URI: 
       # taz.de -- Albanien als sicheres Herkunftsland: Eine von 962
       
       > Fllanxa Murra hat keine Beine. Sie floh nach Deutschland, als ihre Eltern
       > von ihrer Homosexualität erfuhren. Nun gilt Albanien als sicheres
       > Herkunftsland.
       
   IMG Bild: Fllanxa Murra will Schwimmerin werden
       
       Es ist ein Novembermorgen, an dem die Sonne noch wärmt, als würde der
       Winter nie kommen. Es ist einer der besseren Tage von Fllanxa Murra. Sie
       lächelt, ein bisschen nervös ist sie auch. Heute wird sie ihre Geschichte
       erzählen.
       
       Sie sitzt an dem mit Schokokeksen und Kaffee gedeckten Tisch in der
       Kleiderkammer in Taucha. Der kleine Laden ist für sie ein Rückzugsort
       inmitten der tristen Vorstadt, nur wenige Minuten von Leipzig entfernt.
       Fllanxa Murra verständigt sich mit den Menschen im Raum, mit Mimik und
       Gestik mehr als mit einer gemeinsamen Sprache. Es sind Ehrenamtliche und
       Geflüchtete, die hier zusammenkommen. Unter ihnen bewegt sie sich
       selbstbewusst, manövriert ihren Rollstuhl durch den engen, mit Büchern und
       Kleiderspenden gefüllten Raum.
       
       Es gibt auch schlechte Tage. Tage, an denen sie allein in ihrer Wohnung
       sitzt, nur ein paar hundert Meter von der Kleiderkammer entfernt, und
       wartet. Auf neue Briefe von der Asylbehörde. Auf jemanden, der kommt und
       sie abholt. Die sechs Steinstufen vor ihrer Wohnung kommt sie zwar allein
       hinunter. Doch dann sitzt sie da, auf der untersten Stufe, und wartet, bis
       ihr jemand den Rollstuhl hinterherträgt.
       
       Schon lange hat sie keine guten Nachrichten mehr bekommen. Der letzte
       Brief, den sie Anfang November erhielt, kündigte ihre Abschiebung an.
       Datiert ist der Brief auf den 26.10.2018. Einen Monat hat sie Zeit,
       freiwillig auszureisen. Sie könne nicht mehr auf eine weitere Duldung ihres
       Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland vertrauen, heißt es in dem
       Behördenschreiben. Doch das Vertrauen hat sie schon vor langer Zeit
       verloren.
       
       ## ***
       
       2014 kam ein Filmteam zu Fllanxa Murra nach Hause. Der Film, der auf
       YouTube zu sehen ist, zeigt ein Leben in Armut. In einem kleinen Dorf nahe
       der Kleinstadt Burrel, etwa zwei Autostunden von der albanischen Hauptstadt
       Tirana entfernt, lebte sie gemeinsam mit ihren Eltern und sieben
       Geschwistern in einer weißen Steinhütte nahe bei einem Fluss. Als
       sogenannte BalkanägypterInnen gehört ihre Familie zu einer Albanisch
       sprechenden Teilgruppe der südosteuropäischen Roma.
       
       Inmitten dieser Armut lebte Fllanxa Murra. Ihr Körper ist gezeichnet von
       einem Unfall. Als sie neun Jahre alt war, trat sie beim Hüten von Ziegen
       auf eine Landmine und verlor beide Beine sowie drei Finger der linken Hand.
       
       Wenn Fllanxa Murra heute von den Erlebnissen spricht, runzeln sich kleine
       Falten auf ihrer Stirn. Ihre großen braunen Augen schauen nach unten, als
       wollten sie den mitleidigen Blicken ausweichen. Mit den beiden Fingern, die
       ihr an der linken Hand geblieben sind, zwirbelt sie ihr blond gefärbtes
       Haar. Sie spricht flüssig, aber leise.
       
       Die Familie habe sie sehr unterstützt – vor allem ihre Mutter. „Sie hat
       hart gekämpft, damit ich ein gutes Leben habe“, sagt sie. Bis zu dem Tag,
       an dem die Mutter Nachrichten auf Fllanxa Murras Handy las und herausfand,
       dass ihre Tochter lesbisch ist. Fllanxa Murra hatte sich in die
       Journalistin verliebt, die den Fernsehbeitrag über ihr Leben gedreht hatte:
       „Meine Familie ist ausgerastet.“
       
       ## „Ich war zu müde zum Leben“
       
       Ihr Verhältnis zu ihrer Mutter zerbrach binnen Sekunden. „Du Lesbe“, rief
       ihre Familie, du Behinderte!“ Fllanxa Murra erzählt, wie sie in ihrem
       Zimmer eingesperrt worden sei und ihr das Handy abgenommen wurde. Jeglichen
       Kontakt zur Außenwelt habe die Familie ihr verwehrt, an manchen Tagen habe
       sie nicht einmal Essen gebracht bekommen.
       
       Nach einer Woche habe ihre Freundin sie zu Hause aufgesucht, weil sie sich
       Sorgen machte. Fllanxa Murras Vater habe sie verprügelt. Und die Freundin
       sei gegangen.
       
       Fllanxa Murra konnte nicht gehen. Ihre Prothesen waren schon zu alt, zu
       kaputt, um damit noch richtig laufen zu können. „Das war der Moment, in dem
       ich beschlossen habe, mich umzubringen“, erzählt sie. Zu dem Zeitpunkt war
       sie 25. Sie habe eine Überdosis der Tabletten genommen, die die Schmerzen
       der Gliedmaßen erträglich machen sollten, und gewartet. „Ich war zu müde
       zum Leben“, sagt sie heute.
       
       Ihre Familie fand sie rechtzeitig und brachte sie in ein Krankenhaus in
       Tirana. Zwei Monate wurde sie dort wegen der Überdosis und ihrer
       psychischen Leiden behandelt, bis sie für einige Tage zu der einzigen
       Schwester ging, die aus dem Dorf nach Tirana gezogen war. In deren Wohnung
       lernte sie Dritan H. kennen – den Mann, der ihr Hoffnung auf ein besseres
       Leben gab. „Er hat versprochen, mir zu helfen.“
       
       ## ***
       
       In einer der folgenden Nächte schafft sie es mit der Hilfe von Dritan H.,
       aus ihrem Dorf zu fliehen. Mit einem Kleinbus fahren sie am 2. Oktober 2016
       über 20 Stunden lang, passieren fünf Landesgrenzen, ohne gestoppt zu
       werden. „Es waren viele Leute, die nach Deutschland wollten“, erinnert sie
       sich. 300 Euro pro Person haben sie für die Fahrt im Kleinbus von Tirana
       ins sächsische Riesa gezahlt. Sie werden direkt zur örtlichen Polizei
       gebracht, wo sie die erste Nacht verbringen, bevor sie nach Leipzig weiter
       verteilt werden. „Wie in einem Taxi“, sagt sie, als sei ihre Flucht eine
       Fahrt zum Supermarkt.
       
       ## ***
       
       Die Geschichte der Flucht von Fllanxa Murra könnte hier zu Ende sein. Heute
       sitzt sie in dem engen, mit Bücherregalen gefüllten Eingangsraum der
       Kleiderkammer in Taucha. Mit aufgewecktem, aber sichtlich erschöpftem Blick
       schaut sie auf ihre rechte Hand, an der sie ein schwarzes geflochtenes
       Armband trägt. Auf einem dezenten weißen Stein ist ein kleines F
       eingraviert. Fllanxa Murra ist müde. Und dennoch will sie ihre Geschichte
       öffentlich machen. „Ich hoffe, dass mir dann noch geholfen wird.“
       
       Was hier aufgeschrieben ist, basiert auf Gesprächen mit ihrem Umfeld, auf
       ärztlichen Stellungnahmen und Behördendokumenten, die sie fein säuberlich
       in einem Ordner sammelt. Und auf dem, was sie selbst erzählt. Nicht alles
       können wir überprüfen. Aber was Fllanxa Murra erzählt, wirkt glaubwürdig.
       
       ## ***
       
       Es ist der 18. Oktober 2016, als Fllanxa Murra und Dritan H. einen
       Asylantrag stellen. Zwischenzeitlich wurden sie in eine Unterkunft für
       Asylsuchende nach Leipzig gebracht. Dritan H. ist der Einzige, dem sie
       vertraut. Ohne ihn hat sie keine Möglichkeit, sich zu artikulieren, denn
       sie spricht kein Deutsch. Sie kann sich ohne ihn nicht außerhalb der
       Unterkunft bewegen, denn sie hat anfangs keinen Rollstuhl und keine
       funktionierenden Prothesen. Dritan H. wird zu einem Freund, in dessen Hände
       sie ihr Leben legt.
       
       Am 21. Oktober 2016 haben die beiden ihre erste Anhörung beim Bundesamt für
       Migration und Flüchtlinge, dem BAMF. Siebzehn Tage später erhalten sie den
       ersten Ablehnungsbescheid. Fllanxa Murra sagt, sie habe zu diesem Zeitpunkt
       nicht gewusst, dass sich Dritan H. vor den Asylbehörden als ihr Ehemann
       ausgibt. Dritan H. habe sich von der Tarnung bessere Chancen erhofft – da
       Fllanxa Murra eine Behinderung hat. „Er wollte von mir profitieren“,
       erzählt sie.
       
       ***
       
       Es ist eine klirrend kalte Nacht im November 2016. In Nächten wie dieser
       ist Dritan H. fast immer mit seinen Freunden unterwegs. Er beginnt, das
       gemeinsame Geld für Drogen auszugeben. „Angefangen bei Alkohol, später auch
       Marihuana und Kokain“, sagt Fllanxa Murra. Aus den ärztlichen Dokumenten
       geht hervor: Am 18. 11. 2016 wird Fllanxa Murra vom medizinischen
       Stützpunkt ihrer Unterkunft in das Leipziger Klinikum St. Georg geschickt.
       Dritan H. kommt als ihr Übersetzer mit. In keinem Moment ist sie mit
       medizinischem Personal allein. Die Diagnose im Krankenhaus:
       Unterbauchschmerzen. Sie bekommt Schmerzmittel und wird entlassen. Was die
       Ärzte nicht wissen: „Ich wurde von Dritan H. vergewaltigt“, sagt Fllanxa
       Murra.
       
       „Ich hatte Angst, zu schreien, weil es mir peinlich war.“ Während Fllanxa
       Murra im Krankenhaus auf Hilfe durch das medizinische Personal hoffte, habe
       Dritan H. sie verhöhnt. Dass sie sicher Schmerzen habe, weil er so stark
       und männlich gewesen sei. Dass er sie „hart genommen“ habe. Dass sie sicher
       schwanger sei. Die Vergewaltigung sei ihr erster Geschlechtsverkehr mit
       einem Mann gewesen, erzählt Fllanxa Murra.
       
       In den folgenden Wochen habe sich die Situation immer weiter verschlimmert.
       Dritan H. habe sie beleidigt und mit einer Waffe bedroht. Ohne ihn sei sie
       verloren, habe er ihr fast täglich gesagt. Und sie habe ihm das geglaubt.
       In ihrem Rollstuhl habe er sie auf die Straße gebracht, um sie zum Betteln
       zu zwingen und in den Supermarkt zum Stehlen. Dann habe er sie in einen
       Park geschoben, wo ein Mann auf sie gewartet habe, den sie oral befriedigen
       sollte. Erst als sie sich erbrochen habe, durfte sie aufhören. Dritan H.
       habe sie geschlagen und eines Tages einen Mann in das gemeinsame Zimmer
       gebracht, der Fllanxa Murra erneut vergewaltigt habe.
       
       ## „Im Rahmen der Flüchtlingswelle ist viel passiert“
       
       Es ist ein Zufall, der Fllanxa Murra im Januar 2017 von Dritan H. befreit.
       Immer wieder habe er Streit mit anderen Bewohnern der Asylunterkunft
       gehabt, auch wegen der Drogen, sagt sie. Als ein Mann aus Montenegro bei
       Dritan H. eine Schusswaffe entdeckt, wird dieser festgenommen – und kurze
       Zeit darauf abgeschoben. Für die taz war er bis Redaktionsschluss nicht zu
       erreichen.
       
       Heute erzählt Fllanxa Murra, dass sie sich zu dieser Zeit mehrfach bemüht
       habe, Hilfe zu holen. „Ich habe versucht, mit den Sozialarbeitern im Camp
       zu sprechen, habe versucht, ein eigenes Zimmer zu bekommen“, sagt sie. Doch
       es sei abgelehnt worden. Die Leitung der Unterkunft für Asylsuchende gibt
       der taz zu den Vorwürfen Murras, in der Unterkunft vergewaltigt worden zu
       sein und keine Hilfe bekommen zu haben, keine Auskunft. „Im Rahmen der
       Flüchtlingswelle ist viel passiert“, sagt der Leiter der Einrichtung. In
       der Tat berichten Medien in dieser Zeit regelmäßig über Missbrauch in
       Asylunterkünften.
       
       Ein Dolmetscher wird ihr nicht gestellt – es ist immer Dritan H., der für
       sie übersetzt. Erst kurz vor dessen Abschiebung habe sie mit einer
       Sozialarbeiterin sprechen können, die ihr von der angeblichen Ehe erzählt.
       Sie stellt einen neuen Antrag auf Asyl.
       
       Im Herbst 2017 erfährt sie vom Queer Refugees Network in Leipzig. Erstmals
       seit ihrer Ankunft ein Jahr zuvor trifft sie auf UnterstützerInnen, die
       bereit sind, sich ihre Geschichte anzuhören.
       
       ## ***
       
       Eine davon ist Sabrina Latz. Sie ist Mitarbeiterin des Queer Refugees
       Network, einer Leipziger Unterstützungsorganisation für queere Geflüchtete.
       Latz begleitet Fllanxa Murra seit über einem Jahr. Selten zeige die, wenn
       es ihr wirklich schlecht geht. „Ich nehme sie als sehr kämpferisch wahr“,
       sagt Latz. „Was ihr passiert ist, zeigt, dass die Strukturen in Deutschland
       bei besonders schutzbedürftigen Personen versagen.“ Latz ist wütend
       darüber, dass nicht früher eine Dolmetscherin hinzugezogen wurde. Dass
       Dritan H. geglaubt wurde. Dass Fllanxa Murra nicht barrierefrei
       untergebracht wurde. Dass sie nicht ein einziges Mal selbst gefragt wurde,
       was eigentlich passiert sei.
       
       Als sie das erste Mal in die Beratung kam, sei sie in sehr schlechter
       Verfassung gewesen. Deshalb habe man sich entschieden, sie kurzfristig in
       einem Frauenhaus in Leipzig unterzubringen – mit besserer Anbindung an
       medizinische und psychologische Betreuung. Am 3. Juli 2018 weist die
       Asylbehörde Fllanxa Murra endlich eine eigene Wohnung zu. Allein kann sie
       die Wohnung wegen der sechs Eingangsstufen allerdings nicht verlassen. Und
       dennoch hat Fllanxa Murra seit zwei Jahren zum ersten Mal einen Ort, an den
       sie sich zurückziehen, den sie gestalten kann. Hier hat sie ein selbst
       gebasteltes Kuscheltier zur Dekoration aufgestellt. Ein Fantasietier:
       kugelrund, grün, mit aufgeklebten Augen und einer Krone. Am Wohnzimmertisch
       trägt sie fein säuberlich ihre Termine in einen Kalender: Physiotherapie,
       Helios Klinik, Deutschkurs.
       
       Nur einen Tag nach ihrem Einzug in die neue Wohnung kommt der Brief:
       Fllanxa Murras Antrag auf Asyl wird als „offensichtlich unbegründet
       abgelehnt“. Es bestehe keine „begründete Furcht vor Verfolgung“, keine
       „Gefahr eines ernsthaften Schadens“. Weder gebe es Anhaltspunkte, dass Roma
       in Albanien einer staatlichen Verfolgung ausgesetzt wären, noch drohe der
       Antragstellerin eine Verfolgung aufgrund ihrer homosexuellen Orientierung.
       Der Bescheid verweist auf staatliche Reformen. Eine Verfolgung durch den
       nach Albanien abgeschobenen Dritan H., der laut Fllanxa Murra auch nach
       seiner Ausreise noch mehrfach gedroht habe, sei „nicht mit beachtlicher
       Wahrscheinlichkeit“ anzunehmen.
       
       Und weiter: Es sei „nicht zu erwarten, dass ihre Eltern bei ihrer Rückkehr
       anderweitige Handlungen vornehmen, welche die notwendige Intensität einer
       Verfolgungshandlung aufweisen“. Begründung: Die Eltern hätten die
       Antragstellerin „nur eingeschlossen […], um sie nach Auffassung der Eltern
       zu schützen“.
       
       Auf Anfrage der taz teilt das BAMF mit, dass „immer die individuell
       vorgetragene Fluchtgeschichte“ bewertet werde. Auf konkrete Nachfragen zum
       Fall geht das Amt nicht ein.
       
       ## ***
       
       Tatsächlich ist der Bescheid juristisch korrekt. „Das Problem bei den
       sicheren Herkunftsstaaten ist, dass die Nachweispflicht viel höher ist“,
       sagt Fllanxa Murras Anwalt Franz Schinkel. Seit Albanien diesen Status
       erhalten habe, werde bei AlbanerInnen grundsätzlich vermutet, dass diese
       nicht verfolgt werden. „Wir haben es ganz schwer, das Gegenteil zu
       beweisen“, sagt Schinkel.
       
       „An Fällen wie diesem merken wir, dass bei diesen Ländern faktisch keine
       Einzelfallprüfung stattfindet“, sagt auch Sabrina Latz.
       
       Tatsächlich wird kaum einE AlbanerIn in Deutschland als Flüchtling
       anerkannt. Der Asylgeschäftsbericht des Bundesamts zeigt: Von insgesamt 962
       Entscheidungen zwischen Januar und Oktober 2018 erhielt keine Person den
       Status als Asylberechtigte, vier Personen wurden als Flüchtling anerkannt
       und weiteren vier Personen wurde subsidiärer Schutz gewährt. Für fünf
       Personen wurde ein Abschiebeverbot festgestellt. Die übrigen Anträge wurden
       abgelehnt. Damit liegt die Anerkennungsquote inklusive Abschiebeverbote bei
       1,35 Prozent.
       
       Weil die Anerkennungsquote schon seit Jahren niedrig ist, wollte die
       Bundesregierung 2015 Albanien, Montenegro und das Kosovo als sichere
       Herkunftsstaaten deklarieren. Begründung: Wenn sowieso kaum jemand
       anerkannt wird, könnte man das Verfahren auch beschleunigen. Dafür brauchte
       sie die Zustimmung des von SPD und Grünen dominierten Bundesrats. Nachdem
       der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann mit
       seiner Stimme schon geholfen hatte, dass Mazedonien, Serbien und
       Bosnien-Herzegowina als sicher deklariert wurden, löste die Debatte dieses
       Mal einen Richtungsstreit innerhalb der Partei aus. Die Landeschefs
       veröffentlichten ein Papier, in dem sie sich gegen eine Ausweitung der
       sicheren Herkunftsländer stellten.
       
       Also gab es einen Deal: Die Bundesregierung machte Zugeständnisse bei der
       Asylrechtseinschränkung, die Grünen willigten ein. Im Oktober 2015 wurden
       Albanien, Montenegro und das Kosovo mit Zustimmung von sieben grünen
       Landeschefs als weitere sichere Herkunftsstaaten definiert.
       
       Erst im September 2018 sagte Außenminister Heiko Maas bei einem Besuch in
       Tirana, die albanischen Reformleistungen der letzten Jahre bewiesen „eine
       beeindruckende politische Kraftanstrengung“. Organisationen wie Amnesty
       International oder der Zentralrat der Sinti und Roma prangern die
       gesellschaftliche Diskriminierung von Minderheiten, die patriarchale
       Familienstruktur und die Korruption in Albanien an.
       
       „Alle Länder im westlichen Balkan haben Strategien zur Integration der Roma
       erlassen, ohne dass diese umgesetzt werden“, heißt es in einem Statement
       des Zentralrats der Sinti und Roma von 2017. In Bezug auf sexuelle Freiheit
       sieht es kaum anders aus: 1995 wurde Homosexualität im Strafgesetz als
       Haftgrund gestrichen. Gesellschaftlich ist Homophobie noch immer stark
       verbreitet. Als 2012 die erste Gay-Pride-Parade Albaniens in Tirana
       stattfinden sollte, drohte der damalige stellvertretende
       Verteidigungsminister, die TeilnehmerInnen verprügeln zu lassen.
       
       ## ***
       
       Drei starke Schmerzmittel muss Fllanxa Murra derzeit einnehmen, gegen die
       Nervenschmerzen infolge der Amputationen. Eines davon istMetamizol, in der
       höchsten Dosierung, die man verabreichen kann. Eine Ärztin hat bei Fllanxa
       Murra den „dringenden Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung“
       diagnostiziert. Die Stellungnahme liegt auch dem Asylantrag bei. Die Ärztin
       empfiehlt eine psychotherapeutische Behandlung.
       
       Da das BAMF in Murras Fall die Diskriminierung als Romni und als
       Homosexuelle nicht als Asylgrund anerkennt, bleibt ihr nur die Möglichkeit,
       aus medizinischen Gründen ein Abschiebeverbot zu erwirken. Doch die
       Stellungnahme der Ärztin reicht dafür nicht aus. Dafür müsste das Bundesamt
       ein Gutachten bestellen.
       
       Das BAMF geht jedoch davon aus, dass die medizinische Betreuung auch in
       Albanien erfolgen kann. Die Ausländerbehörde prüft zusätzlich, ob durch die
       Abschiebung eine „besondere Gefahr für Leib oder Leben“ entsteht –
       beispielsweise Suizidgefahr, wie Murras Rechtsanwalt Schinkel erklärt.
       
       Schinkel klagt gegen den Asylbescheid und versucht gleichzeitig, die
       Abschiebung hinauszögern. Sonst könnte Fllanxa Murra trotz der Klage
       abgeschoben werden. „Wenn ich zurück nach Albanien muss, bin ich verloren“,
       sagt sie. Von ihrer Familie könne sie keine Hilfe mehr erwarten. Und selbst
       wenn sie die jährliche Invalidenrente von 100.000 Lek, umgerechnet etwa 800
       Euro, die sie vom Staat bis zu ihrer Ausreise bekommen hat, noch einmal
       bekäme, würde diese nicht zum Leben reichen. Sogar der niedrige Mindestlohn
       liegt in Albanien bei 252.000 Lek. „Man kann Frau Murra nicht einfach auf
       dem Flughafen absetzen“, sagt Schinkel.
       
       ## ***
       
       Bis zum 28. November hat Fllanxa Murra noch Zeit, freiwillig auszureisen.
       Wenn sich die rechtliche Lage bis zu dem Termin nicht verändert hat, kann
       sie abgeschoben werden. Und was passiert dann? „Dann bringe ich mich um.“
       Die Antwort kommt zu schnell, als das sie nicht wohlüberlegt sein könnte.
       
       Ihre Unterstützer aus Taucha haben Unterschriften für einen Härtefallantrag
       gesammelt. Sie ist fest in den kleinen Ort integriert, nimmt an Grillfesten
       und Kirchenkonzerten teil, kommt regelmäßig zur Kleiderkammer – wie heute.
       Dann sitzt sie mit den anderen am Tisch, trinkt Kaffee, plaudert, so gut es
       geht, lernt Deutsch.
       
       Zwei ehrenamtliche Helfer helfen Fllanxa Murra, zu ihren Terminen zu
       kommen. Lothar Trinks, ein ehemaliger Friedhofsgärtner aus Taucha, hilft
       ihr aus dem Rollstuhl in sein Auto, um sie in die nur wenige Hundert Meter
       entfernte Wohnung zu fahren. Dort trägt er den Rollstuhl die Treppen hoch –
       während Fllanxa Murra sich Stufe für Stufe zu ihrer Eingangstür hochstützt.
       Die beiden sind ein eingespieltes Team.
       
       Heute ist Donnerstag, einer der Tage, die ihr Hoffnung geben. Dienstags und
       donnerstags geht sie zum Deutschkurs. Auf dem schwarzen Wohnzimmertisch in
       ihrer Wohnung liegen Lernzettel, Sprachlernbücher und Dokumente. Sätze wie
       „Mein Kopf tut weh“, schreibt sie auf die losen Blätter.
       
       Fllanxa Murra, die wenige Monate vor ihrem 30. Geburtstag steht, hat Pläne.
       „Ich will eine Ausbildung machen, damit ich genauso wie alle anderen leben
       kann“, sagt sie. Leise, als sei es zu peinlich, einen solchen Gedanken mit
       ihrer Behinderung überhaupt zu denken, sagt sie: „Ich würde gerne
       Schwimmerin werden.“ Die letzten Worte will sie ohne Hilfe der
       Dolmetscherin sagen: „Glücklich sein.“
       
       30 Nov 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sarah Ulrich
       
       ## TAGS
       
   DIR Albanien
   DIR Homosexualität
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Schwerpunkt LGBTQIA
   DIR Homosexuelle
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Albanien
   DIR Queerfeminismus
   DIR Migration
   DIR Andreas Geisel
   DIR Asyl
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Abgelehnte schwule Asylbewerber: „Das ist reine Homophobie“
       
       Behörden aus Bremen und Oldenburg weisen die Asylanträge dreier
       homosexueller Geflüchteter aus Ägypten und Pakistan ab.
       
   DIR Abschiebung nach Albanien: Zurück unter Wellblech
       
       Als Kind verlor Fllanxa Murra ihre Beine, als Erwachsene floh sie nach
       Deutschland – und wurde abgeschoben. Ist Albanien für eine lesbische Romni
       sicher?
       
   DIR Abschiebung nach Albanien: Schutzlos ausgeliefert
       
       Am Donnerstagmorgen wurde die Albanerin Fllanxa Murra abgeschoben. Das
       Vorgehen der Behörden und der Polizei wird scharf kritisiert.
       
   DIR Missy Magazine's Videoformat für Funk: Queerfeminismus für alle
       
       Der Jugendsender Funk hat nun ein queerfeministisches Format: „Softie“
       erklärt komplexe Begriffe für Jugendliche bei Instagram und Facebook.
       
   DIR Ausstellung von Migrantinnen in Berlin: „Eine privilegierte Migrantin“
       
       Das Kollektiv „Migrantas“ zeigt Zeichnungen und Piktogramme, die
       Lebensgeschichten erzählen. Sie spiegeln die Fragen der Zeit
       
   DIR Aufenthalt statt Abschiebung: Geisel wechselt die Spur
       
       Eine albanische Familie sollte abgeschoben werden, obwohl sie gut
       integriert ist. Doch dann hat der Innensenator ein Einsehen.
       
   DIR Regierung weitet Asyl-Liste aus: Mehr „sichere Herkunftsstaaten“
       
       Geflüchtete aus einigen Ländern sollen leichter abgeschoben werden können.
       Einen entsprechenden Entwurf verabschiedete das Kabinett.