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       # taz.de -- Milchproduktion in Niedersachsen: Das Leid der Turbo-Kühe
       
       > In einem Schlachthof wurden nicht mehr transportfähige Milchkühe
       > angeliefert. Die genetisch optimierten Tiere erbringen Höchstleistungen
       > und sterben jung.
       
   IMG Bild: Allein auf Größe und maximalen Ertrag getrimmt: Euter einer Milchkuh
       
       Hannover taz | Kühe können locker zwanzig Jahre alt werden. In der
       Milchproduktion [1][werden sie meist nicht älter als fünf]. Dann kommen sie
       zum Schlachter. Sie haben dann Zehntausende Liter Milch gegeben und ihre
       Körper sind erschöpft. Die Hochleistungskuh schlechthin, die schwarz-weiße
       Holstein-Friesian, gibt zwischen 8.000 und 16.000 Kilogramm Milch in etwas
       weniger als einem Jahr. So preisen es die Züchter im Internet an.
       
       Um ein Kalb satt zu kriegen, müsste eine Kuh nur etwa acht Kilogramm Milch
       am Tag geben. Das wären im selben Zeitraum rund 2.400 Kilogramm Milch. Dass
       die Kuh unter Hochdruck produziert, stimuliert von Zucht und Futter, geht
       nicht spurlos an ihr vorbei. Die Tiere verlieren an Gewicht, weil ihre
       ganze Energie ins Euter geht.
       
       Das haben spätestens die jüngst veröffentlichten Bilder aus den
       Schlachthöfen in Bad Iburg und Oldenburg gezeigt, die Tierschützer heimlich
       aufgenommen haben. Milchkühe wurden dort an Ketten aus Transportern gezogen
       und mit Elektroschockern malträtiert, weil sie zu schwach waren, um einen
       einzigen Schritt zu tun.
       
       Das betrifft nicht nur einzelne Kühe. In Bad Iburg hing die versteckte
       Kamera des Vereins „Soko Tierschutz“ etwas mehr als vier Wochen. Zu sehen
       sind laut der Tierschützer etwa 200 Tiere, die nicht mehr eigenständig
       laufen konnten.
       
       ## Ausgemergelte Tiere
       
       Die Tierquälerei in solchen Schlachthöfen ist grausam. Der eigentliche
       Skandal beginnt aber davor. Die Milchkühe sind nicht erst durch den
       Transport so ausgemergelt, sondern durch ihr Leben als Milchmaschinen.
       
       In Niedersachsen und Schleswig-Holstein zusammen leben rund 1.254.600
       Milchkühe. Zu Milchkühen werden sie mit zwei bis zweieinhalb Jahren
       gemacht. Dann bekommen sie das erste Kalb und werden kurz danach von ihm
       getrennt. Oft sofort, mal Stunden oder wenige Tage später. Das Kalb bekommt
       nur die erste Milch der Kuh, die sogenannte Biestmilch. Diese soll vor
       Krankheiten schützen. Danach gibt es künstlich hergestellte Ersatzmilch aus
       dem Tränkeeimer.
       
       Eine Bindung zwischen Kalb und Mutter ist unerwünscht. Denn die Kälber
       werden nach der Geburt zunächst einzeln in sogenannten Kälber-Iglus
       gehalten. Das sind weiße Plastikboxen mit einem kleinen Auslauf davor. Die
       männlichen Kälber werden gemästet und wandern nach etwa 22 Wochen als
       zartes Kalbfleisch in die Supermarktregale – falls sich das Mästen lohnt.
       Die weiblichen Kälber zieht der Bauer als Nachschub für die Milchproduktion
       groß.
       
       ## Jedes Jahr ein Kalb
       
       In den ersten Wochen nach der Geburt ist die Milchleistung der Kühe am
       größten und fällt dann langsam ab. Damit die Milchleistung stimmt, werden
       die Kühe schnell wieder künstlich befruchtet. Jedes Jahr ein Kalb ist das
       erklärte Ziel der Milchbranche.
       
       Die Kuh ist also ständig trächtig. Wird sie dennoch geschlachtet, erstickt
       dabei das Kalb in ihrem Leib. Seit 2017 ist es in Deutschland verboten,
       Säugetiere im letzten Drittel der Trächtigkeit zu schlachten.
       Notschlachtungen sind aber weiterhin erlaubt. Die Europäische Behörde für
       Lebensmittelsicherheit hatte [2][in einer Studie] geschätzt, dass drei
       Prozent der Milchkühe in diesem fortgeschrittenen Stadium der
       Schwangerschaft sind, wenn sie geschlachtet werden.
       
       Es ist eine einfache Rechnung. Wenn Kühe mit zwei bis zweieinhalb Jahren
       das erste Kalb bekommen, danach jedes Jahr eines folgt und sie nicht älter
       als fünf Jahre werden, ist ihr Leben im Schnitt nach zwei bis drei Kälbern
       vorbei. Das scheint sich noch immer zu rechnen. Zwar gibt es Landwirte, die
       umdenken und weniger auf Milchleistung und stärker auf eine längere
       Lebensdauer der Kühe setzen, Mainstream ist das aber noch nicht – auch
       aufgrund des großen wirtschaftlichen Drucks.
       
       Wie weit entfernt die Züchter und Tierhalter davon sind, Milchkühe als
       empfindsame Wesen wahrzunehmen, zeigen die Rassebeschreibungen im Internet:
       Dort werden das „[3][enorme genetische Leistungsvermögen]“, ein „[4][großes
       Grundfutter- und Trockensubstanzaufnahmevermögen]“ oder die
       „funktionsfähigen, sehr gut melkbaren Euter“ gepriesen. Milchkühe sind
       Maschinen, die Gras in den wertvollen Rohstoff Milch umwandeln.
       
       Insgesamt entfernt sich der Landwirt immer mehr von seinen Tieren. Das war
       in der vergangenen Woche [5][auf der Fachmesse Eurotier] in Hannover gut zu
       sehen. Dort haben Firmen Roboter präsentiert, die verschiedene Futtermittel
       aus verschiedenen Behältern einsammeln, mischen und direkt vor die Kühe
       fahren. Der Landwirt muss zum Füttern nicht mehr selbst in den Stall gehen
       und auch fürs Ausmisten gibt es Maschinen.
       
       Doch wenn der Landwirt weniger vor Ort ist, entdeckt er dann Verletzungen
       und Krankheiten? Können intelligente Ohrmarken, die die Bewegungen der
       Tiere erfassen und damit angeblich auch ihr Befinden, den direkten Kontakt
       wirklich ersetzen?
       
       Der Verein Soko Tierschutz [6][hat ein Video veröffentlicht], das zeigt,
       wie ein frisch geborenes Kalb von einem Mistschieber, der im Prinzip wie
       ein Schneeräumer funktioniert, durch den Stall geschoben wird. Die
       Mutterkuh steht hilflos daneben. Eigentlich separiert der Landwirt
       trächtige Kühe kurz vor der Geburt von der Gruppe. Wenn das Kalb aber zu
       früh kommt, mitten im Stall und die Maschine setzt sich in Bewegung, ist
       das lebensgefährlich für das Kalb.
       
       ## Videos sind Momentaufnahmen
       
       Sicher zeigen solche Videos immer eine Momentaufnahme. Sie sind nicht für
       alle Ställe zu verallgemeinern und auch die Zustände in Bad Iburg oder
       Oldenburg nicht für alle Schlachthöfe. Viele Landwirte bemühen sich um ihre
       Tiere und es gibt eine ganze Industrie, die sich selbstdrehende
       Kratzbürsten und Kuhmatratzen ausdenkt, damit es den Tieren besser geht.
       
       Trotzdem liegt der Fehler nicht nur an einzelnen Landwirten, die ihre Tiere
       schlecht behandeln, sondern im System. Solange das Ziel der Verbesserungen
       von Stall, Beschäftigung und Tiergesundheit nur ist, dass Milchkühe immer
       noch mehr Milch produzieren, wird sich am Zustand der Tiere vor der
       Schlachtung nichts ändern.
       
       Denn am Ende des Produktionszyklus ist bei dieser enormen Milchmenge auch
       die Kuh am Ende.
       
       Mehr über das Elend der Milchkühe lesen Sie im aktuellen
       Wochenendschwerpunkt der taz.nord oder am [7][E-Kiosk].
       
       16 Nov 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.agrarheute.com/tier/rind/faktencheck-turbokuehe-milchleistung-versus-lebensdauer-536323
   DIR [2] https://www.bmel.de/DE/Tier/Tierwohl/_texte/schlachten-traechtiger-tiere.html
   DIR [3] https://www.elite-magazin.de/news/nachrichten/21-168-kg-milch-9284569.html
   DIR [4] http://www.schalk-nutztiere.com/de/rassen-1242.html
   DIR [5] https://www.eurotier.com/
   DIR [6] https://www.facebook.com/sokotierschutz.ev/videos/ein-k%C3%A4lberschicksal-in-deutschland-geboren-um-durch-inkopetenz-und-gleichg%C3%BCltigk/730660070391630/
   DIR [7] /!p4350/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andrea Maestro
       
       ## TAGS
       
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