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       # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Das mythische Neukaledonien
       
       > Seit dem 4. November steht fest: Die Insel im Südpazifik bleibt
       > französisch. Ein Stimmungsbild unter Gegnern und Befürwortern der
       > Unabhängigkeit.
       
   IMG Bild: Neukaledonien, Noumea: Wahlkabinen in einem Wahllokal
       
       Wenn die Kreuzfahrtschiffe für einen Tag in der Bucht von Santal vor Anker
       gehen und Hunderte Touristen (die meisten aus Australien) an Land strömen,
       gibt es zur Begrüßung erst einmal Kokosnusswasser und Graviolasaft. Und
       dann, auf der Tour über die Insel Lifou, Vorführungen von
       Flechtkunsthandwerk und traditionellen kanakischen Tänzen.
       
       Drei Wochen vor dem [1][Unabhängigkeitsreferendum in dem französischen
       Überseeterritorium Neukaledonien] ist die Stimmung verhalten. „Das lässt
       uns vollkommen kalt“, sagt Betty Kaudre von einer Bürgerinitiative im
       Distrikt Wetr. „Wir kommen jetzt schon allein zurecht. Für uns ist der 4.
       November ein Tag wie jeder andere.“ Der junge Stammes-Chef Jean-Baptiste
       Ukeinessö Sihaze hält dagegen: „Die Unabhängigkeit ist wichtig. Die
       Menschen müssen zur Abstimmung gehen.“
       
       In den Umfragen lag das „Nein“ schon lange vorn, und das nicht nur bei den
       Loyalisten, die wollen, dass Neukaledonien weiter zu Frankreich gehört.
       Abgesehen von der ungünstigen demografischen Entwicklung für die kanakische
       Bevölkerung ist noch ein seltsames Faktum zu beobachten: Viele
       Unabhängigkeitsbefürworter stimmen nicht für die Unabhängigkeit. Vor 30
       Jahren sind kanakische Aktivisten für diese Idee gestorben. Wie kam es zum
       Sinneswandel?
       
       Seit den Abkommen von Matignon-Oudinot (1988) und Nouméa (1998) ist das
       Überseegebiet mit seinen drei Provinzen verwaltungstechnisch weitgehend
       autonom. Im Norden und auf den Inseln, wo die meisten Kanak leben, gibt es
       heute Straßen, Wasser- und Stromleitungen, weiterführende Schulen und
       Gesundheitszentren. Der Anteil der Neukaledonier mit höherem
       Bildungsabschluss hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verfünffacht.
       
       Außerdem scheint es keinen großen Unterschied zu geben zwischen der
       Autonomie innerhalb Frankreichs und der Unabhängigkeit als assoziiertes
       Gebiet, die die Kanakische Sozialistische Front der Nationalen Befreiung
       (FLNKS) fordert. 2013 sah das noch anders aus. Damals galt die
       Unabhängigkeit den einen als „wichtige Hypothese“, während die anderen an
       das Beispiel Vanuatu gemahnten. Nachdem der benachbarte Inselstaat 1980 aus
       dem britisch-französischen Kondominium Neue Hebriden in die Unabhängigkeit
       entlassen worden war, brach erst einmal die Kaufkraft ein.
       
       ## Das Land sehnt sich nach Ruhe
       
       Viele Caldoches, wie die Neukaledonier europäischer oder gemischter
       Herkunft genannt werden, können gar nicht verstehen, warum man an der
       jetzigen Situation etwas ändern sollte. Die 32-jährige Aurélie ist Lehrerin
       und hat in Frankreich studiert: „Wir sind superverwöhnt. Der ganze Prozess
       ist doch nur lang und ermüdend.“
       
       Auf kanakischer Seite fasst Léopold Hnacipan, Lehrer und Dichter vom Stamm
       der Tieta, die Haltung vieler so zusammen: Gefühlsmäßig sind sie für ein
       unabhängiges Neukaledonien, aber weil sie denken, dass das Land noch nicht
       bereit ist für die Unabhängigkeit, wollen sie das Erreichte nicht
       gefährden. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt pro Kopf zwar 29 Prozent
       unter dem des Mutterlands, ist aber elfmal so hoch wie in Vanuatu.
       
       Mit Ausnahme der Arbeiterpartei, die ihren Wählerinnen und Wählern empfahl,
       am 4. November „fischen zu gehen“, befürworten sämtliche politischen
       Gruppierungen den Prozess, der im Abkommen von Nouméa vereinbart wurde und
       in dessen Mittelpunkt das „gemeinsame Schicksal“ steht: ein mythischer
       Begriff, der eine kaledonische Staatsbürgerschaft postuliert, die einer
       möglichen Nationalität vorausgehen soll. Die Hälfte der heutigen
       Bevölkerung Neukaledoniens hat die bürgerkriegsähnlichen Zustände der
       1980er Jahre nicht miterlebt, die verharmlosend als „Ereignisse“ bezeichnet
       werden. Das Land sehnt sich nach Ruhe und hält lieber am Status quo fest.
       
       Élie Poigoune, einer der Gründer der Partei für die Befreiung der Kanak
       (Palika), die an vorderster Front für die Unabhängigkeit kämpft und
       einstmals marxistisch-leninistische Ideen vertrat, erklärt: „In den letzten
       30 Jahren haben die Caldoches, die Kanak und die anderen Volksgruppen
       gemeinsame Positionen gefunden, wie man das Land in die richtige Richtung
       entwickeln kann, wie das Zusammenleben aussehen soll, damit die
       Gesellschaft harmonischer wird.“
       
       ## „Ein Staubkorn auf der Landkarte“
       
       Poigoune, seit 1998 Vorsitzender der lokalen Menschenrechtsliga (LDH), ist
       zusammen mit anderen „Weisen“ in Schulen und Fernsehstudios gegangen, um im
       Vorfeld der Abstimmung für Einigkeit zu werben. In den 1960er Jahren
       gehörte er zu den ersten Kanak, die das Abitur ablegten. Ihm bedeuten „die
       Werte der Republik“ sehr viel. Er ist für die Unabhängigkeit, kann aber
       auch mit einem „Nein“ leben. Nach den Regeln des Nouméa-Abkommens können
       2020 und 2022 noch zwei weitere Referenden zu der Frage stattfinden.
       
       Poigoune ist außerdem Realist: „Wir können die Verbindungen zu Frankreich
       gar nicht kappen. Wir sind ein Staubkorn auf der Landkarte. Manche Aufgaben
       können wir gar nicht übernehmen.“ Nicht alle teilen diese Ansicht.
       „Vielleicht hätten wir schon vor 20 Jahren abstimmen sollen“, sagt Roch
       Wamytan von der Kaledonischen Union. Er war 1998 Vorsitzender der FLNKS und
       einer der Unterzeichner des Abkommens von Nouméa. „Wir hätten damals
       wahrscheinlich verloren. Aber das hätte uns nicht daran gehindert, das
       Abkommen auszuhandeln.“
       
       Manche klagen auch über die Inhaltsleere des Wahlkampfs. Und die
       Satirezeitschrift Le Chien bleu rennt mit ihrer Kritik an den überalterten,
       nur mit Flügelkämpfen beschäftigten „verbürgerlichten“ Parteien bei vielen
       Abstimmungsberechtigten offene Türen ein. Posten, Dienstwagen, Gehälter,
       bezahlte Reisen ins Mutterland – „Rentiers des Kampfes“, nennt sie Pascal
       Hébert, der ehemalige Generalsekretär einer Bildungseinrichtung.
       
       Pierre Gope, ein kanakischer Theatermacher, forderte mit seinem letzten
       Stück dazu auf, zur Abstimmung zu gehen. Der Titel: „Ich wähle ungültig“.
       „Unsere Politiker sind schwach“, sagt er. „Unsere Ältesten sind alt, und
       die Abgeordneten sind in erster Linie Abgeordnete der Französischen
       Republik, bei den Stämmen tauchen sie nicht mehr auf.“ Um die Spaltung zu
       verdeutlichen, lässt er in dem Stück eine legendäre Gestalt des kanakischen
       Unabhängigkeitskampfs auftreten: Yeiwéné Yeiwéné, die rechte Hand des
       FLNKS-Vorsitzenden Jean-Marie Tjibaou. Beide kamen 1989 bei einem Attentat
       ums Leben.
       
       ## „Aufreger“ im Alltag
       
       „Alles dreht sich nur um die Unabhängigkeit. Das geht mir auf die Nerven!“,
       beschwert sich Alcide Ponga, Bürgermeister von Kouaoua und Mitglied des
       Rassemblement – Les Républicains (R-LR). Er stammt aus einer kanakischen
       Familie, die schon immer auf der Seite der Loyalisten stand. „Nicht die
       politische Klasse ist überaltert, sondern die politischen Fragen, die man
       immer wieder stellt, sind veraltet.“
       
       Der gleichen Ansicht ist auch der 30-jährige Kassierer Kevin Rolland. Das
       Geschäft, in dem er arbeitet, vergibt nur befristete Arbeitsverträge. In
       seiner Freizeit ist Rolland ein „Kydam“, ein rappender Dichter. Mit
       Freunden hat er den Clip „Demain“ zusammengestellt. „Mit euch, aber nicht
       ohne uns“, heißt es darin. Nach seiner Einschätzung ist das Referendum, das
       er selbst boykottiert, den Menschen komplett egal. Die meisten beschäftigt
       eine ganze andere Frage: Wie bewältigen wir den Alltag?
       
       Der Alltag liefert jeden Morgen neue „Aufreger“ im Radio: Das Leben ist
       teuer (33 Prozent teurer als in Frankreich, Lebensmittel sind sogar 73
       Prozent teurer, während der Mindestlohn und das Durchschnittseinkommen um
       20 Prozent geringer sind). Anfang Oktober wurde eine allgemeine
       Mehrwertsteuer eingeführt, die die Preise noch mehr in die Höhe treibt,
       weil manche Händler sie nicht anstelle der bestehenden Steuern erheben,
       sondern noch oben draufschlagen. Es herrscht Bildungsmangel und
       Analphabetismus (33 Prozent der Bevölkerung haben Schwierigkeiten beim
       Lesen), nur drei von 100 Anwälten, die in Nouméa zugelassen sind, sind
       Kanak, an den Universitäten sieht es nicht anders aus. Die Menschen klagen
       über Benachteiligung und mangelnde Sicherheit.
       
       Ein Besuch beim Strafgericht, wo die Richter weiß sind und die Angeklagten
       fast immer schwarz: Gewalt gegen Frauen, Steinwürfe auf Polizeifahrzeuge,
       Drohungen mit Waffengewalt unter Alkoholeinfluss; jedes Jahr werden mehr
       als 5.000 Anzeigen wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit erstattet (das
       entspricht 20 Prozent der Anzeigen in Frankreich). In den Supermärkten sind
       die Alkoholregale zu bestimmten Zeiten verschlossen. Die Kleinkriminalität
       unter dem Einfluss von Alkohol oder Cannabis ist ein Dauerthema. Die Zahl
       aufgebrochener oder gestohlener Fahrzeuge pro Kopf ist doppelt so hoch wie
       im französischen Durchschnitt. Täglich wird von Überfällen auf
       Gesundheitszentren, öffentliche Einrichtungen und Geschäfte berichtet.
       
       ## Die Wunden der Kolonialzeit
       
       Die Arbeitslosenquote lag 2017 bei 11,6 Prozent, nur für Menschen mit
       Behinderung und neuerdings auch für Ältere gibt es Sozialleistungen nach
       dem Vorbild des französischen Mindesteinkommens. Alle anderen gehen leer
       aus. Die Einkommensunterschiede sind doppelt so groß wie in Frankreich, und
       der Lebensstandard der reichsten 10 Prozent ist 7,9-mal so hoch wie der
       Lebensstandard der ärmsten 10 Prozent. „Die nächste Revolution wird keine
       nationalistische, sondern eine soziale sein“, meint deshalb Élie Poigoune.
       
       Der 31-jährige Wirtschaftswissenschaftler Samuel Gorohouna, einer der
       wenigen kanakischen Dozenten an der Universität von Neukaledonien,
       bestätigt das: „Solange die Schule eine Institution zur Reproduktion der
       sozialen Verhältnisse ist, können sich die Kanak keine Gleichheit
       erhoffen.“ In Koné, der Hauptstadt der Nordprovinz, wo 2019 eine Dependance
       der Universität eröffnen werden soll, zeigt er uns die Überreste der Hütte
       aus Lehm und Blech, in der er mit seinen Brüdern aufgewachsen ist: kein
       Tisch, nur eine Laterne für alle. Bis in die 1990er Jahre gab es kein
       fließend Wasser, 1994 (zur Fußball-WM) kam der erste Fernseher. Heute
       besitzen sie alle ein Smartphone. „Wir vergessen es manchmal“, sagt er,
       „aber wir haben einen sehr langen Weg hinter uns.“
       
       „Die Wunden der Kolonialzeit heilen nicht innerhalb einer Generation“,
       erklärt Nicolas Kurtovitch, Schriftsteller und ehemaliger Direktor einer
       protestantischen Privatschule in Nouméa. „Die Stadt ist ethnisch immer mehr
       gemischt, die sozialen Veränderungen sind immens. Es geht aufwärts. In
       unserer Schule gab es 1989 nur einen kanakischen Lehrer, heute sind es 15
       von 50.“ Im Haut-Commissariat de la République, dem Sitz des Vertreters der
       Zentralregierung in Neukaledonien, ist man vorsichtiger. Von einer
       „integrierten Gesellschaft“ sei man noch weit entfernt. Der Rassismus
       bricht sich in den sozialen Netzen Bahn. Spannungen zwischen den
       Bevölkerungsgruppen können jederzeit wieder aufflammen – so etwa Anfang
       Oktober in Ouégoa im Norden von Grande Terre, als Caldoches eine Kundgebung
       der FLNKS verhinderten.
       
       „Das Erbe der Kolonialherrschaft hat sich mit einer problematischen
       sozialen Situation vermischt. Nicht die Hautfarbe macht den Unterschied,
       sondern die Kaufkraft“, meint Kurtovitch. „Vieles hat sich in den letzten
       30 Jahren verändert, aber das Geld ist immer noch da, wo es immer war“,
       bestätigt Roch Apikaoua, Priester kanakischer Abstammung und Generalvikar
       der Diözese Nouméa. „Unsere Essens- und Kleidungsgewohnheiten halten uns im
       System. Das kapitalistische System ist die Fortsetzung des Kolonialismus.“
       
       ## Die Nickelstrategie ging nicht auf
       
       Michel Levallois, Historiker, Experte für die Überseegebiete und lange
       Jahre im französischen Staatsdienst, sagte kurz vor seinem Tod: „Die
       Politik, die im Namen des ,gemeinsamen Schicksals' betrieben wurde, von dem
       im Abkommen von Nouméa die Rede ist, hat die Autonomie des Gebiets zwar
       gestärkt, es aber nicht auf die volle Souveränität vorbereitet. Das hat die
       Verhältnisse der Kolonialzeit zugunsten der nichtkanakischen Bevölkerung
       verfestigt.“ Tatsächlich hält die Südprovinz, wo drei Viertel der Menschen
       leben und die mehrheitlich weiß ist, die Zügel in der Hand – gestützt auf
       die Autonomieregelungen des Abkommens von Nouméa.
       
       10 Prozent der weltweiten Nickelproduktion und potenziell bis zu 30
       Prozent der weltweiten Reserven entfallen auf die Insel. Deshalb
       kalkulierte die FLNKS damit, lokale Fabriken aufzubauen (wie in Südkorea
       und China), um die Unabhängigkeit zu finanzieren. Doch die
       „Nickelstrategie“ ging nicht auf – zu sehr schwankten die Preise; im Zuge
       der Finanzkrise vor zehn Jahren brachen sie komplett ein. Bergbau und
       Metallurgie (die zwischen 5 und 10 Prozent des BIPs ausmachen und 14
       Prozent der Arbeitsplätze) haben zwar die Baubranche und öffentliche
       Aufträge gefördert und damit der gesamten Nordprovinz Auftrieb gegeben.
       Aber das Problem ist, dass es (mit Ausnahme der Produktion von
       Sandelholzöl) keine nachhaltige Exportindustrie mit hoher Wertschöpfung
       gibt und dass vor allem die Transportkosten nach Frankreich zu Buche
       schlagen (13 Prozent des BIPs).
       
       6.700 Beamte, hauptsächlich im Bildungswesen, bekommen ihr Gehalt vom
       französischen Staat. Laut dem Haut-Commissariat müsste das lokale
       Steueraufkommen nach der Unabhängigkeit auf das Doppelte steigen, um das
       Versorgungsniveau zu halten.
       
       Im Gegensatz zur Kleinkriminalität kommen die wichtigen Themen in den
       öffentlichen Debatten viel zu kurz: die Konzentration des Handels bei einer
       Handvoll Familien, die Oligopole, die die Gewinnmargen aufblähen, und die
       Verflechtung von Politik und Wirtschaft. Seit Kurzem existiert eine
       unabhängige Kartellbehörde, die für mehr Transparenz sorgen könnte. Es wird
       über Importquoten gesprochen, die Knappheit erzeugen und die Preise in die
       Höhe treiben, und über die großzügige Entlohnung der Staatsdiener (die
       französischen Gehälter werden in Nouméa mit 1,73 multipliziert und auf dem
       Land mit 1,94). Nicht zu vergessen die Ungerechtigkeit des Steuersystems,
       das keine Progression kennt und die Ärmsten übermäßig belastet. Bei der
       Staatsanwaltschaft in Nouméa wundert man sich, dass die Behörden zwar
       Steuerbetrug registrieren, aber nie einschlägige Ermittlungsakten auf ihren
       Schreibtischen landen.
       
       ## „Untertanen der französischen Republik“
       
       „Die Unabhängigkeit hat symbolisch, emotional und affektiv nicht mehr die
       gleiche Bedeutung. Die Weißen werden nicht gehen, die Kolonialfrage bleibt.
       Und eine weiße Unabhängigkeit würde nichts lösen“, meint der Ethnologe
       Benoît Trépied. Deshalb sind viele skeptisch: Was wäre der Gewinn der
       Unabhängigkeit? Und wie könnten die Kanak und ihr Territorium besser
       geschützt werden?
       
       Das Abkommen von Nouméa wollte diese Frage mit dem Konzept des „gemeinsamen
       Schicksals“ und der Einrichtung eines „Sénat coutumier“ lösen, eines
       beratenden Gremiums, das als Mittler zwischen Tradition und Institutionen
       fungieren sollte. Die FLNKS glaubte so die „Opfer der Geschichte“ –
       Nachfahren von Sträflingen und ethnischen Gruppen aus Asien und dem
       pazifischen Raum, die in der Kolonialzeit nach Neukaledonien verschleppt
       wurden – für die Mitwirkung an ihrem Unabhängigkeitsprojekt zu gewinnen.
       Ohne Erfolg. Rückenwind bekommt dafür heute die gemäßigt rechte
       Antiunabhängigkeitspartei Gemeinsames Kaledonien, die mit einer weißen
       Mehrheit für Multikulturalismus und ethnische Diversität eintritt.
       
       Das führt auch zu Frustration. „Wir werden nicht zu 100 Prozent anerkannt.
       Das Kanak-Volk müsste im Zentrum stehen, aber das tut es nicht. Ob es um
       Land geht oder Bergbau – die Kanak haben nichts davon. Und die Steuern
       hindern sie täglich daran, sich zu emanzipieren“, klagt Pierre Gope.
       
       Emmanuel Tjibaou, ein Sohn von Jean-Marie Tjibaou, Leiter der Behörde für
       die Entwicklung der kanakischen Kultur, erinnert daran, wie sehr die Gewalt
       gegen sein Volk und gegen seine Familie noch in den Köpfen präsent ist.
       Sein Großvater war zehn Jahre alt, als in Reaktion auf die Aufstände von
       1917 die Hütten niedergebrannt und die Menschen mit Maschinengewehren
       niedergemäht wurden. Sein Vater wiederum war zehn Jahre alt, als der
       „Eingeborenenkodex“ aufgehoben wurde, die Sammlung von Dekreten, die die
       Ureinwohner zu „Untertanen der französischen Republik“ erklärte und ihrer
       politischen Rechte und Freiheiten beraubte.
       
       „Wir sprechen ihre Sprache und passen uns an. Aber wie zeigt sich
       umgekehrt, dass sie unsere Kultur anerkennen?“, fragt Pierre Gope. Die
       Kinder lernen in der Schule nicht mehr ihre Muttersprache. In den
       Geschichtsbüchern kommen die „Ereignisse“ immer noch nicht vor. „Was sollen
       wir machen, wenn unsere Geschichte in den Büchern nicht erzählt wird?“
       
       ## Die Charta der Kanak wurde nicht anerkannt
       
       „Nur wenige Lehrkräfte machen sich Gedanken darüber, wie sie den Unterricht
       gestalten, die ein anderes Verhältnis zu Zeit und Raum und zu anderen
       Menschen haben“, erklärt Hamid Mokaddem, Philosoph und Dozent am Institut
       für Lehrerbildung. „Den Kanak ist es beispielsweise fremd, mit anderen zu
       konkurrieren, um Erfolg zu haben, sie sind es gewohnt zusammenzuarbeiten.
       Soll man sie deswegen zum Schulpsychologen schicken, wenn sie nicht
       mitkommen?“
       
       In Houaïlou an der Ostküste, wo die meisten Fahnen und Wimpel des
       unabhängigen Staates Kanaky von den Bäumen und Brücken hängen, ist der
       30-jährige Pascal Sawa Bürgermeister: „Die Kolonialzeit ist noch nicht
       vorbei! Frankreich hat immer noch das Sagen, und vom gemeinsamen Schicksal
       sind wir noch weit entfernt. Doch als Volk haben wir das Recht, uns selbst
       zu regieren. Unsere Errungenschaften sind immer das Ergebnis politischer
       Kämpfe gewesen.“
       
       Raphaël Mapou, von 1989 bis 1998 Sprecher von Palika, ist da anderer
       Meinung: „Die kanakische politische Klasse hat es nicht geschafft
       klarzumachen, inwiefern die Unabhängigkeit eine Sache der Kanak oder
       Ausdruck der kanakischen Identität ist.“ Mapou hat sich schon lange von der
       Idee verabschiedet, „dass man am Klassenkampf festhalten muss, um die
       Gesellschaft zu verändern und die Kolonialherrschaft zu überwinden“. Er
       setzt sich inzwischen für ein anderes Ziel ein: die Anerkennung der Kanak
       als indigenes oder autochthones Volk mit eigenen Rechten wie bei den Inuit
       in Kanada.
       
       Die Erklärung der UN-Vollversammlung über die Rechte indigener Völker von
       Jahr 2007 (die Frankreich unterstützt hat) spricht ihnen unter anderem das
       Recht auf Selbstbestimmung und auf ihre Bodenschätze zu, das Recht, vor
       Vertreibung sicher zu sein, und das Recht, frei über ihre wirtschaftliche
       und gesellschaftliche Entwicklung zu entscheiden.
       
       Raphaël Mapou, frischgebackener Doktor der Rechte und bis September 2018
       Sonderberater des Senats, hat mit Unterstützung französischer Juristen
       vergeblich versucht, diese Institution zu stärken. 2014 wurde nach
       Beratungen der Verantwortlichen der acht Stammesgebiete eine Charta des
       kanakischen Volks verabschiedet, die als Grundlage einer künftigen
       Verfassung dienen soll. Doch der Kongress hat das Dokument nicht anerkannt.
       Die politischen Parteien einschließlich der Befürworter der Unabhängigkeit
       wollten lieber eine Charta der „kaledonischen Werte“ haben. „Die politische
       Klasse denkt, sie könnte die Entkolonialisierung allein durch die Parteien
       und die republikanischen Institutionen erreichen. Das wird nicht
       funktionieren“, meint Mapou.
       
       Françoise Fara Caillard steht für einen indigenen Feminismus, sie fragt:
       „Wie kann man nationalistisch sein in einem Land, in dem man die Minderheit
       ist? Wir wollen als indigenes Volk anerkannt werden. Das ist unser
       Instrument des Widerstands.“ Lokale Gruppen protestieren gegen die Schäden
       durch den Bergbau, die Verwüstung der Landschaft und dagegen, dass nur ein
       geringer Teil des Gewinns bei den Menschen ankommt.
       
       Im Sommer 2018 brachte eine Gruppe in Kouaoua ein Projekt zu Fall, das eine
       „Tabustätte“ erschließen sollte, wo seltene Pflanzen und Gummibaumarten
       wachsen. Wir treffen die Mitglieder der Gruppe. Sie liegen im Clinch mit
       den gewählten Vertretern und den Stammesführern, die dem Projekt ihren
       Segen gegeben haben: „Wir müssen respektieren, was die Alten uns gesagt
       haben: Dieser Ort ist tabu, wir dürfen dort nicht hingehen.“ In der Stadt
       träumen die jungen Mitglieder der Gruppe Maintenant c’est nous (Jetzt sind
       wir an der Reihe) derweil von einer Gesellschaft, die „gerechter und
       solidarischer“ ist.
       
       Aus dem Französischen von Ursel Schäfer
       
       11 Nov 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Referendum-Unabhaengigkeit/!5545118
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jean-Michel Dumay
       
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