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       # taz.de -- Neue Filmreihe in Berlin: Thema mit großer Zukunft
       
       > Die Filmreihe „Landscapes Of Living“ im Kino des bi’bak erzählt von der
       > globalen Verstädterung in persönlich gehaltenen Einzelgeschichten.
       
   IMG Bild: Szene aus dem Film „Baronesa“
       
       Es ist keine allzu gewagte These, dass die Ressource Wohnraum in Zukunft
       ein noch größeres Thema als gegenwärtig sein wird. Die Urbanisierung
       schreitet voran, während aktuell 55 Prozent der Weltbevölkerung laut UN in
       Städten lebt, sollen es bis 2050 schon 68 Prozent sein. Derzeit zählt man
       548 Millionenstädte, für das Jahr 2030 soll diese Zahl auf 706 ansteigen.
       Es wird eng.
       
       Die Filmreihe „Landscapes Of Living“, die gestern gestartet ist und in den
       kommenden Wochen im Kino des bi’bak fortgesetzt wird, erzählt von diesen
       globalen Entwicklungen in persönlich gehaltenen Einzelgeschichten.
       
       Die von Florian Wüst kuratierte Dokumentarfilmreihe nimmt das Thema auf
       einer ganz basalen Ebene in den Blick: Was bedeutet zu Hause sein? Was
       passiert überhaupt im privaten und familiären Raum, was macht ihn aus? Wo
       verschwimmen Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Raum?
       
       In den Favelas von Belo Horizonte etwa ist diese Trennung fast gänzlich
       aufgehoben. „Baronesa“, der am 22. November gezeigt wird, handelt vom Leben
       in den dortigen Armenvierteln. Die Tatsache, dass die Favelas dort
       Frauennamen tragen, dürfte die junge brasilianischen Regisseurin Juliana
       Antunes in ihrem Debütfilm dazu bewogen haben, den Film aus rein weiblicher
       Perspektive zu erzählen.
       
       ## Strange Animals
       
       Es geht um die beiden Freundinnen Leidiane und Andreia, von denen letztere
       den Umzug von „Juliana“ nach „Baronesa“ plant. Um beide herum kämpfen die
       männlichen Banden untereinander und mit der Polizei, Leidianes Mann sitzt
       im Gefängnis. Die Frauen sind meist mit den Kindern zu sehen, die
       Rollenverteilung ist klar.
       
       Im Zentrum steht das Leben im Provisorium, im ungewissen Raum. In langen,
       statischen Kameraeinstellungen sieht man Andreia mit ihren Kindern im
       rohen, selbst errichteten Mauerwerk auf Behelfsbetten liegend. Leidiane und
       Andreia sind einfach da, leben in den Tag.
       
       Oft hängen sie in den Eingängen zu den Hütten herum, während die Kinder
       spielen und die -Jugendlichen in den engen Gassen tanzen. Gebadet wird in
       Plastikwannen. Beide Frauen trinken und nehmen Drogen, sprechen mit anderen
       Freundinnen über Sex und über Selbstbefriedigung, über ihre Erfahrungen mit
       Männern. Andreia schildert gegen Ende des Films, wie sie im Alter von 11
       vergewaltigt wurde. „Men are strange animals“, sagt sie. MeToo in der
       Favela.
       
       Es sind starke, drastische Aufnahmen, die einem diese Welt sehr nahe
       bringen. Nach der brasilianischen Präsidentschaftswahl erscheint „Baronesa“
       dringlicher denn je. Als die Protagonistinnen über die Perspektiven im
       Viertel sprechen, befürchtet Andrea: „The Favela will be full of police.“
       Nach der Wahl Jair Bolsonaros wirken diese Sätze umso bedrohlicher.
       
       In eine andere politische Konfliktzone führt einen die junge Wiener
       Regisseurin Kurdwin Ayub in ihrem großartigen Dokumentarfilm „Paradies!
       Paradies!“ Kurdwin Ayub stammt aus einer kurdischen Familie; sie erzählt
       den Film aus der Ich-Perspektive. Sie begleitet ihren Vater Omar Ayub, der
       einst nach Österreich flüchtete und heute dort als Arzt arbeitet, in die
       Autonome Region Kurdistan auf dem Gebiet des Irak. Omar will dort, in
       Erbil, eine Zweitwohnung kaufen. Er träumt davon, partiell in seiner
       ursprünglichen Heimat zu leben. Zu Zeiten des Drehs ist der IS im Irak noch
       stärker, Mossul ist noch nicht befreit.
       
       Kurdwin Ayub fängt ungefiltert ein, wie ihr Vater und sie selbst mit
       befreundeten Soldaten an die Front fahren, welche Faszination beide für den
       Kampf um die kurdischen Gebiete, für die Peschmerga entwickeln. Mit wie
       viel Humor dieser Film – zum Beispiel in Bezug auf Frauenrechte im Irak –
       erzählt wird, ist erstaunlich. Mal ist er eine wirksame Waffe, mal wirkt
       das Lachen auch wie eines am Rande des Wahnsinns.
       
       In „Landscapes Of Living“ geht es erst einmal darum, Lebensräume und
       -welten anderer Kulturen zu begreifen. In diesen beiden Beispielen gelingt
       das hervorragend.
       
       13 Nov 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
       ## TAGS
       
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