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       # taz.de -- Die Wahrheit: Die fleißigen Wilmersdorfer Witwen
       
       > Im Untergrund der Hauptstadt gibt es seit Jahren minimale Veränderungen.
       > Unauffällig machen sich dort betagte Helferinnen zu schaffen.
       
   IMG Bild: Überquellende Wertstofftonne, Berlin 2019
       
       Berlin ist in letzter Zeit so hektisch geworden. Da muss man doch was gegen
       tun! Nehmen wir den U-Bahnhof Bismarckstraße. Er liegt im Bezirk
       Charlottenburg-Wilmersdorf, tief im Westen der Hauptstadt. Hier verkehren
       zwei Linien. Täglich hetzen tausende Menschen durch die Gänge. Im Jahr 2006
       wurde die Station neu gestaltet oder damit angefangen. Ist man selten dort,
       könnte man meinen, die Bauarbeiten wären längst eingestellt.
       
       Regelmäßigen Besuchern fällt auf, dass alle drei bis vier Tage eine neue
       Fliese an der Wand klebt. Manchmal sind es sogar zwei. Dies erweckt den
       Eindruck, als würde eine des Töpferns mächtige Seniorin in Eigeninitiative
       nach und nach den Wandschmuck formen, im heimischen Herd festigen, des
       nachts mit dem Einkaufstrolley herbeikarren und ihn mit Hilfe einer nicht
       minder betagten Nachbarin anbringen.
       
       Die ist ohnehin am Ort, weil sie sich für die Bahnhofsnamensschilder
       verantwortlich fühlt. Mittlerweile prangen diese immerhin in jeder zweiten
       dafür vorgesehenen Aussparung. Auch die Anzahl der Fliesen hat zuletzt
       erheblich zugenommen. Der Berliner und erst recht die Berlinerin wissen nur
       zu gut, worauf es hierzulande ankommt. Sie fragen schon lange nicht mehr,
       was die Stadt für sie tun kann. Da passiert sowieso nix, sie tun einfach
       ungefragt etwas für die Stadt.
       
       Selbstverständlich muss das unauffällig erfolgen. Nicht nur das Baukartell,
       auch die Stadtvermarkter beäugen jede Reparatur mit großem Misstrauen.
       Berlin lebt eben davon, dass hier alles rumpelt und pumpelt. Das sorgt für
       die legendäre schlechte Laune der Einheimischen, die sich möglichst auf die
       Touristen abfärben soll, damit die ja nicht zu sorgsam mit der
       vorgefundenen Substanz umgehen. Über Jahrhunderte hinweg war Berlin bekannt
       dafür, niemals fertig zu werden, und das ist auch gut so! Lasst New York
       die Stadt sein, die niemals schläft! Berlin hingegen ist ein Ort, an dem es
       sich kaum lohnt, aufzustehen, weil sowieso nichts so recht funktioniert.
       
       Wer es aber doch mal aus den Federn schafft oder von seniler Bettflucht
       geplagt wird, will das Unangenehme oft mit dem Nützlichen verbinden. Wer
       nämlich wirklich in Berlin lebt, hat Interesse daran, dass es trotz allen
       Gerumpels und Gepumpels weiterläuft wie geschmiert. Wie eben die
       mutmaßlichen Witwen von der Wilmersdorfer Straße. Ihnen, wie vielen anderen
       an diese Stadt Gefesselten geht es darum, alles, was sie aus dem Takt
       bringt, intakt zu setzen, doch stets dafür zu sorgen, dass es höchstens
       ihresgleichen auffällt. Niemand will Wohnquartiere, die so wirken, als
       wären Münchner Vorortstraßen irrtümlich nach Berlin versetzt worden.
       
       Deshalb pflegen wir Berliner auch unsere rauen Umgangsformen und scheinen
       uns selbst dann im Ton zu vergreifen, wenn wir eigentlich gerade
       Liebeserklärungen auf den Lippen führen. Man muss eben genau hinhören. Und
       hinschauen. Man erkennt uns an den Ölflecken auf der Jacke und Zementresten
       im Haar.
       
       27 Nov 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thilo Bock
       
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