger Opfer stehen.“ Die UNO versuche,
       das Thema intern anzugehen – aber sie könne nicht gleichzeitig Täter,
       Ermittler und Richter sein, sagt Kandeh.
       
       Code Blue sammelt über Timap durch Befragungen vor Ort Informationen von
       Betroffenen, als Grundlage für eine Art Generalplan zur Prävention
       sexuellen Missbrauchs. „Bisher hat sich niemand wirklich um die Betroffenen
       gekümmert, noch wurden die Vergehen überhaupt adäquat aufgenommen“, betont
       Kandeh. Es sei bekannt, dass sexueller Missbrauch durch UN-Personal
       stattgefunden hatte, aber „ohne statistische Erfassung und ohne
       Beweisaufnahme“.
       
       Als Kandeh und ihre Kolleg*Innen im Juli im Norden des Landes zum ersten
       Mal zu einem Konsultationstag riefen, wurden sie von dem Andrang
       überwältigt. „Nicht nur direkte Opfer, sondern nahezu 100 Personen der
       ganzen Gemeinschaft versammelten sich, nicht nur Frauen, auch Männer“,
       schildert Kandeh das Treffen. „Viele wollten zum ersten Mal über das ihnen
       Widerfahrene aussagen.“ Seitdem hat sie zwei weitere Konsultationen
       ausgeführt und will demnächst in Liberia weiterarbeiten. Außerdem wird das
       Projekt umstrukturiert.
       
       Ging es ursprünglich darum, Vorschläge für die Zukunft zu sammeln, wird nun
       der Drang der Überlebenden berücksichtigt, persönliche Aussagen zu machen –
       „in einer Art, die für Opfer den größtmöglichen Schutz, psychologische
       Betreuung, Flexibilität bietet“, so Kandeh. Den meisten gehe es einfach um
       Anerkennung dessen, was ihnen widerfahren ist. Am Ende des Projekts, glaubt
       Kandeh, könnte die Forderung nach einem Sondergerichtshof für sexuelle
       Vergehen durch UN-Truppen und auch Personal anderer internationaler
       Organisationen stehen.
       
       ## Regierung ingnoriert das Problem
       
       Im bitterarmen Sierra Leone ist all dies ein Novum. Scham, kulturelle
       Hierarchien und Bestechung der Polizei verhindern Aufklärung. Erst seit
       2012 steht in Sierra Leone auf Sexualverbrechen eine Freiheitsstrafe von
       bis zu 15 Jahren, Opfer haben das Recht auf staatliche medizinische
       Versorgung und gerichtsmedizinische Untersuchungen. Kandeh sagt aber, dass
       die von UN-Friedenstruppen begangene sexuelle Gewalt bis heute keinerlei
       Beachtung durch die Regierung erfahren habe, „trotz der Verbreitung des
       Phänomens und der verheerenden Konsequenzen“.
       
       Dazu komme die Zukunft der unter diesen Bedingungen gezeugten Kinder.
       Kandeh hat in Sierra Leone Frauen getroffen, die mit fast erwachsenen
       Kindern alleine dastehen – deren Aussehen gibt klare Hinweise. „Sie
       erfahren Diskriminierung wegen ihres Aussehens. Trotzdem liegt vielen
       daran, die fehlenden Väter zu lokalisieren. Das Leugnen jeglicher
       väterlicher Verantwortung ist ein starkes Symbol der schlimmsten Aspekte
       des UN-Einsatzes.“
       
       Die UNO sagt von sich selbst, sie sei durchaus aktiv für Opfer sexueller
       Vergehen ihres Personals. Lynne Goldberg, Sprecherin einer eigens
       geschaffenen UN-Stelle zur „Verbesserung der Reaktion auf sexuelle
       Ausbeutung“, verweist auf Anfrage der taz auf die alljährlichen
       Stellungnahmen des Generalsekretärs António Guterres. Auf einem
       Informationsblatt sind alle Maßnahmen aufgelistet.
       
       Ein Protokoll, wie Opfer versorgt werden müssen, werde derzeit getestet.
       Sämtliches Personal werde verstärkt geschult, Infokarten würden „als
       Erinnerung an die erwarteten Standards“ ausgehändigt – als ob, wie Code
       Blue dazu bemerkt, das Problem bei der mangelhafter Erinnerung liege. Es
       gibt ausgebildete Opferberater. Das Resultat, laut dem letzten UN-Bericht
       zum Thema im Februar: 62 Anklagen in zehn UN-Missionen, bei insgesamt 130
       Opfern. 47 Prozent bezogen sich auf historische Fälle, keine jedoch auf
       Sierra Leone.
       
       Code Blue ist skeptisch. „Seit 2005 wurde kein einziger ziviler Mitarbeiter
       der UNO an die Justiz seines Landes übergeben“, sagt die Organisation. Und
       da die Immunität der UNO solche Schritte erschwert, müsse es ein
       Sondergericht geben. Vielen Sierra-Leonerinnen reicht all das nicht,
       berichtet Sayra Van den Berg, Mitarbeiterin von Timap. „Als wir nach
       Maßnahmen für zukünftige UN-Einsätze fragten, forderten viele eine
       temporäre chemische Kastration.“
       
       22 Nov 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Zylbersztajn
       
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