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       # taz.de -- Chinesische Hausmannskost: Lissabons Gourmet-Geheimnis
       
       > Viel wird geschrieben über die Küche Lissabons. Unser Autor hat noch
       > unbekannte Nischen erkundet: illegale chinesische Restaurants.
       
   IMG Bild: Illegales chinesisches Restaurant im Zentrum von Lissabon
       
       Am nördlichen Ende vom Praça Martim Moniz, einem Platz, dessen bessere
       Zeiten schon ein bisschen zurückliegen, fängt Lissabons Chinatown an. Es
       ist die niedlichere und vor allem verlegenere Variante von New Yorks oder
       Londons chinesischen Vierteln, in denen sich Besucher und Bewohner nicht
       mehr sicher sein können, noch in Manhattan beziehungsweise in England zu
       sein. Lissabons Chinatown umfasst lediglich einige Gässchen, in die sich
       kaum jemand verirrt, wäre man nicht auf der Suche nach dem
       Gourmet-Geheimnis der Stadt. So wie ich.
       
       Meine portugiesische Freundin Ana hatte zum chinesischen Mittagessen
       eingeladen – und da Chinas Küche nicht zu meinen Favoriten zählt, mich mit
       zwei magisch anmutenden Worten geködert: „Chinês clandestino“. Illegale
       Chinesen? Und das mitten in Lissabon? Das wollte ich mir keinesfalls
       entgehen lassen.
       
       Den Unterschied zum restlichen Lissabon machen in Chinatown ein paar
       chinesische Ramschläden, indisch-nepalesische Minimärkte und
       Halal-Kebabbuden. Auch sticht das eine oder andere als solches ersichtliche
       asiatische Restaurant oder Café heraus. Ana und ich aber suchen nach dem
       Verbotenen. Wir schlendern durch die engen Gassen, an deren Hauswänden sich
       der Müll stapelt, und suchen die Gegensprechanlagen nach chinesischen
       Schriftzeichen ab, denn rot blinkende Neonschilder oder andere Reklamen
       haben diese Restaurants in der Regel nicht. Schließlich sind sie „illegal“,
       wenngleich die halbe Stadt darüber Bescheid weiß.
       
       Ein Geheimnis Lissabons können diese nicht angemeldeten Familienbetriebe
       also nicht sein. „Ganz im Gegenteil“, sagt Ana. „Sie sind sogar sehr
       beliebt, sowohl bei den Lisboetas als auch bei den vielen ausländischen
       Erasmus-Studenten, denn sie servieren in ihren Privatwohnungen chinesische
       Hausmannskost. Monsterportionen zu Spottpreisen.“
       
       ## Der Geruch weist den Weg
       
       Ich vernehme Wortfetzen: Arabisch, Urdu, Französisch, Russisch,
       afrikanische Bantusprachen. Bilder von Untergrundrestaurants, illegalem
       Glücksspiel, chinesischer Mafia und Kakerlaken im Essen schwirren in
       meinem Kopf umher. Als wir endlich die gesuchten chinesischen
       Schriftzeichen an einer Türklingel entdecken, betreten wir eine Wohnung,
       die nun als Friseursalon dient. Fehlanzeige!
       
       Bei der nächsten chinesischen Türklingel finden wir ein Internetcafé vor.
       Wieder nichts! Chinesisch müssten wir verstehen. Beim dritten Versuch
       verrät der Geruch beim Öffnen der Haustür: Hier sind wir richtig. Das
       Treppenhaus ist zugeschmiert mit Parolen, Hinweisen und Zeichen, darunter
       auch chinesische. Eine alte Portugiesin schleppt gerade ihre
       Einkaufstaschen die enge Holztreppe empor.
       
       Ana und ich trotten in den zweiten Stock hinauf, wo eine Wohnungstür einen
       Spaltbreit offen steht. Daraus qualmt eine Rauchwolke, die einen so üblen
       Geruch verbreitet, dass wir zögern einzutreten, ehe sich die Tür komplett
       öffnet und ein Chinese mit einladender Geste hervortritt. „Food?“, frage
       ich. Kopfschütteln, gekoppelt mit chinesischen Worten. „Comer?“, probiert
       es Ana auf Portugiesisch, aber zurück kommen Laute, die so klingen, als
       würde ein besoffener Russe versuchen, mit vollem Mund auf Spanisch zu
       antworten. Aber egal, wer hier was in welcher Sprache sagt, allen
       Beteiligten ist ohnehin klar, warum wir im Eingang dieser Wohnung stehen
       und was wir wollen. Und dennoch scheitern wir.
       
       Gleich neben dem Eingang erspähe ich ein paar dampfende Schüsseln mit
       Körperteilen von undefinierbaren Lebewesen. Die braunen Klumpen sehen nach
       Füßen und Köpfen aus, aber ob sie von Schwein, Hund oder Esel stammen, kann
       ich nicht eruieren. Und es stinkt bestialisch. „Bei chinesischen Speisen
       gelten vorrangig zwei Regeln“, sagt Ana, die einige Zeit in Schanghai
       gelebt hat. „Du darfst kein strikter Vegetarier und keinesfalls
       geruchsempfindlich sein. Denn chinesisches Essen kann nach allem riechen,
       nach Dingen, die du dir nicht einmal vorstellen möchtest.“
       
       ## Kleiner Nervenkitzel
       
       Der Chinese kritzelt eine Sieben auf eine Serviette, und nach mehrmaligem
       Fingerdeuten darauf verstehen auch wir schließlich, dass das Restaurant
       geschlossen ist und erst am Abend für Gäste öffnet. Unzufrieden
       verabschieden wir uns.
       
       Wir versuchen es einige Häuser weiter bei einer anderen Adresse. Auch
       dieses Treppenhaus ist dunkel und heruntergekommen, Farbe blättert von den
       Wänden. Es wirkt wie der Hintereingang eines verbotenen Clubs, der den
       Nervenkitzel auslöst, etwas Illegales zu tun. Treppenhäuser von
       Drogendealern, Veranstaltern von Donkey-Shows und heimlichen Spielhöllen
       sehen ähnlich aus. Ana klingelt. Die Tür öffnet sich, und eine chinesische
       Frau steckt ihren Kopf heraus. Klimperndes Geschirr und brutzelnde Pfannen
       verraten, dass im Hintergrund zumindest jemand kocht.
       
       „Wie viele?“, fragt sie forsch, als fordere sie ein Losungswort. „Zwei“,
       antwortet Ana. Stumm knallt die Chinesin die Tür zu. Ana blickt mich
       verblüfft an. Wir warten eine Zeit lang, vergeblich. „Falsches
       Losungswort“, sage ich, und wir streunen wie begossene Hunde weiter, um den
       Nachmittag am Praça Martim Moniz mit Tee und Sonne zu überbrücken. Ein paar
       Tauben picken Maronischalen und andere Krümel aus den Rillen der
       Kopfsteinpflaster. Wenigstens sie bekommen ein Mittagessen.
       
       Mit einem Loch im Magen stehen wir um Punkt sieben Uhr erneut vor der
       Sprachbarriere. Die Fleischklumpen neben dem Eingang haben sich keinen
       Millimeter bewegt und stinken noch grausamer als zu Mittag. Mit Händen und
       Füßen erklärt uns der Besitzer seine acht Schätze und stillt damit meine
       Neugier: frittierte Entenzungen, im Wok gebratene Hühnerherzen,
       Rinderpansen, Schweinsklauen, Hühnerfüße, Entenköpfe und so weiter.
       
       ## Chinesischer Fusel
       
       Er bittet uns, an einem der Tische Platz zu nehmen. Der Raum hat den Charme
       einer Leichenhalle und ist ähnlich spärlich besetzt mit Menschen. Bis auf
       die Laute eines einzelnen Chinesen, der in einer Ecke an seinem überlangen
       Fingernagel zuzelt, herrscht Totenstille.
       
       Ernsthafte Sorgen um die Küche machen wir uns erst, als wir den Zustand der
       Wohnung sehen: dunkle Wasserflecken an der Decke, von Spinnweben verhängte
       Risse an mehrfach übermalten Wänden, denen noch die Farbspuren der letzten
       drei Anstriche anzusehen sind, und eine dicke Staubschicht, die am
       Deckenventilator klebt. Eine rote Uhr in Form einer Erdbeere hängt über
       einem Tisch mit chinesischem Fusel. Der Sekundenzeiger zuckt im Takt,
       bewegt sich aber nicht weiter.
       
       Mit einem Lächeln reicht der Chinese Stift und Papier. Und die Speisekarte,
       die auf Chinesisch und miserablem Portugiesisch geschrieben ist. Dafür ist
       sie voll gespickt mit Gerichten: Fleisch, Meeresfrüchte, Fisch, Suppen,
       Reis und Nudeln. Auch die Exoten neben dem Eingang sind darauf zu finden.
       Wir bestellen: B19, C7, A23, A12 und eine Schüssel weißen Reis. In der
       Zwischenzeit verschwinde ich auf die Toilette und finde dort Zahnbürsten,
       Duschgels und Haarshampoos der Bewohner. „Wie daheim“, denke ich mir und
       kehre zurück an den Tisch.
       
       Immer wieder klingelt es an der Tür, und weitere Chinesen kommen in das
       Zimmer. Während der Koch mit einem Beil die Pekingenten in Scheiben hackt
       und dabei einen Höllenlärm erzeugt, kaufen die Kunden kiloweise Entenköpfe
       und Hühnerklauen. Die Szenen erinnern an die Straßenküchen von Taipeh,
       Schanghai oder Hongkong. „Ein Stück Heimat in der Ferne“, meint Ana.
       
       ## Wie beim Chinesen um die Ecke
       
       Der Chinese serviert die Speisen, ohne die Reihenfolge zu beachten. Zuerst
       kommen die Shrimps mit Knoblauch, dann das Maronihuhn. Danach folgen die
       fetttriefenden Frühlingsrollen sowie Tofu mit Gemüse. Erst zum Schluss
       bringt er den Reis. Ana versucht, ihr Maronihuhn zu definieren. Es sieht
       nach Fleisch aus, aber in der eingedickten, klebrigen braunen Sauce würde
       ohnehin alles knusprig Frittierte gleich schmecken, egal ob Ratte oder
       Brokkoli. Wir vertrauen dem Besitzer, dass es Huhn ist.
       
       Vier unterschiedliche Speisen, ein Geschmack. Die dunkle Sauce übertönt
       tatsächlich jedes andere Aroma und hinterlässt eine aggressiv-würzige Note
       im Mund. Ich fühle mich in meinem voreingenommenen Urteil bestätigt: Leider
       wie beim Chinesen ums Eck.
       
       Als wir das Restaurant verlassen, entdeckt Ana einen offenen Spalt in der
       Nachbartür und riskiert einen Blick hinein. Auch hier ist die Einrichtung
       bescheiden: neun Plastiktische mit je vier Plastikhockern,
       Plastiktischtücher mit bunten Eulen darauf, Plastikblumen, die sich,
       aufgefädelt an einer grünen Plastikgirlande, entlang der Wände winden, an
       denen fettig-klebrige Poster hängen. Darauf abgebildet: die ausgeblichenen
       Wahrzeichen von New York, London und Paris.
       
       Aus einer Ecke winkt die goldene Glückskatze unaufhaltsam mit ihrer linken
       Pfote. Einige der neun Tische sind besetzt. Erasmus-Studenten und Chinesen,
       die rauchen, egal was. Dazwischen läuft ein Mädchen umher, sie trägt eine
       rosarote Schleife im Haar. „Lust auf eine zweite Runde?“, fragt Ana
       beherzt. „Lust auf eine erste gute Runde“, antworte ich genervt, und wenig
       später sitzen wir erneut beim Chinesen.
       
       Diesmal hat er auch einen Namen: Dang. Er ist sechsunddreißig Jahre alt,
       Vollbart- und Brillenträger, überhöflich und gibt zu erkennen, dass er
       bereit ist, mit uns zu quatschen. „Lizenz?“, frage ich ihn, als er uns eine
       Schüssel mit bunt gefärbten Hummerchips reicht. Dang schüttelt den Kopf.
       Ich zweifle, ob er die Frage nicht versteht, sie nicht beantworten möchte
       oder ob seine Antwort auf meine Frage „Nein“ lautet.
       
       Als er ein fragendes Handzeichen andeutet, glaube ich es zu wissen. Dang
       zückt sein Smartphone, berührt flink die Tasten und reicht mir das Telefon.
       Ich tippe meine Frage darauf ein, und auf Knopfdruck übersetzt eine
       chinesische Frauenstimme. Dang nickt verständnisvoll, schüttelt aber sofort
       seinen Kopf und deutet mit der Hand ein klares Nein.
       
       ## Chinesische Simultanübersetzerin
       
       So geben wir uns eine Zeit lang diesem Kommunikationsspiel hin und ich
       finde, dank der chinesischen Simultanübersetzerin aus seinem Smartphone,
       heraus: keine Lizenz, keine Steuern, kein bürokratischer Wahnsinn. Wenn die
       Polizei vorbeikommt und Stress macht, serviert Dang ein kostenloses
       Mittagessen und manchmal auch eine kleine Spende in Form eines Kuverts
       dazu. Dann drücken die Beamten ein Auge zu und verschwinden wieder. „Sie
       kommen oft zum Essen“, sagt die Smartphone-Stimme.
       
       Ich blicke aus dem Fenster. Die Scheibe ist zersprungen. Ein fingerbreiter
       Spalt darin sorgt für kalten Durchzug, aber wir sind dankbar für jede
       Frischluftzufuhr, denn die verqualmte Luft wabert in dem Lokal. Unten
       pinkelt ein Junge gerade auf das Kopfsteinpflaster. Niemanden interessiert
       es. Langsam füllt sich der Raum, und Dang ist sichtlich zufrieden. Am
       Nachbartisch schlürfen drei chinesische Gäste ihre Suppen aus den
       randvollen Tellern. Dazwischen husten, niesen und rülpsen sie abwechselnd.
       
       An der mit Küchenfett überzogenen Wand hängt eine Weltkarte in chinesischer
       Sprache. Als Dang auf eine Stadt in China zeigt, bleibt sein Finger daran
       kleben. „Bil, bil“, sagt er hektisch. Ich kann weder den Namen der Stadt
       entziffern, noch begreife ich, was er mir sagen möchte. Dang löst seinen
       Finger von der Karte und deutet auf meine Flasche Bier, auf der „Tsingtao“
       geschrieben steht, bevor er wieder auf sich selbst zeigt. Schließlich
       klickt es auch bei mir, ohne die Hilfe des Smartphones: Chinas zweitgrößte
       Brauerei ist in Tsingtao zu Hause, der veraltete Name für Quingdao. Und von
       dort kommt Dang. Noch nie gehört von der Stadt, obwohl dort so viele
       Menschen leben wie in ganz Portugal.
       
       Seit acht Jahren lebt Dang nun in Lissabon – und kann noch immer keinen
       einzigen portugiesischen Satz bilden, der über ein Wort hinausgeht. Warum
       nicht? Weil er als clandestino, als illegaler Immigrant, unauffällig und
       zurückgezogen lebt oder weil er sich nur mit Chinesen umgibt? Die
       chinesische Stimme übersetzt meine Frage, aber diesmal antwortet Dang
       nicht, sondern lächelt gütig, sodass ich mich für meine Frage schäme. Es
       ist kein frohes Lachen, sondern ein Bühnenlachen, das wie antrainiert
       wirkt. Ich erspare ihm weitere Fragen.
       
       Kurz darauf serviert Dang gedämpfte Knödel, frittierten Tintenfisch und
       Garnelen-Chopsuey. Zu unserer Überraschung ist es nicht erforderlich, den
       Genuss der Gerichte vorzutäuschen, denn sie schmecken ausgezeichnet.
       Zufrieden füllen wir uns den Wanst an, trinken das ein oder andere
       Tsingtao, bezahlen und verlassen den illegalen Chinesen wieder. Dang
       strahlt über das ganze Gesicht, schüttelt unermüdlich meine Hand und sagt
       ein letztes Mal „Sänkhu, sänkhu“.
       
       24 Nov 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Zinggl
       
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