URI: 
       # taz.de -- 9. November in Chemnitz: Begehung einer Baustelle
       
       > Der erste 9. November in Chemnitz seit den Hetzjagden liefert ein
       > gemischtes Bild. Um die Deutungshoheit wird in der Stadt weiter gekämpft.
       
   IMG Bild: Da hatte Marx noch Gutes im Blick: #Wirsindmehr-Konzert im September 2018
       
       Chemnitz taz | Klar, wenn man nach Chemnitz kommt, dann geht man erst mal
       [1][zum Marx-Kopf]. Dem Wahrzeichen, das die Chemnitzer „Nischel“ nennen,
       geht es gerade so ähnlich wie seiner Stadt, er ist eine Baustelle.
       
       Eigentlich wollte die [2][rechtsradikale Bewegung Pro Chemnitz] sich hier
       am Wahrzeichen der Stadt versammeln. Der Stadt fiel dann kurzfristig ein,
       dass auf dem Vorplatz des Monuments dringend Bauarbeiten durchgeführt
       werden müssen. So mussten sich die Rechten am Abend zweihundert Meter
       links, die Gegendemonstranten zweihundert Meter rechts vom Monument
       versammeln, getrennt von Zäunen und einem massiven Polizeiaufgebot.
       
       Wer behält die Deutungshoheit über einen Tag, [3][der für sehr verschiedene
       politische Ereignisse steht], und dementsprechend begangen und
       instrumentralisiert werden kann? Diese Frage stellt sich immer am 9.
       November. Besonders stellte sie sich aber in diesem Jahr in Chemnitz, wo im
       August tausende Neonazis durch die Straßen rannten.
       
       Den Anfang machte am Mittag die jüdische Gemeinde. Sie hatte zum Gedenken
       an den ehemaligen Standort der Synagoge von Chemnitz eingeladen. Etwa 300
       bis 400 Personen waren gekommen, viele ältere ChemnitzerInnen und einige
       Schulklassen. Sie stehen mitten auf der abgesperrten Straßenkreuzung, vorne
       sitzen in Decken gehüllt einige Zeitzeugen und Überlebende. In den letzten
       Jahren seien deutlich weniger Menschen hier gewesen, sagen mehrere
       Zuschauer. Manche sagen, sie seien wegen der Ereignisse der letzten Monate
       gekommen.
       
       ## Kretschmer gegen Antisemitismus und Rassismus
       
       Die alte Synagoge der Stadt hier am Stephanplatz war am 9. November 1938 um
       19 Uhr von Nazis angezündet worden. 172 Menschen wurden ins
       Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Für die Aufräumarbeiten des
       nächsten Tages musste die jüdische Gemeinde die Stadt Chemnitz bezahlen,
       mit 35.000 Reichsmark. Kurze Zeit später musste sie das Grundstück an die
       Stadt verkaufen, für 500 Reichsmark. Heute ist der Stephanplatz eine
       unscheinbare Straßenkreuzung mit Mietskasernen.
       
       Zum Gedenken kommt neben der Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) auch
       der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer von CDU. Der hatte
       bestritten, dass es im August in Chemnitz [4][Hetzjagden gegeben habe], und
       dafür viel Kritik erfahren. Bei der Gedenkfeier trifft er aber den Ton:
       „Nach den Geschehnissen ist es ein Wunder, dass die jüdischen Bürger neues
       Vertrauen gefasst haben.“ Er spricht sich gegen Antisemitismus und
       Rassismus aus. Vielleicht spielt aber auch eine Rolle, dass Auspfeifen oder
       Buhrufe bei einer Gedenkfeier unangebracht gewesen wären.
       
       Ruth Röcher ist die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, die auch an einem
       Gedenktag wie heute herzlich und humorvoll bleibt. Sie freue sich über das
       Interesse so vieler junger Männer an ihrer Person, auch wenn das nur ein
       mal im Jahr so sei, sagt sie nach der Gedenkfeier den Journalisten. Dann
       erzählt sie, dass vorhin AfD-Vertreter auf sie zugekommen seien, um ihr ein
       Geschenk zu überreichen. Das habe sie abgelehnt. „Ich verstehe nicht, dass
       es einige Idioten gibt unter uns, die bei ihnen mitmachen.“
       
       ## Helles vs. dunkles Chemnitz
       
       Heute gibt es wieder ein lebendiges jüdisches Leben in Chemnitz. Bei der
       Wende lebten noch zwölf Jüdinnen und Juden in Chemnitz, die jüngste war 60
       Jahre alt. Nun sind es mindestens 600, die allermeisten kamen aus der
       zusammengebrochenen Sowjetunion. Später zieht eine Gedenkprozession mit
       Kerzen von der neuen Synagoge in die Innenstadt, viele junge
       ChemnitzerInnen mit Kindern haben sich angeschlossen, die Kinder freuen
       sich über einen zusätzlichen Laternenlauf. Hier zeigt sich wie am Mittag
       bei der Gedenkfeier ein engagiertes, helles Chemnitz. Doch in den
       Abendstunden wird es nicht nur dunkel, sondern auch wieder düster.
       
       Am Nachmittag hatten in der Innenstadt noch diverse Veranstaltungen
       stattgefunden: Die Jusos luden zum Putzen von Stolpersteinen ein, auf einer
       Bühne spielt das Chemnitzer Theater, ein paar hundert Menschen haben sich
       versammelt. Auch André Löscher ist mit seinen Kindern zur Kundgebung
       gekommen. Man sieht ihm an, dass er über die niedrigen Teilnehmerzahlen
       enttäuscht ist. Löscher arbeitet bei der Beratungsstelle für Opfer rechter
       Gewalt. Er erzählt, dass die Gewalt gegen politisch Andersdenkende, gegen
       Migranten und Nicht-Weiße in der Stadt stark zugenommen hat seit August: Im
       ganzen Jahr 2017 habe es insgesamt 20 Fälle gegeben, jetzt 47 in etwa zwei
       Monaten.
       
       Am Abend beginnt dann in Rufweite die Veranstaltung von Pro Chemnitz.
       Auffällig ist, wie freimütig offensichtliche Neonazis mit Skinhead-Tattoos
       neben unauffälligen Chemnitzer Bürgern mit Rücksäcken und farbigen
       Outdoorjacken stehen. Wenn man aber letztere fragt, will keiner einen Nazi
       gesehen haben. Und die Presse lügt ja sowieso.
       
       ## Das „tausendjährige Reich“ beschworen
       
       Die Strategie des bürgerlichen Anstrichs jedenfalls funktioniert: Die
       Polizei spricht von 1.200 Demonstranten. Viele sind aus kleineren
       sächsischen Städten angereist, erkennbar an ihren Transparenten. Die
       Gegendemonstration wird zu diesem Zeitpunkt kleiner, viele Familien und
       ältere Chemnitzer gehen nach Hause, es bleibt ein wackerer Kern von wenigen
       hundert Menschen, viele im Antifa-Dresscode, manche von ihnen sind extra
       aus Leipzig angereist.
       
       Auffällig ist, wie oft sich die Redebeiträge bei Pro Chemnitz um den 9.
       November drehen. Doch während die Reichspogromnacht ausgeklammert wird,
       sehen sich mehrere Redner kurz vor einer Revolution und in der Tradition
       von 1989: „Das System ist am Ende, wir sind die Wende“, rufen die
       Rechtsradikalen, „Merkel muss weg“ und „Wir sind das Volk“. Sie beschwören
       einen Widerstandsmythos: „Überall in Deutschland sind die Menschen wütend
       auf die Politiker. Aber nur wir hier kriegen unseren Arsch auf die Straße“,
       ruft einer. Doch während damals eine Mauer fallen sollte, schreien sie
       heute nach der Festung Europa und fordern, die deutschen Grenzen dicht zu
       machen.
       
       Hier wird das tausendjährige Reich beschworen. Dort beschwert sich ein
       Redner über Beschränkungen beim Waffenbesitz und klagt, der Kaiser hätte
       sich damals kein „wehrloses Volk“ gewünscht. Ursprünglich wollte Pro
       Chemnitz zur Mahnwache für Daniel H. laufen, dessen gewaltsamer Tod der
       Anlass für die rechten Hetzjagden war. Die Familie des Verstorbenen hatte
       sich jedoch gewünscht, dass das nicht passiert.
       
       Während die Demonstration durch die Straßen läuft, wird der Reporter der
       taz mehrfach beschimpft und bedroht. Die Polizei stoppt den Aufzug an einer
       Straßenkreuzung, die Rechtsradikalen wollen weiterlaufen. Nach kleineren
       verbalen Auseinandersetzungen löst Pro Chemnitz die Veranstaltung auf. Die
       Leipziger Antifaschisten und auch die zugereisten Journalisten verlassen
       die Stadt am späten Abend wieder. Die Chemnitzer und der Karl-Marx-Kopf,
       sie bleiben mit ihrer Baustelle allein.
       
       10 Nov 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ausschreitungen-in-Chemnitz/!5532079
   DIR [2] /Rechte-Aufmaersche-in-Chemnitz/!5532759
   DIR [3] /9-November-in-der-deutschen-Geschichte/!5544947
   DIR [4] /Saechsische-Regierungserklaerung/!5533729
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kersten Augustin
       
       ## TAGS
       
   DIR Novemberpogrome
   DIR Chemnitz
   DIR Pro Chemnitz
   DIR Prozess
   DIR Michael Kretschmer
   DIR Schwerpunkt AfD
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Chemnitz
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Verfahren wegen Tötung von Daniel H.: Chemnitz-Prozess in Dresden geplant
       
       Der Tod von Daniel H. sorgte im Sommer für Schlagzeilen. Bald soll der
       Prozess starten. Über einen Antrag auf Verlegung wurde noch nicht
       entschieden.
       
   DIR Linksbündnis in Sachsen: Keine Chance von Links
       
       Auch manche Linke sind froh, dass ein Linksbündnis die CDU nicht ablösen
       können wird. Doch Schwarz-Rot bekommt wohl keine Mehrheit mehr.
       
   DIR DDR-Bürgerrechtler über Rechte: „Das hat einen völkischen Ton“
       
       „Wir sind das Volk'“, postuliert die AfD. Ex-Bürgerrechtler Martin Böttger
       findet das „unsäglich“ und spricht von einem Missbrauch des „Wir“.
       
   DIR Leipziger Autoritarismus-Studie: Rassismus auch in der Mitte
       
       Rechtsextreme Einstellungen bleiben in Deutschland auf hohem Niveau. Jeder
       dritte Deutsche stimmt laut einer Studie rassistischen Aussagen zu.
       
   DIR FDP-Chef Christian Lindner zu Besuch: Chemnitz mal anders
       
       Christian Lindner kommt nach Chemnitz zum Dialog. Der FDP-Chef thematisiert
       die Sorgen der Mitte, die besorgten Bürger bleiben weg.