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       # taz.de -- Mafia-Prozess in Konstanz: Nichts sagen, alles zeigen
       
       > In Konstanz findet einer der größten Mafia-Prozesse in Deutschland statt:
       > neun Angeklagte samt ungleichen Strategien der Öffentlichkeitsarbeit.
       
   IMG Bild: In Handschellen zum Gerichtssaal: Einer der neun Angeklagten auf dem Weg zur Aussage
       
       Konstanz taz | Eigentlich würde dieses verlassene Industriegelände selbst
       einen passenden Schauplatz für einen Mafiafilm abgeben. Der Parkplatz
       unterhalb einer Verkehrsbrücke wirkt verwildert. Der Weg zum Gerichtssaal
       führt vorbei an Wohncontainern, aus deren Fenstern Kinder von Geflüchteten
       schauen und an jedem Prozesstag die seltsamen Männer und wenigen Frauen mit
       ihren schwarzen Roben unterm Arm an sich vorbeiziehen lassen. Nach der
       polizeibewachten Sicherheitsschleuse und ein paar Treppenstufen steht man
       in einem blau gefliesten Vorraum, der aussieht, als hätte gerade jemand
       einen Swimmingpool abgelassen.
       
       In diesem bizarren Setting der ehemaligen Kantine eines längst
       geschlossenen Siemenswerks wird seit Wochen einer der aufwändigsten
       deutschen Mafiaprozesse der letzten Jahre verhandelt. Neun mutmaßliche
       Mitglieder von Camorra und ’Ndrangheta sollen von Schwarzwaldstädten wie
       Donaueschingen und Rottweil aus Drogen- und Waffenhandel organisiert haben.
       54 Tatvorwürfe sind es insgesamt, darunter auch versuchter Mord und der
       mutmaßliche Plan, ein Juweliergeschäft in Mailand zu überfallen. Die
       Ermittlungen der deutschen zusammen mit italienischen Behörden gelten als
       Coup. In der italienischen Presse kann man davon lesen, dass es dank der
       Ermittlungen nun möglich sei, eine „Landkarte des organisierten
       Drogenhandels“ zwischen beiden Ländern zu zeichnen.
       
       Einen solchen Großprozess, der bis weit in den Sommer 2019 dauern soll, hat
       man am Bodensee nicht alle Tage. 17 Anwälte müssen neben den Angeklagten im
       Gerichtssaal untergebracht werden, dazu zwei Dolmetscher.
       
       ## Nicolo M. – in Opferrolle
       
       Weil es im Konstanzer Landgericht für ein solches Verfahren schlicht an
       Raum fehlt, wurde nach langer Suche schließlich die ehemalige
       Siemens-Kantine im Stadtteil Petershausen umgebaut. Das hat gedauert. Damit
       Fristen eingehalten werden können, fanden die ersten beiden
       Verhandlungstage Anfang Oktober in Karlsruhe statt. Dort ging es mit
       längeren Diskussionen über den Gesundheitszustand des Angeklagten Nicolo M.
       los.
       
       Der Besitzer einer Kneipe und von Modeläden in Donaueschingen, der außerdem
       Spielautomaten gewartet hat, ist nach Auskunft seines Anwalts alkoholkrank
       und seit seiner Haft auf Entzug. Die Anklage wirft ihm vor, seine
       Kleiderlieferungen aus Italien seien nur Tarnung für den Transport von
       Drogen gewesen. Außerdem soll er fünf Schüsse auf das Fenster einer
       Gaststätte in Donaueschingen abgegeben haben, weil sich der Besitzer
       geweigert hatte, Spielautomaten von M. aufzustellen.
       
       Vor Gericht ist Nicolo M. eher auf die Opferrolle abonniert. Immer wieder
       beantragen seine Anwälte Pausen, seine Familie möchte ihm gerne eine Stange
       Zigaretten zustecken, das wird ihnen verweigert. Dann gibt er wieder
       Kopfschmerzen zu Protokoll und fügt etwas theatralisch hinzu: „Macht ruhig
       ohne mich weiter.“ Da dankt ihm der durchaus ironiebegabte Vorsitzende
       Richter Arno Hornstein für „diesen kreativen Ansatz“, bestimmt dann aber
       gemäß der Prozessordnung eine Pause für alle.
       
       ## Aussagen trotz Verfahrensverschleppung
       
       Die ersten Prozesstage in Konstanz sind geprägt von diesen ständigen
       Unterbrechungen. Die Verteidigung verlangt etwa, italienische Akten ins
       Verfahren einzuführen. Bis sie übersetzt sind, sei der Prozess auszusetzen.
       Oder die Anwälte versuchen mit allen Mitteln zu verhindern, dass der
       Chefermittler als einer der ersten Zeugen vernommen wird, was in
       Strafverfahren absolut üblich ist. Die Begründung: Seine Aussage habe
       vorverurteilenden Charakter. Immer wieder muss sich das Gericht deshalb zur
       Beratung zurückziehen. Das hemmt den Verhandlungsfluss.
       
       Und genau das ist wohl der Zweck. Ungezählte Eilanträge und Rügen der
       Verteidigung später kommt es dann – am siebten Prozesstag – doch zur
       Aussage des Chefermittlers. Da die Angeklagten wie in der Schule vor der
       Richterbank sitzen und die Zeugen an einem Tisch im Mittelgang Platz
       nehmen, sehen Anwälte und Angeklagte nicht das Gesicht und die Gesten.
       
       Auf Antrag der Anwälte müssen deswegen die Aussagen aller Zeugen auf eine
       Leinwand übertragen werden, sodass diese sich während ihrer Aussage immer
       in einschüchternder Übergröße beim Sprechen zuzusehen gezwungen sind.
       
       Der Chefermittler Thomas F. lässt sich von der Liveübertragung nicht
       irritieren. Er berichtet davon, wie seine Leute auf die Spur des
       Drogenrings im Schwarzwald gekommen sind. Bereits 2015 wird einer der
       Angeklagten wegen Autoschiebereien überwacht. Dabei stoßen die Ermittler
       auf Kokaingeschäfte. Weitere Kuriere kommen ins Visier der Fahnder, die
       Spur führt zu Placido Anello und Nicolo M.
       
       Die Verbindung nach Italien wird spätestens dann klar, als italienische
       Behörden im Juni 2016 Massimo B. im Hafen von Palermo mit einer illegalen
       Smith & Wesson festnehmen. B. ist ein Geschäftspartner von Placido Anello,
       dem Wirt des Stadion-Restaurants in Rottweil. Sie sind als gemeinsame
       Geschäftsführer der I Cugini GmbH im Unternehmensregister eingetragen. Von
       da an arbeiten die italienische Finanzpolizei und die Kripo Rottweil
       zusammen.
       
       Die Telefonüberwachung fördert Hinweise auf Rauschgiftlieferungen zutage,
       die über Modeboutiquen und die gastronomischen Aktivitäten von Nicolo M.
       abgewickelt worden sein sollen. Die Codeworte für Hasch und Kokain sollen
       „Rucola“ oder „Wein“ gewesen sein. Die Staatsanwaltschaft ist stolz auf die
       enge Zusammenarbeit mit den italienischen Beamten.
       
       ## Bargeld in Millionenhöhe
       
       Das ist auch der Teil der Polizeiarbeit, für den sich die Verteidigung am
       meisten interessiert. Offenbar hofft sie auf formale Fehler bei der
       Einführung von Beweisen aus italienischen Ermittlungen. Immer wieder fragen
       sie danach, ob Zeugen bei den gemeinsamen Verhören der deutschen und
       italienischen Behörden angemessen über ihre Rechte belehrt worden sind. Es
       ist die Suche nach Möglichkeiten für ein Revisionsverfahren.
       
       Die Geschäfte der beiden Männer und ihrer Helfer liefen offenbar prächtig,
       bis im Juni 2017 im Schwarzwald und in Sizilien jeweils die polizeilichen
       Sondereinheiten ausrücken. In Donaueschingen sprengt die Polizei die
       Eingangstür zur Villa von Nicolo M. auf.
       
       Hier und in 29 anderen Wohnungen, Büros und Gaststätten stellt die Polizei
       5 Pistolen, 50 Gramm Kokain und 10 Kilogramm Marihuana sicher. In Italien
       wird Bargeld in Millionenhöhe aus Matratzen und Bodenverstecken in den
       Villen der heute Angeklagten gezogen. Luxuswagen werden sichergestellt. Ein
       schwer erklärliches Vermögen für Gastronomen und Boutiquenbesitzer.
       
       ## Nichts sehen, nichts hören, nicht reden
       
       Placido Anello hat, anders als Nicolo M., ein offenbar unverwüstliches
       Gemüt. Der hochgewachsene Mann mit kahlem Schädel und energischem Kinn ist
       einer der drei Hauptbeschuldigten. Jeden Prozesstag tritt er in wechselnder
       modischer Sportkleidung auf, winkt lächelnd mit großer Geste ins Publikum,
       lässt sich geduldig seine Fußfesseln abnehmen. Seinen Namen könne man in
       den Berichten ruhig ausschreiben, lässt er die Journalisten über seinen
       Anwalt mitteilen, er sei ein „unbescholtener Pizzabäcker“. Der Prozess
       werde das zutage bringen. Zum Beweis seiner Unschuld will Anello allerdings
       selbst nichts beitragen.
       
       Eine Aussage seines Mandanten wäre die ganz falsche Strategie, sagt der
       Stuttgarter Strafverteidiger Martin Stirnweiss und gibt dafür eine
       verwirrende Begründung. Schließlich könne das Gericht alles, was Anello zu
       sagen hat, „auch belastend interpretieren“.
       
       Aussagefreudiger sind, wie es scheint, drei Angeklagte, die rechts von der
       Richterbank platziert sind. Den jungen Männern, die dort sitzen, weist die
       Anklage nur eine Helferrolle zu. Im Fall einer Verurteilung liefe es bei
       ihnen wohl auf Bewährung hinaus oder ihre Strafe wäre mit der
       Untersuchungshaft bereits verbüßt. Einer von Ihnen, Nicolo G., sagt am 11.
       Prozesstag aus. Nicolo G. sagt, er habe 30 Kilogramm Haschisch für seinen
       Cousin Rosario J., der auch hier angeklagt ist, gelagert.
       
       Bröckelt mit dieser Aussage des zweiten Nicolo im Verfahren das
       Schweigekartell? Anellos Anwalt Stirnweiss hatte jedenfalls am ersten
       Prozesstag mit einem sizilianischen Sprichwort unverhohlen auf die
       „Omerta“, das Schweigegelübde der Mafia verwiesen: „Wer nichts sieht,
       nichts hört und nicht redet, wird in Ruhe hundert Jahre alt“, antwortete
       der Strafverteidiger auf die Frage des Gerichts, ob sein Mandant aussagen
       will.
       
       Man wird das durchaus auch als Warnung verstehen dürfen.
       
       22 Nov 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Stieber
       
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