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       # taz.de -- Interview zum Streit Italien/EU: „Armut destabilisiert Italien“
       
       > Rom beharrt darauf, mehr Geld auszugeben als von der EU-Kommission
       > erwünscht. Die Ökonomin Antonella Stirati sieht ihr Land im Recht.
       
   IMG Bild: Mailand: Blick auf die Skyline des Stadtteils Porta Nuova mit dem Unicredit-Turm
       
       taz: Frau Stirati, Italiens Regierung will 2019 ein Defizit von 2,4
       Prozent. Es [1][gibt Zoff mit der EU-Kommission], einige Medien fürchten
       den Untergang der Eurozone. Ist der Alarm gerechtfertigt?
       
       Antonella Stirati: Ich halte die Panik für völlig ungerechtfertigt. Das
       Defizit ist bescheiden und soll vor allem eine schon vor Jahren anvisierte
       Mehrwertsteuererhöhung neutralisieren; jede andere italienische Regierung
       hätte so gehandelt. Zusätzliche Ausgaben halten sich in Grenzen. Außerdem
       erzielt Italien weiterhin einen Primärüberschuss – der Staat nimmt mehr
       ein, als er ausgibt, wenn wir von den Zinszahlungen absehen. Ich kann
       absolut nicht erkennen, dass dieser Haushalt übertrieben expansiv wäre.
       Diverse andere Länder wie Frankreich und Spanien, die in den letzten Jahren
       stärker wuchsen als Italien, leisteten sich Defizite von bis zu 6 Prozent.
       
       Die Regierung aus Fünf Sternen und Lega sagt, sie habe das expansive
       Haushaltsgesetz aufgelegt, weil [2][dies der einzige Weg zu mehr Wachstum
       sei]. 
       
       Italien befindet sich im Prinzip noch in einer Rezession. Gewiss, in den
       letzten Jahren hat es ein wenig Wachstum gegeben. Aber BIP und
       Beschäftigung liegen immer noch leicht unter den Werten von 2007, die
       Industrieproduktion ist sogar um ein Viertel geringer. In einem solchen
       Kontext führt Austeritätspolitik nicht nur zu einer schlechteren
       ökonomischen Situation, sondern auch zu einem höheren Stand der
       Staatsschulden gegenüber dem BIP. Das haben wir in Griechenland gesehen.
       Staatsausgaben zusammenstreichen ist keine Lösung, um Staatsschulden zu
       senken. Wenn man dagegen auf expansive Haushaltspolitik setzt und damit die
       Wirtschaft in Gang bringt, kann der Schuldenstand im Verhältnis zum BIP
       sinken. Mal ganz abgesehen von den positiven Effekten für die Bevölkerung:
       mehr Beschäftigung, bessere staatliche Leistungen.
       
       Die Anhänger der Sparpolitik sagen, der Schuldenberg müsse abgebaut werden.
       Sonst lebe Italien über seine Verhältnisse lebt. Sie behaupten, dass das
       nicht stimmt. 
       
       Schauen wir einmal auf Deutschland, Frankreich und Italien. Seit den frühen
       90er Jahren sind Italiens gesamte Staatsausgaben – Sozialleistungen,
       Gehälter des öffentlichen Dienstes, Investitionen, Zinszahlungen – kaum
       gestiegen. Sie lagen 1991 bei 12.500 Euro pro Kopf und liegen heute bei
       13.000 Euro. In Deutschland dagegen schnellten sie von 11.800 auf 15.000
       Euro pro Kopf hoch, in Frankreich von 12.600 auf 18.000 Euro. Von
       exzessiven Staatsausgaben kann in Italien wirklich nicht die Rede sein.
       
       Und der hohe Schuldenberg? 
       
       Der wurde in den 80er Jahren angehäuft, als hohe Realzinsen auf die
       öffentlichen Schulden gezahlt wurden. Der Schuldenberg schoss binnen eines
       Jahrzehnts von 60 auf 120 Prozent der Wirtschaftsleistung nach oben. Bis
       2007 sank er auf 100 Prozent, nach der Krise ab 2008 stieg er wider an.
       Bezeichnend ist, dass er in den beiden Jahren der härtesten Sparpolitik,
       2011–2013, von 120 auf 130 Prozent des BIP hoch schnellte. Ebenso wie die
       Jugendarbeitslosenquote – die Europäische Kommission sollte auch das im
       Auge haben. Wir zählen heute fünf Millionen absolut Arme im Land, das ist
       ein Risiko für die soziale und politische Stabilität Italiens. Das wiederum
       kann ein Risiko für die Stabilität der Eurozone mit sich bringen. Mit ein
       bisschen Weitsicht würden die europäischen Institutionen Italien sofort
       eine Haushaltspolitik zugestehen, die das Wachstum stärken kann.
       
       Die Regierung will vor allem die Sozialausgaben erhöhen, die in den Konsum
       fließen. Viele Kritiker merken an, so werde das Wachstum nicht gestärkt. 
       
       Ich stehe dieser Regierung nicht nah, ich nehme bloß eine ökonomische
       Bewertung vor. Es stimmt: Investitionsausgaben haben einen größeren
       Wachstumseffekte. Aber auch Sozialausgaben können Wachstum auslösen. Hinzu
       kommt: Bei Investitionen haben wir es von der Verabschiedung bis zur
       Realisierung mit weit längeren Fristen zu tun. Was die Regierung jetzt
       vorhat – frühere Verrentung eines Teils der Arbeitnehmer, dazu die
       Einführung einer allgemeinen Grundsicherung – kann durchaus starke
       Wachstumseffekte haben. Es kann Jobs für junge Arbeitnehmer bringen, die an
       die Stelle der Alten treten, Millionen Arme werden weit mehr ausgeben. Das
       geht in den Konsum. Die Industrien, die die Güter liefern, werden bei
       steigender Nachfrage investieren. Wie das funktioniert, konnten wir in den
       letzten Jahren in Portugal sehen. Dort wurden zum Beispiel die Gehälter im
       öffentlichen Dienst erhöht, dann stieg die private Nachfrage und in der
       Folge auch die privaten Investitionen.
       
       Die Kritiker einer expansiven Politik halten dagegen. Ihnen zufolge hilft
       es nicht, mehr auszugeben. Wachsen werde Italien erst, wenn es dafür sorgt,
       dass die Produktivität wieder kräftig steigt. 
       
       Aber die Entwicklung der Produktivität ist doch nicht von der Entwicklung
       der Produktion zu trennen! Das gilt gerade in der Industrie, einem für
       Italien zentralen Sektor. Mehr Produktion heißt mehr Investitionen, die
       wiederum die Fertigung modernisieren und so produktiver gestalten. Es
       stimmt, dass in Italien in den letzten Jahren und Jahrzehnten die
       Produktivität nicht gestiegen ist. Aber vor allem, weil wegen der
       restriktiven Politik die Binnennachfrage nur sehr bescheiden anstieg. Die
       Folge: weniger Investitionen, weniger Produktivitätszuwachs. Natürlich gibt
       es weitere Baustellen, zum Beispiel die öffentlichen Investitionen in
       Bildung und Forschung. Die sind sind wegen der Sparpolitik seit 2007 um 20
       Prozent gekürzt worden.
       
       Welche Effekte kann der harte Konflikt zwischen der italienischen Regierung
       und der EU-Kommission nach sich ziehen? 
       
       Es mag sein, dass die Wachstumsschätzung der Regierung von 1,5 Prozent für
       2019 übertrieben optimistisch ist. Aber auch beim von der Kommission
       erwarteten Wachstum von 1,2 Prozent hätten wir eigentlich keine
       dramatischen Konsequenzen zu befürchten.
       
       Dennoch herrscht Alarmstimmung. 
       
       Und das ist der wirklich gefährliche Tatbestand. Die wichtigen Akteure an
       den Finanzmärkten sind meines Erachtens gar nicht durch den
       Haushaltsentwurf selbst beunruhigt, sondern durch den Konflikt, den er
       ausgelöst hat. Da waren auch die Erklärungen einiger Vertreter der
       europäischen Institutionen wirklich gravierend und gefährlich, weil sie die
       Finanzmärkte destabilisieren können. Daraus ergeben sich dann Konsequenzen
       für die italienischen Banken, Konsequenzen auch für die Höhe der
       Zinszahlungen, die Italien für seine Staatsschulden entrichten muss.
       
       Im aktuellen Konflikt scheint die italienische Regierung auf Eskalation zu
       setzen. Anders als Portugals Regierung, die ebenfalls die Staatsausgabe
       erhöhte, sich Kritik von der EU-Kommission einhandelte, aber nie frontal
       Streit gesucht hat. 
       
       Die italienische Regierung wäre in der Tat gut beraten, ihren Weg zu gehen,
       ohne zu viel Krach zu schlagen. Leise Töne wären geratener – das gilt aber
       für beide Konfliktparteien.
       
       13 Nov 2018
       
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       ## AUTOREN
       
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