URI: 
       # taz.de -- Kommentar Sprachnachrichten: Das ist geistiger Missbrauch
       
       > Viele Menschen finden es praktisch, mit dem Smartphone Sprachnachrichten
       > zu verschicken. Schlimm ist es für die, die damit zugemüllt werden.
       
   IMG Bild: Wer hat denn Zeit und Nerven für all die Sprachis?
       
       Mit echter gesprochener Kommunikation ist es wie mit einem Ballspiel. Ein
       Anruf, eine Frage, der Anfang eines Gesprächs, das ist ein Angebot. Ich
       signalisiere: Ja – oder eben Nein. Bei Ja folgt ein Passspiel, hin und her,
       du und ich. Echter Austausch eben.
       
       Mit Sprachnachrichten auf [1][WhatsApp] ist das anders. Da nimmt das
       Gegenüber den Ball und haut ihn mir in die Fresse. Danach liegt der Ball in
       meinem Feld, und ich bin dran. Ob ich will oder nicht.
       
       Sprachnachrichten sind eine Ausgeburt des Egoismus. Ellenlanges Rumgelaber
       ohne Sinn und Verstand. Das ist kein Angebot zur Kommunikation, das ist
       geistiger Missbrauch.
       
       Für alle Glücklichen, die nicht wissen, was eine Sprachnachricht ist: 2013
       hat WhatsApp, der bekannteste Messengerdienst für Smartphones, die
       Möglichkeit eingeführt, neben Texten und Bildern auch Audiodateien zu
       verschicken. Im Chatfenster muss man einen Knopf gedrückt halten, labert
       drauflos, und beim Loslassen sendet sich die Datei von selbst.
       
       Zumindest war das am Anfang so. Meiner Meinung nach eine Schutzfunktion,
       damit dem Versender irgendwann der Daumen abfault und die Nachricht dadurch
       kürzer bleibt. Heute gibt es eine Zusatzfunktion, die es ermöglicht, dass
       man freihändig sprechen kann und erst bei einem weiteren Drücken auf den
       Knopf die Nachricht versendet. Gut für alle, die sich selbst gerne reden
       hören. Schlecht für den Rest vom Fest, der das ertragen muss.
       
       Okay, es gibt eine Ausnahme: Für Menschen mit Behinderungen, die es ihnen
       erschweren, auf Handydisplays lange Texte zu schreiben, sind
       Sprachnachrichten eine gute Sache. Klar! Wobei auch die sich gern vorm
       Abschicken überlegen können, wie ausführlich sie die Sprachnachricht
       halten. Für alle anderen gilt das erst recht.
       
       Die größte Frechheit, die mir dabei je begegnet ist, war 9 Minuten und 43
       Sekunden lang. Mit einem harmlosen „Pling“ kündigte sie sich an, rechts
       oben auf dem Handy blinkte ein kleines Licht in Dünnschissorange. Die
       Aggression rumorte in meinem Kopf: Was zur Hölle will man mir in 9 Minuten
       und 43 Sekunden sagen? 100 Euro, dass es nur unwichtiges Zeug ist, wettet
       mein Gehirn mit sich selbst.
       
       Ich ärgere mich, weil ich weiß: Ich werde sie trotzdem anhören. Warum? Weiß
       ich nicht. Ich fühle mich unter Druck. Der Ball liegt in meinem Feld, und
       ihn liegen lassen, das tun nur Spielverderber. Außerdem habe ich keine Lust
       auf eine Diskussion à la „Warum antwortest du nicht, alles okay?“.
       
       ## Die größte Frechheit war 9 Minuten und 43 Sekunden lang
       
       Dabei ist die große Frage: Wie soll ich denn bitte antworten? Mein
       Gegenüber hat sich ja selber gegen ein Telefonat und für diesen Audiomüll
       entschieden, für ein Format, das keine Zwischenrufe, Nachfragen, nicht mal
       „Ach so“ und „Hmmmhmms“ zulässt. Meine Kommentare darf ich jetzt post
       disputatio anbringen. „Ja, Mensch, klasse. Das, was du bei Minute drei
       gesagt hast, klingt spannend.“ So?
       
       Und abgesehen davon: Was soll ich denn überhaupt antworten? In
       Sprachnachrichten werden meistens keine Fragen gestellt. Soll ich das
       Erzählte einfach anschließend loben, einordnen und kommentieren? Oder soll
       ich im Gegenzug auch über meinen Tag sinnieren? Bestimmt nicht. Wenn man
       ehrlich ist, sind Sprachnachrichten Kommunikationssackgassen. Eine Runde
       Märchenstunde. Völlig sinnbefreite Datenmenge. Sie gehören abgeschafft.
       
       Stattdessen drücke ich auf Abspielen. Schnell das Handy ans Ohr, damit
       nicht alle mithören können. Wer bis jetzt noch dachte: „Ach,
       Sprachnachrichten, alles halb so wild“, dem gönne ich folgende Kostprobe
       von Herzen.
       
       „Heeeeeeey, ich bin’s, ich wollte dir nur mal ’ne Nachricht dalassen.“ Ach
       echt? „Ich sitze gerade auf der Couch, eingemummelt in meine Kuscheldecke,
       und draußen regnet es ganz fürchterlich. Heute ist allgemein so ein grauer
       Tag. Mann, mann, die Kälte macht mich echt fertig. Und unseren Kater auch,
       der will gar nicht mehr richtig raus. Ist es bei euch in Berlin auch so
       kalt? Na ja, egal.“ Ja, stimmt, egal. Wen interessiert’s? „Gestern war ich
       Geschenke kaufen, ich weiß, es ist eigentlich viel zu früh für
       Weihnachtsgeschenke, aber die Lebkuchen, die im Laden liegen, machen mich
       schon ganz nervös. Haha.“
       
       Als Teenager habe ich Tagebuch geschrieben. Genauso wirr und
       zusammenhanglos. Aber hallo, ich war 13, und noch dazu habe ich niemanden
       belästigt. Papier ist geduldig. Ich bin es nicht.
       
       Sprachnachrichten sind die große peinliche Tante von Textnachrichten.
       Anders als geschriebene Nachrichten verlangen sie meine volle
       Aufmerksamkeit. Überfliegen ist nicht. Den ganzen Müll in einer normalen
       Textnachricht aufzuschreiben, das würde sich gleichzeitig kein Mensch
       antun. 9 Minuten und 43 Sekunden Laberrhabarber entsprechen, ich habe das
       mal getestet, ungefähr 15.000 Zeichen Text. Das ist ziemlich genau die
       doppelte Länge dieses Artikels.
       
       ## Kann ein Monolog Teil eines Dialogs sein? Natürlich nicht
       
       „Für Philipp habe ich Beats-Kopfhörer besorgt, die schwarzen, die neuen.
       Waren echt teuer, aber der Klang soll sehr gut sein. Na ja. Was wollte ich
       noch sagen? Ähm …“ Ja, genau, was wolltest du eigentlich sagen? „Ach,
       genau, am 19. kommt meine Schwester zu Besuch, irgendwie hat ihr Freund
       Schluss gemacht, und ihr geht’s nicht so gut. Ich habe gesagt, sie kann
       gerne jederzeit kommen. Sie wollte dann erst nicht so richtig, aber jetzt
       kommt sie doch.“ Vier Minuten sind vorbei, und ich fühle mich schmutzig.
       Benutzt.
       
       Wann haben Menschen damit angefangen, anderen Menschen einfach ihren
       gedanklichen Sondermüll vor die Füße zu kippen? Nicht dass man sich unter
       Freundinnen nicht alles haarklein erzählen kann, aber dann doch bitte mit
       irgendeiner Richtung. Entweder man will einen Rat, eine Reaktion oder
       einfach nur gemeinsam lachen. Das geht aber nur, wenn man miteinander
       kommuniziert und nicht eine Sprachnachricht schickt. Denn wie kann ein
       Monolog Teil eines Dialogs sein? Richtig, geht nicht. Aus gutem Grund habe
       ich keine Mailbox. Wer etwas will, ruft noch mal an.
       
       „… und darum habe ich beschlossen, die Haare wieder wachsen zu lassen. Mir
       geht die Kurzhaarfrisur auf die Nerven.“ Durchhalten, sagt es in meinem
       Kopf. Vielleicht kommt am Ende ja doch noch eine Frage, die ich beantworten
       muss, oder wider Erwarten noch eine wichtige Info. Die Angst, was zu
       verpassen, hält mich bei der Stange.
       
       8 Minuten sind vorbei und meine Hand schläft langsam ein. Von außen
       betrachtet, sehe ich vermutlich aus, als würde ich in der längsten
       Warteschleife der Welt hängen. Handy am Ohr, aber Mund zu. „… ah, habe ich
       schon erzählt, dass Lisa und Lena umziehen? Nach Hildesheim. Die wollten
       noch vor Weihnachten alle Möbel hochfahren, haben sie gesagt. Völliger
       Irrsinn, ich habe dann gesagt sie sollen es im neuen Jahr machen. Lena
       meinte, okay. Dann können wir ja auch beim Packen helfen. Genau. Na ja. So.
       Puh, jetzt habe ich aber lange gequatscht. Haha. Ich freue mich, von dir zu
       hören, bis baa-haald.“
       
       Das war’s. Keine einzige Frage, nur ein Haufen Gedankensalat. Mein Gehirn
       schuldet sich selbst 100 Euro. Und meine Freundin schuldet mir 9 Minuten
       und 43 Sekunden Lebenszeit.
       
       Ich bin erschöpft und sauer und ratlos. Aber wenigstens eine Erkenntnis
       hat’s gebracht: Meine Freundin bekommt ein Tagebuch von mir. Sofort nach
       der Arbeit werde ich eins kaufen. Kriegt sie zu Weihnachten, die blöde Kuh.
       
       17 Nov 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /WhatsApp/!t5023854
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sara Tomsic
       
       ## TAGS
       
   DIR Kommunikation
   DIR Generationen
   DIR Smartphone
   DIR Digitale Medien
   DIR Kommentar
   DIR WhatsApp
   DIR taz.gazete
   DIR 40 Jahre taz
   DIR Digitalsteuer
   DIR Nullen und Einsen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Wut über ein Wort: Wer „leider“ sagt, lügt
       
       Die Steile These: Jeder weiß es, jeder macht es und das muss aufhören. Denn
       jedes „leider“ ist gelogen.
       
   DIR 40 Jahre taz: Drucktechnik und Fortschritt: Analog, okay. Digital? Ach nee!
       
       Die taz geht nur mit „modernster Technik“, das war den Gründern trotz
       Technologie-Skepsis klar. Kein Redakteur wollte aber am Bildschirm
       arbeiten.
       
   DIR Höhere Abgaben für Internetkonzerne: Digitalsteuer in Zeitlupe
       
       Internetfirmen sollen gesondert besteuert werden. Doch eine Einigung
       innerhalb der EU scheint weit entfernt. Auch Deutschland blockiert.
       
   DIR Kolumne Nullen und Einsen: Roboterfreundin?!
       
       Meine Freunde sind beleidigt, weil meine App ihnen monatlich automatisiert
       Nachrichten schickt. Dabei ist das nicht das Problem.